Europa in der Wohlstandsfalle

Bild: NeONBRAND/Unsplash

Deutschland und EU verweisen beim Thema Protektionismus gerne auf andere. Zugleich stehen inländische Betriebe unter Bestandsschutz

In Deutschland klagen Unternehmen und Wirtschaftsverbände über den weltweit zunehmenden Protektionismus. Auch Ökonomen sind besorgt. "Wir sehen in der EU unter deutsch-französischer Führung einen Paradigmenwechsel. Wir sehen einen zunehmenden Protektionismus, der den Wettbewerb schwächt", warnt Lars Feld, der Vorsitzende des Sachverständigenrats.1 Die Dynamik protektionistischer Trends wird dennoch krass unterschätzt, da die Bewertung vor allem auf Basis des Zollniveaus und Handelsquotierungen erfolgt.

So hat der vom ehemaligen US-Präsidenten Trump angezettelte Handelsstreit mit China und der EU zwar zu einer deutlichen Erhöhung des Zollniveaus zwischen den USA und China geführt, aber die globale Tendenz in Richtung niedriger Zölle war bis zuletzt intakt. In den letzten Jahrzehnten gelang es, das globale handelsgewichtete Zollniveau, auf nur noch etwa fünf Prozent zu drücken. Auch nach der Finanzkrise 2008 wurde dieses Niveau in etwa gehalten.

Viel zu lange schon hielten die G-20- Länder die "diplomatische Fiktion aufrecht", Protektionismus sei gebändigt, schreibt die auf das Monitoring des Welthandels spezialisierte Organisation Global Trade Alert (GTA). Die Regierungen, so die Autoren einer GTA-Studie, "haben ihre Aktivitäten nur auf andere Politikfelder verschoben"2. Importzölle waren 2016 nur noch für weniger als zehn Prozent der Handelsverzerrungen verantwortlich, denn "staatliche Finanzhilfen, nicht Importbeschränkungen", so GTA sind das Haupt-Tätigkeitsfeld zur Protektion der heimischen Wirtschaft.

In den entwickelten Volkswirtschaften breiten sich schon seit den 1970er Jahren neue Formen des Protektionismus kontinuierlich aus. Seitdem reagiert man in Europa, den USA und Japan mit intensiverer staatlicher Intervention, um die seither aufkommenden wirtschaftlichen Krisen einzudämmen. So gelingt es bis heute, protektionistische Maßnahmen zum Schutz der inländischen Wirtschaft zu bemänteln. Auf die nach der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren in die Kritik geratenen Handelsbarrieren, wie vor allem Zölle, müssen die Staaten nicht zurückgreifen.

Der zunehmende Protektionismus hat sich in einer veränderten Form sogenannter "nicht-tarifärer Handelshemmnisse" durchgesetzt. Er beruht vor allem auf Maßnahmen, die direkt die inländische Wirtschaft betreffen also "hinter der Grenze" wirken. Dazu gehören technische und Produkt-Standards, Klima-, Umweltschutz- sowie Gesundheits- und Sicherheitsregulierungen, der Schutz vor ausländischen Übernahmen, Steuern oder Abgaben für ausländische Unternehmen und vor allem Subventionen (also Finanzhilfen und Steuererleichterungen) für inländische Unternehmen.

Globalismus und Nationalismus

Diese moderne Form des Protektionismus wird in Europa nicht in der Sprache des merkantilistischen Nationalismus gehüllt, der sich Trump bedient hatte. Die Europäer erreichen das gleiche Resultat, indem sie ihren Protektionismus globalistisch begründen, also auf übergeordnete Prinzipien und Normen setzten, die von supranationalen Institutionen etwa im Rahmen von Handelsregulierung durchgesetzt werden.

Als Vehikel hierfür dient den Europäern die EU. So sieht der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben, eine große Rolle der EU darin, "faire und gleiche Bedingungen, also ein internationales Level Playing Field" zu schaffen. Unter diesem Label jedoch forciert die EU ihre protektionistische Ausrichtung. Das geschieht indem mit immer neuen Regulierungen und Standards "faire und gleiche Bedingungen" im Binnenmarkt etabliert werden, die jedoch ausländischen Wettbewerbern den Marktzugang erschweren.

Es wäre verfehlt, die Verantwortung für den zunehmenden Protektionismus allein bei der US-Regierung oder bei der kommunistischen Führung in China zu suchen, sagt der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr. Auch die EU betreibe "zunehmend eine Wirtschaftspolitik, die zulasten von Drittstaaten" gehe.

So lässt der französische Industrie- und Binnenmarktkommissar der EU, Thierry Breton, kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass nicht der Wettbewerb geschützt werden müsse, sondern europäische Unternehmen vor diesem. So gehe es nicht um niedrige Preise für die Verbraucher, sondern um den Schutz der Unternehmen, was er als Forderungen nach mehr "Beschäftigung, Fortschritt und Souveränität" verklausuliert.3

Über Twitter erklärte er, die von der EU aufgenommenen Schulden für das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm sollten durch zusätzliche Steuern an den Außengrenzen des Binnenmarktes finanziert werden.4

Die EU plant tatsächlich die Einführung einer Digitalsteuer, die vor allem amerikanische Tech-Giganten wie Apple oder Google treffen soll. Eine neue CO2-Abgabe soll nun auf Importe von Ländern mit weniger scharfen Klimaschutzzielen erhoben werden.

Lippenbekenntnisse

Die Bundesregierung gebe regelmäßig Lippenbekenntnisse für Multilateralismus und Freihandel ab, doch man nutze "Corona als Vorwand für neue Exportkontrollen, verschärft die Außenwirtschaftsordnung und fährt die Subventionen für krisengeplagte Unternehmen in die Höhe", kritisiert Felbermayr.

Genau in diese Richtung wirkt die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schon 2019 vorgestellte "Nationale Industriestrategie". Sie wird zwar als "umfassendes Konzept zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie" propagiert, tatsächlich macht sie die Lockerung der EU-Subventionsregeln zum Programm, stellt Großunternehmen unter staatliche Protektion und fordert marktbeherrschende "nationale Champions", um den Wettbewerb auszuschalten.

Verschleiert wird dies mit einer globalistischen Sprache, wenn etwa Großfusionen "europäischer Champions" mit Blick auf den Weltmarkt als Mittel eines fairen globalen Wettbewerbs und noch dazu als rein defensive Notwendigkeit propagiert werden. Allein in Deutschland fließen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro wirtschaftliche Subventionen, das sind etwa 2.500 Euro pro Kopf der Bevölkerung.

Die EU ihrerseits nutzt das wirtschaftliche Gewicht des Binnenmarkts inzwischen sogar, um anderen Staaten und Regionen sogar die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese in ihren heimischen Ländern produzieren müssen. Typisch hierfür ist das von der Bundesregierung nun auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz, dessen Verschärfung die EU-Kommission schon für dieses Jahr anstrebt.

Hiesige Unternehmen sollen für die Unterschreitung europäischer Umwelt- und Sozialstandards innerhalb ihrer ausländischen Lieferketten haften. Die neuen gesetzlichen Regularien bewirken zusätzlichen Verwaltungsaufwand beim Betrieb dieser Lieferketten und erzwingen die Angleichung an strikte EU-Vorgaben.

Das läuft jedoch darauf hinaus, wettbewerbliche Vorteile weniger entwickelter Länder zu eliminieren. Bereits in der EU produzierende Unternehmen werden so begünstigt und stärker internationalisierte Unternehmen zur Regionalisierung ihrer Wertschöpfungsketten gedrängt.

Wohlstanderosion

Der seit vielen Jahrzehnten schleichende und seit der Finanzkrise 2008 massiv voranschreitende Trend des Protektionismus wurzelt in der wirtschaftlichen Misere, die die entwickelten Volkswirtschaften erfasst hat. Auf das Ende des Nachkriegsbooms mit neu aufkommenden wirtschaftlichen Krisen und entstehender Massenarbeitslosigkeit ab den 1970er Jahren haben die Staaten mit wirtschaftspolitischen und seit den 1980er Jahren zusätzlich mit geldpolitischen Maßnahmen reagiert.

Deren Ziel war es stets, die Wirtschaft zu stabilisieren und Krisen abzuschwächen oder ganz zu unterdrücken. Diese Stabilisierung der inländischen Wirtschaft hat Maßnahmen erforderlich gemacht, die etablierte Unternehmen schützen und infolgedessen zwangsläufig protektionistisch wirken.

Das große Dilemma dieser wirtschaftspolitischen Orientierung liegt darin, dass sie nicht zu einer neuen wirtschaftlichen Blüte beigetragen hat. Die Wiederbelebung von Investitionen in neue Technologien und die damit verbundenen Arbeitsproduktivitätsverbesserungen sind ausgeblieben. Die Stabilisierungspolitik hat im Gegenteil dazu beigetragen, dass sich eine immer größere Masse von Unternehmen auf Dauer wirtschaftlich durchwursten kann, obwohl sie trotz staatlicher Protektion kaum noch profitabel sind.

Oft fehlt ihnen wegen langandauernder Profitabilitätsschwäche die Finanzkraft, um die Einführung technologischer Innovationen stemmen zu können. Die Unternehmen sind jedoch auch kaum zu den, für sie wirtschaftlich schmerzhaften, Restrukturierungen gezwungen. Restrukturierungen können sogar den eigenen Untergang bedeuten, sofern es sich als nicht erfolgversprechend herausstellt, die Betriebe durch frisches Kapital und Investitionen in produktivitätssteigernde Technologien wieder rentabel zu machen.

Der staatliche Protektionismus hat in Europa ein solches Ausmaß erreicht, dass es wettbewerbsschwachen Unternehmen vielversprechender erscheint, ihr langfristiges Überleben auf staatliche Protektion auszurichten und auf diesem Weg sogar profitabel zu bleiben. Es ist kaum erforderlich, den extrem riskanten Weg der Restrukturierung zu gehen.

Durch Regulierungen, Finanzhilfen, Subventionen, globalen Steuerwettbewerb, Konjunkturprogramme, Rettungsprogramme, die Niedrigzinspolitik und vieles mehr, haben die Staaten Bedingungen geschaffen, in denen auch die wirtschaftlich schwächsten und unproduktivsten Unternehmen auf Dauer profitabel bleiben.

Für die Unternehmen ist der zunehmende Protektionismus gleichermaßen ein Hindernis, weil der Marktzugang in anderen Märkten erschwert wird, anderseits existenzsichernd. Für die erwerbstätige Bevölkerung geht vom Protektionismus der entwickelten Volkswirtschaften jedoch eine massive Wohlstandsbedrohung aus, da die große Masse der Unternehmen keine Arbeitsproduktivitätssteigerungen mehr erreicht.

Noch bis in die 1970er Jahre erreichten die westeuropäischen Volkswirtschaften Arbeitsproduktivitätssteigerungen von jährlich bis zu zehn Prozent. Seitdem sind sie kontinuierlich zurückgegangen und nach der Finanzkrise 2008 wurde praktisch kein Produktivitätsfortschritt mehr erzielt. Da Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung abhängen, hat sich der Wohlstand in ganz Europa nach dem zweiten Weltkrieg innerhalb von drei Jahrzehnten fast verdreifacht.

Seit Ende der 1999er Jahre steigen die Reallöhne in den entwickelten Volkswirtschaften und auch in Deutschland nur noch um durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr.515 In Japan sind die Reallöhne in diesem Zeitraum sogar um zehn Prozent gesunken.

Es ist dringend nötig, die "diplomatische Fiktion" zu zerstören, der zufolge die entwickelten Staaten, allen voran Europa, den Protektionismus überwunden hätten. Viel zu lange schon bewirkt die dominierende wirtschaftspolitische Orientierung, die die Unternehmen und deren Eigentümer vor Verlusten schützt, eine Abwärtsspirale. Eine immer unproduktivere Wirtschaft ist auf weiter steigende staatliche Unterstützung angewiesen.

Wir brauchen eine neue wirtschaftspolitische Orientierung, die die Wohlstandserosion beendet, indem die Entwicklung der Arbeitsproduktivität wirtschaftspolitische Priorität erhält. Ansonsten droht Europa in der selbstgestellten Protektionismus-Falle zu versinken.

Von Alexander Horn ist das Buch Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan erschienen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.