Europa in der Wohlstandsfalle
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Deutschland und EU verweisen beim Thema Protektionismus gerne auf andere. Zugleich stehen inlÀndische Betriebe unter Bestandsschutz
In Deutschland klagen Unternehmen und WirtschaftsverbĂ€nde ĂŒber den weltweit zunehmenden Protektionismus [1]. Auch Ăkonomen sind besorgt. "Wir sehen in der EU unter deutsch-französischer FĂŒhrung einen Paradigmenwechsel. Wir sehen einen zunehmenden Protektionismus, der den Wettbewerb schwĂ€cht", warnt Lars Feld, der Vorsitzende des SachverstĂ€ndigenrats.1 [2] Die Dynamik protektionistischer Trends wird dennoch krass unterschĂ€tzt, da die Bewertung vor allem auf Basis des Zollniveaus und Handelsquotierungen erfolgt.
So hat der vom ehemaligen US-PrĂ€sidenten Trump angezettelte Handelsstreit mit China und der EU zwar zu einer deutlichen Erhöhung des Zollniveaus zwischen den USA und China [3] gefĂŒhrt, aber die globale Tendenz in Richtung niedriger Zölle war bis zuletzt intakt. In den letzten Jahrzehnten gelang es, das globale handelsgewichtete Zollniveau, auf nur noch etwa fĂŒnf Prozent zu drĂŒcken. Auch nach der Finanzkrise 2008 wurde dieses Niveau in etwa gehalten [4].
Viel zu lange schon hielten die G-20- LĂ€nder die "diplomatische Fiktion aufrecht", Protektionismus sei gebĂ€ndigt, schreibt die auf das Monitoring des Welthandels spezialisierte Organisation Global Trade Alert (GTA). Die Regierungen, so die Autoren einer GTA-Studie, "haben ihre AktivitĂ€ten nur auf andere Politikfelder verschoben"2 [5]. Importzölle waren 2016 nur noch fĂŒr weniger als zehn Prozent der Handelsverzerrungen verantwortlich, denn "staatliche Finanzhilfen, nicht ImportbeschrĂ€nkungen", so GTA sind das Haupt-TĂ€tigkeitsfeld zur Protektion der heimischen Wirtschaft [6].
In den entwickelten Volkswirtschaften breiten sich schon seit den 1970er Jahren neue Formen des Protektionismus kontinuierlich aus. Seitdem reagiert man in Europa, den USA und Japan mit intensiverer staatlicher Intervention, um die seither aufkommenden wirtschaftlichen Krisen einzudĂ€mmen. So gelingt es bis heute, protektionistische MaĂnahmen zum Schutz der inlĂ€ndischen Wirtschaft zu bemĂ€nteln. Auf die nach der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren in die Kritik geratenen Handelsbarrieren, wie vor allem Zölle, mĂŒssen die Staaten nicht zurĂŒckgreifen.
Der zunehmende Protektionismus hat sich in einer verĂ€nderten Form sogenannter "nicht-tarifĂ€rer Handelshemmnisse" durchgesetzt. Er beruht vor allem auf MaĂnahmen, die direkt die inlĂ€ndische Wirtschaft betreffen also "hinter der Grenze" wirken. Dazu gehören technische und Produkt-Standards, Klima-, Umweltschutz- sowie Gesundheits- und Sicherheitsregulierungen, der Schutz vor auslĂ€ndischen Ăbernahmen, Steuern oder Abgaben fĂŒr auslĂ€ndische Unternehmen und vor allem Subventionen (also Finanzhilfen und Steuererleichterungen) fĂŒr inlĂ€ndische Unternehmen.
Globalismus und Nationalismus
Diese moderne Form des Protektionismus wird in Europa nicht in der Sprache des merkantilistischen Nationalismus gehĂŒllt, der sich Trump bedient hatte. Die EuropĂ€er erreichen das gleiche Resultat, indem sie ihren Protektionismus globalistisch begrĂŒnden, also auf ĂŒbergeordnete Prinzipien und Normen setzten, die von supranationalen Institutionen etwa im Rahmen von Handelsregulierung durchgesetzt werden.
Als Vehikel hierfĂŒr dient den EuropĂ€ern die EU. So sieht der HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben, eine groĂe Rolle der EU darin, "faire und gleiche Bedingungen, also ein internationales Level Playing Field" zu schaffen. Unter diesem Label jedoch forciert die EU ihre protektionistische Ausrichtung. Das geschieht indem mit immer neuen Regulierungen und Standards "faire und gleiche Bedingungen" im Binnenmarkt etabliert werden, die jedoch auslĂ€ndischen Wettbewerbern den Marktzugang erschweren.
Es wĂ€re verfehlt, die Verantwortung fĂŒr den zunehmenden Protektionismus allein bei der US-Regierung oder bei der kommunistischen FĂŒhrung in China zu suchen, sagt der PrĂ€sident des Instituts fĂŒr Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr. Auch die EU betreibe "zunehmend eine Wirtschaftspolitik, die zulasten von Drittstaaten" gehe [7].
So lĂ€sst der französische Industrie- und Binnenmarktkommissar der EU, Thierry Breton, kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass nicht der Wettbewerb geschĂŒtzt werden mĂŒsse, sondern europĂ€ische Unternehmen vor diesem. So gehe es nicht um niedrige Preise fĂŒr die Verbraucher, sondern um den Schutz der Unternehmen, was er als Forderungen nach mehr "BeschĂ€ftigung, Fortschritt und SouverĂ€nitĂ€t" verklausuliert.3 [8]
Ăber Twitter erklĂ€rte er, die von der EU aufgenommenen Schulden fĂŒr das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm sollten durch zusĂ€tzliche Steuern an den AuĂengrenzen des Binnenmarktes finanziert werden.4 [9]
Die EU plant tatsĂ€chlich die EinfĂŒhrung einer Digitalsteuer, die vor allem amerikanische Tech-Giganten wie Apple oder Google treffen soll [10]. Eine neue CO2-Abgabe soll nun auf Importe von LĂ€ndern mit weniger scharfen Klimaschutzzielen [11] erhoben werden.
Lippenbekenntnisse
Die Bundesregierung gebe regelmĂ€Ăig Lippenbekenntnisse fĂŒr Multilateralismus und Freihandel ab, doch man nutze "Corona als Vorwand fĂŒr neue Exportkontrollen, verschĂ€rft die AuĂenwirtschaftsordnung und fĂ€hrt die Subventionen fĂŒr krisengeplagte Unternehmen in die Höhe", kritisiert Felbermayr [12].
Genau in diese Richtung wirkt die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schon 2019 vorgestellte "Nationale Industriestrategie". Sie wird zwar als "umfassendes Konzept zur StĂ€rkung der WettbewerbsfĂ€higkeit der Industrie" propagiert [13], tatsĂ€chlich macht sie die Lockerung der EU-Subventionsregeln zum Programm, stellt GroĂunternehmen unter staatliche Protektion und fordert marktbeherrschende "nationale Champions", um den Wettbewerb auszuschalten.
Verschleiert wird dies mit einer globalistischen Sprache, wenn etwa GroĂfusionen "europĂ€ischer Champions" mit Blick auf den Weltmarkt als Mittel eines fairen globalen Wettbewerbs und noch dazu als rein defensive Notwendigkeit propagiert werden. Allein in Deutschland flieĂen jĂ€hrlich mehr als 200 Milliarden Euro wirtschaftliche Subventionen, das sind etwa 2.500 Euro pro Kopf der Bevölkerung [14].
Die EU ihrerseits nutzt das wirtschaftliche Gewicht des Binnenmarkts inzwischen sogar, um anderen Staaten und Regionen sogar die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese in ihren heimischen LĂ€ndern produzieren mĂŒssen. Typisch hierfĂŒr ist das von der Bundesregierung nun auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz, dessen VerschĂ€rfung die EU-Kommission schon fĂŒr dieses Jahr anstrebt.
Hiesige Unternehmen sollen fĂŒr die Unterschreitung europĂ€ischer Umwelt- und Sozialstandards innerhalb ihrer auslĂ€ndischen Lieferketten haften. Die neuen gesetzlichen Regularien bewirken zusĂ€tzlichen Verwaltungsaufwand beim Betrieb dieser Lieferketten und erzwingen die Angleichung an strikte EU-Vorgaben.
Das lĂ€uft jedoch darauf hinaus, wettbewerbliche Vorteile weniger entwickelter LĂ€nder zu eliminieren. Bereits in der EU produzierende Unternehmen werden so begĂŒnstigt und stĂ€rker internationalisierte Unternehmen zur Regionalisierung ihrer Wertschöpfungsketten gedrĂ€ngt.
Wohlstanderosion
Der seit vielen Jahrzehnten schleichende und seit der Finanzkrise 2008 massiv voranschreitende Trend des Protektionismus wurzelt in der wirtschaftlichen Misere, die die entwickelten Volkswirtschaften erfasst hat. Auf das Ende des Nachkriegsbooms mit neu aufkommenden wirtschaftlichen Krisen und entstehender Massenarbeitslosigkeit ab den 1970er Jahren haben die Staaten mit wirtschaftspolitischen und seit den 1980er Jahren zusĂ€tzlich mit geldpolitischen MaĂnahmen reagiert.
Deren Ziel war es stets, die Wirtschaft zu stabilisieren und Krisen abzuschwĂ€chen oder ganz zu unterdrĂŒcken. Diese Stabilisierung der inlĂ€ndischen Wirtschaft hat MaĂnahmen erforderlich gemacht, die etablierte Unternehmen schĂŒtzen und infolgedessen zwangslĂ€ufig protektionistisch wirken.
Das groĂe Dilemma dieser wirtschaftspolitischen Orientierung liegt darin, dass sie nicht zu einer neuen wirtschaftlichen BlĂŒte beigetragen hat. Die Wiederbelebung von Investitionen in neue Technologien und die damit verbundenen ArbeitsproduktivitĂ€tsverbesserungen sind ausgeblieben. Die Stabilisierungspolitik hat im Gegenteil dazu beigetragen, dass sich eine immer gröĂere Masse von Unternehmen auf Dauer wirtschaftlich durchwursten kann, obwohl sie trotz staatlicher Protektion kaum noch profitabel sind.
Oft fehlt ihnen wegen langandauernder ProfitabilitĂ€tsschwĂ€che die Finanzkraft, um die EinfĂŒhrung technologischer Innovationen stemmen zu können. Die Unternehmen sind jedoch auch kaum zu den, fĂŒr sie wirtschaftlich schmerzhaften, Restrukturierungen gezwungen. Restrukturierungen können sogar den eigenen Untergang bedeuten, sofern es sich als nicht erfolgversprechend herausstellt, die Betriebe durch frisches Kapital und Investitionen in produktivitĂ€tssteigernde Technologien wieder rentabel zu machen.
Der staatliche Protektionismus hat in Europa ein solches AusmaĂ erreicht, dass es wettbewerbsschwachen Unternehmen vielversprechender erscheint, ihr langfristiges Ăberleben auf staatliche Protektion auszurichten und auf diesem Weg sogar profitabel zu bleiben. Es ist kaum erforderlich, den extrem riskanten Weg der Restrukturierung zu gehen.
Durch Regulierungen, Finanzhilfen, Subventionen, globalen Steuerwettbewerb, Konjunkturprogramme, Rettungsprogramme, die Niedrigzinspolitik und vieles mehr, haben die Staaten Bedingungen geschaffen, in denen auch die wirtschaftlich schwÀchsten und unproduktivsten Unternehmen auf Dauer profitabel bleiben.
FĂŒr die Unternehmen ist der zunehmende Protektionismus gleichermaĂen ein Hindernis, weil der Marktzugang in anderen MĂ€rkten erschwert wird, anderseits existenzsichernd. FĂŒr die erwerbstĂ€tige Bevölkerung geht vom Protektionismus der entwickelten Volkswirtschaften jedoch eine massive Wohlstandsbedrohung aus, da die groĂe Masse der Unternehmen keine ArbeitsproduktivitĂ€tssteigerungen mehr erreicht.
Noch bis in die 1970er Jahre erreichten die westeuropĂ€ischen Volkswirtschaften ArbeitsproduktivitĂ€tssteigerungen von jĂ€hrlich bis zu zehn Prozent. Seitdem sind sie kontinuierlich zurĂŒckgegangen und nach der Finanzkrise 2008 wurde praktisch kein ProduktivitĂ€tsfortschritt mehr erzielt. Da Reallöhne von der ProduktivitĂ€tsentwicklung abhĂ€ngen, hat sich der Wohlstand in ganz Europa nach dem zweiten Weltkrieg innerhalb von drei Jahrzehnten fast verdreifacht.
Seit Ende der 1999er Jahre steigen die Reallöhne in den entwickelten Volkswirtschaften und auch in Deutschland nur noch um durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr.5 [15]15 In Japan sind die Reallöhne in diesem Zeitraum sogar um zehn Prozent gesunken [16].
Es ist dringend nötig, die "diplomatische Fiktion" zu zerstören, der zufolge die entwickelten Staaten, allen voran Europa, den Protektionismus ĂŒberwunden hĂ€tten. Viel zu lange schon bewirkt die dominierende wirtschaftspolitische Orientierung, die die Unternehmen und deren EigentĂŒmer vor Verlusten schĂŒtzt, eine AbwĂ€rtsspirale. Eine immer unproduktivere Wirtschaft ist auf weiter steigende staatliche UnterstĂŒtzung angewiesen.
Wir brauchen eine neue wirtschaftspolitische Orientierung, die die Wohlstandserosion beendet, indem die Entwicklung der ArbeitsproduktivitÀt wirtschaftspolitische PrioritÀt erhÀlt. Ansonsten droht Europa in der selbstgestellten Protektionismus-Falle zu versinken.
Von Alexander Horn ist das Buch Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind [17] mit BeitrÀgen von Michael von Prollius und Phil Mullan erschienen.
FuĂnoten
[18] [1] "Schutz vor Wettbewerb hilft nicht" in: F.A.Z. 20.08.2020, S. 16.
[19] [2] Simon J. Evenett / Johannes Fritz: "Will Awe Trump Rules?" in: "The 21st Global Trade Alert Report", 2017, S.
[20] [3] Werner Mussler: "Kampf um die Wettbewerbspolitik" in: F.A.Z., 09.03.2020, S. 17.
[21] [4] Dorothea Siems: "In der 'Protektionismus-Falle' - auch Deutschland schadet dem Welthandel", Welt online, 04.08.2020 [22]
[23] [5] ILO, Global Wage Report 2018/19, S. 3.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.dihk.de/resource/blob/22580/7b8e5a5f09066d49605295f6afa3ac8c/going-international-2020-data.pdf
[2] #anchor_fussnote_1
[3] https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/5/beitrag/wto-die-hueterin-des-welthandels-in-der-krise.html
[4] https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/freihandel/274498/die-wto-ist-nicht-tot
[5] #anchor_fussnote_2
[6] https://www.globaltradealert.org/reports/42
[7] https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html
[8] #anchor_fussnote_3
[9] #anchor_fussnote_4
[10] https://www.insm-oekonomenblog.de/18429-digitalsteuer-eu-kommission-wirtschaftspopulismus/
[11] https://www.swp-berlin.org/publikation/die-co2-grenzabgabe-der-eu-klima-oder-fiskalpolitik/
[12] https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html
[13] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/industriestrategie-2030.html
[14] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kieler-beitraege-zur-wirtschaftspolitik/kieler-subventionsbericht-2020-subventionen-auf-dem-vormarsch-0/
[15] #anchor_fussnote_5
[16] https://www.insm-oekonomenblog.de/23910-folgt-europa-durch-corona-dem-japanischen-abstiegspfad/
[17] https://www.amazon.de/Die-Zombiewirtschaft-Unternehmen-Deutschland-Wohlstandsbremsen/dp/394461061X/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&keywords=die+zombiewirtschaft&qid=1576494596&sr=8-1
[18]
[19]
[20]
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[22] https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html
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