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Europa vor dem politischen Tsunami?

Foto: DomyD/gemeinfrei

Fortschritt oder Untergang: Heute könnte sich in Italien das Schicksal des Kontinents entscheiden

Seit der Antike ist Italien das Labor des Politischen in Europa. Ob die Römische Republik und das anschließende Kaiserreich, ob die Christianisierung und der Untergang des Römischen Imperiums, ob die republikanischen Verfassungen der italienischen Stadtstaaten, der Renaissancehumanismus und die moderne Finanzwirtschaft, ob die nationale Einigungsbewegung und das Aufkommen des europäischen Faschismus oder ob schließlich die postdemokratische Wende seit Anfang der 90er Jahre, das Aufkommen von Postfaschismus, simulativer Demokratie und Mediokratie - sehr viele der grundsätzlichen politischen Veränderungen in Europa nahmen in Italien ihren Anfang.

Auch der Ausgang des heutigen Verfassungsreferendums, der größten Reform der italienischen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg, stellt Europa vor den Scheideweg.

Wirkliche Kultur ist Disziplinierung des eigenen Ichs ... Kampf für einen neuen Humanismus, die Kritik der Gewohnheiten, der Gefühle und der auffassungen von der Welt.

Antonio Gramsci

Österreich, wen interessiert schon, was in Österreich passiert? Wenn heute Abend der rechtsradikale Norbert Hofer zum Bundespräsidenten der Republik Österreich gewählt wird, wäre das ein unschönes Zeichen und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die an einer rechtnationalistischen Wende der europäischen Politik arbeiten.

Aber es wäre weit weniger schlimm, als die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ seit dem Jahr 2000. Und schon die war nicht besonders schlimm, sondern führte zwei Jahre später nach etlichen Korruptionsskandalen zu einem Absturz der FPÖ in der Wählergunst.

Das heutige Verfassungsreferendum in Italien hat dagegen schon eher das Zeug zu einer symbolischen Richtungsentscheidung, ebenso dazu, Europa nachhaltig zu erschüttern. Nicht wegen der lachhaften Ängste mancher Börsianer, "wie die Märkte reagieren werden". Wenn dem so wäre, könnte man argumentieren: Hoffentlich!

Kriecherisches Starren auf "die Märkte"

Abgesehen davon, was für ein unwürdiges Verhalten es ist, wie kriecherisch die Politik und die Medien auf "die Märkte" starren. Wenn allerdings die italienischen Banken und mit ihnen der Euro von dieser Reaktion erschüttert werden, dann könnte es zu einer plötzlichen Verschärfung, der seit Jahren vor sich hin simmernden Bankenkrise kommen. Käme die Eurokrise in einem der größten Mitgliedsländer, einer der größten Volkswirtschaften und einem Gründungsland der EU mit aller Macht zurück – dann könnte das auch die Institutionen treffen.

Aber wie wahrscheinlich ist das wirklich? Für den Fall, dass Donald Trump zum Präsidenten gewählt würde, hatte man Ähnliches befürchtet - doch zu einem Crash an den Märkten kam es nicht. Ebenso nach der Brexit-Entscheidung.

Politische Geschmacksverirrung

Die von Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi vorgeschlagenen Verfassungsänderungen sollen den Gesetzgebungsprozess vereinfachen und das Land dadurch reformierbarer machen. Denn noch immer leidet das Land unter dem nunmehr vor fast einem Vierteljahrhundert geschehenen Zusammenbruch der klassischen Parteienlandschaft seit Herbst 1992 und dem politischen Erdbeben des März 1994, das ein Regierungsbündnis aus Berlusconis Rechtspopulisten, Separatisten und Postfaschisten an die Macht brachte.

Seitdem erlebte Italien beispielhaft einen Verfall der bürgerlichen Republik zu einer medial organisierten Massenkonsumgesellschaft, begleitet von kulturellen Entpolitisierungstendenzen und sozialem Absturz einst breiter Mittelschichten.

Gerade hierin ist das Italien Berlusconis zum Modell für Europa geworden: Die oft radikaleren Berlusconi-Kopien sind oder waren in Ungarn, in Polen, in der Slowakei, in Österreich und in der Türkei an der Regierung, sie greifen in Großbritannien, Frankreich und in Deutschland nach der Macht.

In vielen europäischen Ländern haben sich repräsentative, auf den Grundsätzen Freiheit, Gleichheit, Solidarität aufgebaute Demokratien zu neuen, massenmedial organisierten Klassengesellschaften gewandelt. Sie werden beherrscht von vulgären "Eliten", die selten noch von politischem Geschmack daran gehindert werden, ihrer niederen Gesinnung und ihren von Ressentiment dominierten Instinkten freien Lauf zu lassen.

Symbolischer Bürgerkrieg

Der politische Diskurs ist geprägt von Demagogie und Hetze. Fälschlicherweise wird diese nicht zuletzt in Deutschland von den öffentlich-rechtlichen Medien zum "Populismus" verharmlost. Ein Fehler, wie inzwischen die ARD eingesehen hat, die vor einigen Tagen konsequent den französischen Front National als "Rechtsextremisten" titulierte, während sie im Deutschlandradio und im ZDF immer noch "Rechtpopulisten" genannt werden. Aber rechtspopulistisch ist die CSU, nicht die Front National und auch nicht die AfD.

Genaugenommen erfüllen derartige Parteien alle Kriterien der wissenschaftlichen Faschismusdefinition:

Faschismus kann definiert werden als eine Form politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt.

Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus, 2006

Politische Horrorclowns

Wo stehen nun in diesem Feld die Profiteure eines Scheiterns des Verfassungsreferendums, die politischen Horrorclowns der "Cinque Stelle" ("Bewegung Fünf Sterne") des italienischen TV-Komikers Beppe Grillo? Die von Grillo veranstalteten "V-Day"-Demos ("V" steht für "Vaffanculo", also etwa "Leck-mich-am Arsch!-Tag") sprechen eine deutliche Sprache. Es geht ähnlich, aber mit noch einseitigerer Zuspitzung als bei Donald Trump um vulgär und spaßgesellschaftlich ummäntelte Verachtung der repräsentativen Demokratie und ihrer Parteigänger.

Es geht um einen symbolischen Bürgerkrieg, bei der nicht mehr die Macht im System umstritten ist, sondern das System selbst. Der Parlamentarismus als solcher wird diffamiert. Dagegen werden nicht andere Parteien und Politiker, sondern "das Volk", also Grillos Anhänger mobilisiert und Illusionen einer "direkten Demokratie" genährt.

Der französische Rechtshistoriker Jacques de Saint Victor untersucht am Beispiel der "Cinque Stelle", warum es hier um etwas ganz Anderes geht, als darum, der legitimen Wut von Entrechteten Ausdruck zu geben. In der Maske des lustigen Volkstribunen machen sich die Volksverhetzer die moralische Verwahrlosung verwöhnter Wohlstandsbürger und die Depression der Abgestiegen zunutze.

Auch dafür gibt es in der italienischen Geschichte mindestens ein Modell: Es heißt Savonarola.

Mit den Savonarolas und Mussolinis vor den Toren der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, der Parlamentswahlen in den Niederlanden und in Deutschland, steht Europa in den nächsten Jahren vor der Wahl: Fortschritt oder Untergang. Will Europa als ernstzunehmende Macht bleiben, muss es sich verändern. Aber nicht in Richtung Vergangenheit.

Literaturhinweise

Zygmunt Baumann: "Europa. Ein unvollendetes Abenteuer"; EVA, Hamburg 2015

Ingolf Blühdorn: "Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratschen Wende"; Berlin, Suhrkamp 2013

Elena Esposito: "Die Fiktion der wahrsheinlichen Realität"; Suhrkamp, Frankfurt 2007
Aram Mattioli: "'Viva Mussolini' Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis" Schöningh Vlg; Paderborn 2010

Jan-Werner Müller: "Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20.Jahrhundert"; Sihrkamp Berlin 2013

Karin Priester: "Rechter und linke Populismus. Annäherung an ein Chamäleon"; Campus Frankfurt 2012
Jacques de Saint Victor: "Die Antipolitischen"; Hamburger Edition, Hamburg 2015

Danilo Zolo: "Die demokratische Fürstenherrschaft. Für eine realistische Theorie der Politik"; Steidl, Göttingen 1997

Zibaldone, Zeitschrift für italienische Kultur und Gegenwart; No. 51/2011: "Italienische Philosophie heute"


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