Europäischer Raketenschild: Die Illusion der Unverwundbarkeit
Symbolbild: ki-generiert
Ziel der European Sky Shield Initiative ist umfassender Schutz. Trotz ambitionierter Pläne bleibt Unverwundbarkeit unerreichbar. Nachhaltige Sicherheit bietet ein anderer Weg. (Teil 1)
Nicht erst die Bilder hochsteigender Hamas-Drohnen und Raketen aus dem Gazastreifen, und die mangelnde Reaktion der Abfangraketen des israelischen Iron Dome haben in Europa das Nachdenken über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten eines Schutzes vor Angriffen mit weitreichenden Flugkörpern wie Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern neu entfacht.
Auch der vom Iran selbst wohl abgedämpfte Raketenangriff in Antwort auf die Tötung zweiter iranischer Generäle durch Israel, zu deren Abfangen auch westliche Militärkapazitäten herangezogen wurden, lässt Fragen offen.
Und im Ukraine-Krieg schließlich setzen beide Parteien immer mehr auf die Anwendung von Abstandswaffen für die Erreichung strategischer Hinterland-Ziele im Zermürbungskrieg, und die westlichen Unterstützerstaaten der Ukraine betrachten die Stärkung der Luftverteidigung der Ukraine offenbar als möglich und Erfolg versprechend.
Ist also die Initiative für einen Raketenabwehrschild über Europa (ESSI) eine rationale und zeitgemäße Antwort auf solche Entwicklungen? Die Frage ist, ob die Initiative die hochfliegenden Hoffnungen, die in sie gesetzt werden, wird halten können. Und auch, welche sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Beantwortung dieser Frage resultieren.
Europäischer Raketenschild: Was ist ESSI?
Die Initiative für einen Europäischen Raketenschild ging 2022 von Deutschland aus und sieht vor, im Rahmen dieser Initiative eine Triade von Abfangsystemen für die mittlere Reichweite (bis 35 Kilometer), für lange (bis zu 100 Kilometer), und für sehr lange Reichweite (mehr als 100 Kilometer) gemeinsam mit europäischen Partnern zu beschaffen.1
Auch für den Nah- und Nächstbereichsschutz (bis 15 km) gibt es Planungen.2
Festlegungen durch eigenmächtige Beschaffung
Mit der eigenmächtigen Beschaffung für die deutsche Luftabwehr sind bestimmte Systeme bereits festgelegt: Für die mittlere Reichweite hat Deutschland im Sommer letzten Jahres den Kauf des Systems IRIS TSL-M beauftragt.
Für die große Reichweite ist ein Upgrade des US-Systems Patriot fest geplant, für die sehr lange hat die Bundesrepublik ebenfalls bereits entschieden, das System Arrow 3 (ein israelisch-amerikanisches Produkt) anzuschaffen.
Wann das System seine volle Einsatzbereitschaft erreicht, und wie viel das Programm insgesamt kosten soll, ist weiterhin nicht geklärt.
Geschichte der Raketenabwehr in Europa
Wie Florian Sorge auf der Website der Bundeswehr zutreffend feststellt, war im Kalten Krieg "aufgrund des technologischen Rückstands von Abwehrsystemen im Vergleich zu Angriffssystemen" die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen lange nicht möglich.
Der andere Teil der Wahrheit ist aber, dass dieser technologische Rückstand sich dadurch erklärt, dass dies politisch lange Jahre gar nicht gewollt war, denn sowohl die europäischen Nato-Staaten (über die USA) als auch die Warschauer Vertragsstaaten (über die Sowjetunion) waren durch den ABM-Vertrag von 1972 gebunden, der die Installation von Raketenabwehrsystemen (bis auf jeweils ein lokales System pro Seite) ausdrücklich untersagte.
Auch dieser Umstand, dass nämlich keine Seite auch nur spekulieren konnte, man sei geschützt vor einem Vergeltungsschlag, verhinderte jedes Spielen mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen.3
SDI-Raketenabwehr: Ein technologischer Misserfolg
Das stärkte damals die strategische Stabilität unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Und auch die Einsicht in den technologischen Misserfolg des SDI-Raketenabwehr-Programms der USA trug Ende der 1980er-Jahre zum Ausstieg aus dem Wettrüsten bei.
Um das Jahr 2000 nahmen die USA diese Bemühungen jedoch wieder auf und kündigten 2002 unter Präsident George Bush Jr. den ABM-Vertrag. Damit wurde klar, dass die USA sich von der Idee der gleichen und gemeinsamen Sicherheit im Bereich der strategischen Trägerwaffen verabschieden wollten.4
Die USA unternahmen in den folgenden 20 Jahren zielstrebig Versuche, verschiedene Varianten einer interkontinentalen Raketenabwehr aufzubauen, die Europa in unterschiedlichem Maße einschließen sollten (ALT-BMD, dann EPAA), mit wechselnden Begründungen, meist aber mit Verweis auf etwa mögliche Raketenangriffe aus dem Iran. Diese Versuche wurden von russischer Seite von Anfang an mit Alarm und Misstrauen beäugt.5
Der US-Raketenabwehrplan EPAA
Um sich die Rückversicherung der europäischen Verbündeten einzuholen, und gleichzeitig aufkommendes Misstrauen unter diesen einzuhegen, entschloss sich die damalige Obama-Administration, mit Beginn im Jahr 2010 die weitere Ausplanung des aufzubauenden US-Raketenabwehrplans EPAA unter Nato-Verantwortung zu integrieren, nunmehr unter der Bezeichnung Nato BMD.
Trotz der US-Entscheidung, die vierte Phase des EPAA nicht einzuführen, beharrte die russische Militärführung auf ihrem Verdacht, die verschiedenen globalen Missile-Defence-Systeme der USA seien in Kombination darauf angelegt, die russische nukleare Zweitschlagfähigkeit zu untergraben.6
Vorschläge, europäische und russische Raketenabwehrsysteme gemeinsam zu integrieren, wurden vom Westen 2012 endgültig abgelehnt.
Und in der Tat: Schon 2016 machte die Trump-Administration deutlich, dass es die Fähigkeit der USA sein solle, Raketen "of any type and any place", die gegen die USA gestartet würden, abfangen zu können.
Möglichkeit zum Abfangen ballistischer Raketen
Mit Nato BMD soll seitdem die Möglichkeit des Abfangens von ballistischen Raketen durch mit SM-3-Abfangraketen bestückten MK-41-Batterien geschaffen werden, die auf See ("Aegis"), und im rumänischen Deveselu sowie im polnischen Redzikowo ("Aegis ashore") nun in Operation sind.
Die SM3 Block IIA wurden im November 2020 auf den möglichen Abschuss einer anfliegenden Interkontinentalrakete getestet – wohingegen bei der Beschreibung der "iranischen Bedrohung" immer noch von Mittelstreckenwaffen gesprochen wurde.7
Mittlerweile ist Nato BMD durch die Integration von offensiven Luftkriegskomponenten (u. a. der Atombomberflotten im Rahmen der nuklearen Teilhabe) zum Nato Integrated Air and Missile Defence Framework (Nato IAMD) weiterentwickelt worden – unter dem Kommando des Nato Air Command in Ramstein.
21 Staaten Europas wollen Luftsicherheit selbst organisieren
Nunmehr wollen 21 europäische Unterzeichnerstaaten selbst für ihre eigene Luftsicherheit sorgen (so zumindest die Außendarstellung) – das jedoch auch strikt unter Nato-Kommando. Kanzler Scholz begründete in seiner Rede am 22. Juni 2022 in Prag die Initiative, Europa brauche "ein besseres Zusammenspiel der Verteidigungsanstrengungen", gerade "im Hinblick auf den Krieg im Osten".
Das Projekt ESSI ist sowohl im politischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Neben industriepolitischen, aber auch politischen Widersprüchen ist der grundlegendste Streitpunkt die Frage der konkreten Fähigkeiten, die das System besitzen soll.8
Die Zielsetzung, eine "umfassende Sicherheit" vor militärischen Flugkörpern, insbesondere vor einem russischen Angriff, zu schaffen, haben Scholz' Rede implizit, und seither eine Reihe anderer Beiträge im politischen Berlin explizit, formuliert.9
Wenn Hysterie die Debatte über Sicherheitsfragen prägt
Dabei wird schon mit der Verwendung der Bezeichnungen "Schild" oder "Schirm" für ESSI eine Art Unverwundbarkeit nahegelegt, wie selbst von der SWP kritisiert wurde. Wie aber steht es um die Erreichbarkeit solch einer militärischen Zielsetzung?
Es scheint, dass in der Hysterie, die so viele politischen Beiträge zur Ukraine-Krise kennzeichnet, auch in dieser Frage mehr und mehr grundlegende Debatten und Erkenntnisse der Sicherheitspolitik und der Naturwissenschaften ignoriert werden. Um die Grenzen solcher Ambitionen deutlich werden zu lassen, lohnt es sich, den Blick auf zwei grundsätzliche Szenarien des Einsatzes für ein europäisches Luftabwehrsystem zu richten.
Fußnoten
[1] Diese Terminologie ist nicht identisch mit der wissenschaftlich üblichen Bemessung der Reichweiten militärischer Raketen, in denen die Begriffe kurz, mittlere u. längere ("strategische") Reichweite viel weiter bemessen sind.
[2] Vgl. L. Hoffmann: Luftverteidigungsprojekt Nah- und Nächstbereichsschutz, in: Europäische Sicherheit & Technik, März 2023. Am 27.2. 24 bestätigte die Bundeswehr, dass sie für diese Distanz das System Skyranger 30 von Rheinmetall beschaffen will.
[3] Vgl. Matt Korda/ Hans M. Kristensen: US ballistic missile defenses, 2019 (tandfonline.com)
[4] Eine Reihe Beobachter hielten dies für den ersten Schritt zur Erneuerung der strategischen Konfrontation zwischen den USA und Russland nach 1990, u. a. noch im Jahr 2020 sogar die Heinrich-Böll-Stiftung
[5] Vgl. z.B. Neilan, T., 2001, "Bush pulls out of ABM treaty, Putin calls move a mistake', NYT, Dec 13, 2001.
[6] vgl. z. B. die Präsentation des damaligen Vize-Verteidigungsministers Makarow beim internationalen Workshop "Missile Defence: factor in establishing a new security environment", Moskau, 2012
[7] Vgl. u. a. R. Czulda in European Security and Defence, Juli 2022.(print ed.) Russland hat überdies seit den 2010er-Jahren darauf beharrt, dass die Abschussvorrichtungen für dieses System auch zur Aufbewahrung und zum Abschuss von Tomahawk-Marschflugkörpern dienen können – das hätte eine Verletzung des INF-Vertrags bedeutet, noch bevor die USA 2016 ihrerseits die Verletzung dieses Abkommens durch die russische Rakete 9M729 (oder SSC 8) einklagten. Unter der Trump-Administration wurde der INF-Vertrag 2017 von den USA aufgekündigt.
[8] Dies kann hier nicht länger beleuchtet werden, es reicht aber bereits die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, dass Deutschland in allen drei Reichweiten Systeme favorisiert, die keine im engeren Sinne europäischen Entwicklungen sind. Es scheint, einige europäische Partner wurden hier vor vollendete Tatsachen gestellt: nun sind mit Frankreich und Polen die beiden wichtigsten Partnerländer Deutschlands in der EU nicht dabei. Im Übrigen stellt die Teilnahme Österreichs und der Schweiz diese beiden Länder vor die Tatsache, dass damit ihre Neutralität kompromittiert wird (vgl. https://abfang.org/wp-60db5-content/uploads/2024/02/PLATTFORM-Friedensstrategie_SkyShield_19-2-2024.pdf)
[9] Pistorius’ Vorgängerin als Verteidigungsminister, Christine Lambrecht, behauptete, Essi bezwecke, "Lücken" in der Luftverteidigung Europas zu "schließen", Bayerns Ministerpräsident sprach von einem "kompletten Schutzschirm über Deutschland", der deutsche Großstädte "abdecken" würde