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Europas Nachtgesang

Der russische Filmpoet Andrej Tarkowski starb vor 25 Jahren - und hinterließ die Einsichten eines Unbehausten

Glattes schwarzes Haar, das Gesicht geistesabwesend in die linke Hand gestützt, den Blick zweifelnd in eine imaginäre Ferne gerichtet: Eine russische Briefmarke von 2007 zeigt den Regisseur grüblerisch, als schwermütigen Denker. Ein Andenken in Tristesse? Andrej Arsenjewitsch Tarkowski [1], so sein voller Name, starb am 29. Dezember vor 25 Jahren in Paris an Krebs. Er wurde nur 54 Jahre alt; seine Filme gelten vielen als zeitlos grandios.

Sieben Werke [2] brachte der Meister unters Volk, obwohl er das Volk als Masse wahlloser Konsumenten nicht mochte:

Es ist unmöglich, Jahre der Arbeit und diese anderthalb Stunden, die man im Kino verbringt, zu korrelieren. Es gibt Zuschauer, die in diesen anderthalb Stunden alles begreifen wollen. Aber sofort und auf einmal ist es unmöglich! Nicht zufällig hat einer der bekanntesten Schriftsteller gesagt: "Es ist ebenso schwer, ein gutes Buch zu lesen, wie es zu schreiben."

A. Tarkowski, während eines Treffens mit seinen Fans in Estland

Mit dem "bekannten Schriftsteller" wird er den Deutschen Friedrich Schiller gemeint haben. Sein eigenes Credo faßt der Cicerone des rätselhaften Kinos in die Worte zusammen: "Der Mensch muß danach streben, die Kunst zu verstehen, und die Kunst darf nicht auf das Niveau der Massenproduktion herabsinken." Basta. In Deutschland setzte die Tarkowski-Rezeption endgültig mit "Stalker" ein (1979). Im lakonischen Fazit von Cinema liest [3] sich das so: "Düstere Darstellung menschlicher Grenzen."

Stalker

Der Kult der Bilder ist das Geheimnis, das seine Sympathisanten zusammenschweißt; Tarkowski wird als "einsamer Solitär", der er ist und bleibt, wohl nie einer werden, der die Multiplex-Gemeinde unserer Tage begeistert. Sein filmisches Vermächtnis [4] ist bestenfalls in den Programmkinos einiger Städte aufgehoben. Nach einer suggerierten Prophezeiung Boris Pasternaks hätten es 7,5 Filme sein sollen.

Der junge Tarkowski war eigenen Erinnerungen zufolge dem Geist des berühmten Literaten begegnet und hatte ihn nach den Aussichten befragt. "Warum nur so wenige?", wollte der angehende Filmemacher [5] wissen. Pasternaks Auskunft fiel eindeutig aus: Wenige Filme - dafür gute.

Fern und fremd wie der Mars

Pasternak hin, Pasternak her - ziemlich genau so kam es. Der Adept erkletterte mit ehernem Willen den Olymp des internationalen Kinos, man zählt heute, wie gesagt, sieben Regiearbeiten zum Hauptbestand seiner Hinterlassenschaft. Dafür erhielt Tarkowski mannigfache Auszeichnungen, darunter gar den streitigen Titel [6] "Volkskünstler Russlands" (1980), aber er war zeitlebens ein Fremder nicht nur in seiner eigenen, der russischen Heimat. Ein Außenseiter auch der gesamteuropäischen Kultur und Lebensform, der er doch durch mannigfache Zitate verbunden blieb, deren ikonografische Moden und Traditionen, ausgehend von der Renaissance, seine Filme durchziehen wie objektive und zugleich rätselhafte Lebenslinien. Denn Europa ist wohl geistiges Domizil, aber es ist doch zugleich auch schauerlich fremd und fern wie der Mars; so klingt es zumindest aus dem Mund Alexanders in einer Szene aus "Opfer" (1986), wenn der alternde Protagonist ein Geburtstagsgeschenk betrachtet: eine historische Karte Europas.

Wie herrlich muss das gewesen sein, als man glaubte, die Welt wäre so, wie sie hier abgebildet ist. Dieses Europa hier ist wie der Planet Mars, das heißt, es hat nichts mit der Wahrheit zu tun.

Alexander, gespielt von Erland Josephson, in: "Opfer"

Er, ein Spiegelbild des Filmemachers selber, inspiziert sie kniend, kauernd, bestaunt sie wie ein phantastisches Stück Gegenwelt, wie einen absurden Kosmos: die europäische Landkarte, "ein Original"! Und dann: In einer quälend langsamen Kamerafahrt - nochmal: es geht um Europa - zieht es den Blick fort von der Abgeschiedenheit der Schäreninsel, auf der Alexander seinen Lebensabend verbringt, hin zu einer Großstadtbrache; die traumhafte Bewegung folgt den versprengten Überresten einer gänzlich ruinierten Zivilisation.

Opfer

Bilder wie nach einem Atomkrieg. Triste Wasserlachen, Verpackungsmüll, ein zerbrochener Stuhl. Zelebrierte Langsamkeit. Ein Autowrack liegt auf der Seite da wie ein geschlachtetes Tier, tote, maschinenmäßige Innereien lugen hervor wie Eingeweide. Tarkowski spielt mit der Hoffnungslosigkeit einer zerbrochenen Welt, die durch nichts mehr heilbar ist. Der nichts mehr heilig ist.

Ist es Melancholie?

Wohl auch. In der Einordnung seiner Kunst in den langen Strom zivilisatorischer (Un-)Zeit, ausgehend von Renaissance und Barock, in den Bezügen und Zitaten der Emblemkunst des 17. und 18. Jahrhunderts etwa erkennt der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme [7] Tarkowskis "melancholischen Allegorismus". Böhme konstatiert und beschreibt Tarkowskis einzigartige schwermütige Virtuosität, sein außergewöhnliches Talent, "Zivilisationsprozesse und -objekte in Bildern des Verfalls zu arrangieren". Wer kann das wie Tarkowski?

Fremdartig, phantastisch, irreal, das ist sein Planet. Man muss nicht zum Mars fliegen, um diesem vertrackten Eiland zu begegnen. Es heißt Russland (wie in "Andrej Rubljow", 1966 - 69), Europa (wie in "Opfer", 1986), Solaris wie im gleichnamigen Film (1972) oder schlicht die Zone (wie in "Stalker", 1979). Immer ist es eines: ein unbehaglicher Kosmos, bestehend aus Gewalt und Kümmernis. "Wir gebrauchen das Mikroskop wie einen Knüppel", räsoniert Alexander nüchtern. "Jedweden wissenschaftlichen Fortschritt verwandeln wir unmittelbar in etwas Böses."

Solaris

Der Zivilisationsprozess im Zustand fortlaufender Demoralisation. Bei Tarkowski ist die moderne Kultur denn auch eine "Zivilisation der Prothesen", eine Ordnung, die den Menschen - er nennt ihn wohl auch den "Durchschnittsmenschen" - systematisch von der Reflexion abschneidet. Der Mensch in dieser Kultur, die in ihrem innersten Versteck eine Unkultur ist, erleidet den Verlust des "Schönen und Ewigen". Damit bezweifelt Tarkowski1 [8] das Projekt der Moderne überhaupt.

Am Grat der Zeit

Ungeduldig soll der Meister gewesen sein, sogar seine Lieblingsschauspieler (wie Anatoli Solonizyn) bekamen das zu spüren. Und diese Ungeduld ging mitunter sehr weit, so im Falle von "Stalker": "Unzufrieden mit seiner ersten Fassung, ließ Tarkowski den kompletten Film vernichten und drehte alles noch einmal - eine Radikalität, die sich auch in der Sowjetunion nur wenige Filmschaffende leisten konnten." Die Strenge der künstlerischen Konstellation gehört zu einer Poetologie, die angetreten ist, allen Fortschritts-und Wahrheitsmythen die Stirn zu bieten.

Das ergibt kein sozialistisches Pomp-Kino. Langsame, bedächtige Einstellungen, die den Kehrseiten der verordneten Sicht geschuldet sind. Die auch den Zivilisationsmüll auflisten, ihn optisch aufsaugen: Erfassung und Konstatierung des Niedergangs. Die Geschichte, ein Trümmerfeld. In der Verlangsamung erfährt der Zuschauer die Zeit - ja, als was? Zeit zu gestalten "in Form eines Faktums", das nennt Tarkowski rückblickend die Aufgabe des Künstlers2 [9].

Diese Form der Bildsprache passt nun auch mit dem amerikanischen Kino der schnellen Schnitte keinesfalls zusammen. Tarkowskis visuelle Arrangements geraten in Ost und West in Opposition zum Mainstream, der gewöhnlich unsere Seh- und Denkgewohnheiten definiert. Hartnäckig setzt Tarkowski sein Ideal auch gegenüber der russischen Kulturbürokratie durch; seinen "Andrej Rubljow" kürzte er aus formalen Gründen zweimal (von ursprünglich 220 auf letztendlich 185 Minuten), aber inhaltlich bleibt der Meister kompromisslos. Neun Jahre nach Beginn der Dreharbeiten wird der Film 1973 für den Export freigegeben [10].

Andrej Rubljow

Das, was Tarkowski "Die Sehnsucht nach dem Idealen" nennt, kommt an Schlüsselstellen seines Werks in Gedichten seines Vaters Arsenij zum Ausdruck. Der Stalker, im Film dargestellt von A. Kajdanowski, rezitiert eines davon und thematisiert so das Ungenügen des Individuums angesichts einer deformierten Welt3 [11]:

Der Sommer ist vorbei, / es ist nichts übriggeblieben, /
Es ist schön an der Sonne, / Doch das genügt nicht. /
Alles, was es geben kann, / Wie ein Blatt mit fünf Zacken, /
Hat es sich auf meine Hand gelegt, / Doch das genügt nicht, /
Weder das Gute noch das Böse / Sind umsonst geschehen. /
Alles war hell und strahlend, / Doch das genügt nicht, /
Das Leben nahm mich unter seine Fittiche /
Ich schützte mich -rettete mich, / Ich hatte wirklich Glück, /
Doch das genügt nicht
Die Blätter sind nicht verbrannt, / Die Äste nicht zerbrochen, /
Der Tag ist klar wie Kristall, / Doch das genügt nicht.
4 [12]

Narren und Weise

Der "Stalker" ist nicht nur unter dieser Hinsicht eine radikale Absage an das kommerzielle Kino und seine vorgetäuschte Normalität. Gern nimmt Tarkowski die kulturelle Identität des Abendlands in Anspruch. Eine Begegnung mit Leonardo da Vinci beispielsweise gibt es mehrfach in dieser Filmwelt, so auch in dem autobiographisch geprägten Streifen "Der Spiegel", und zwar in einer bedächtigen Szene bei der Begutachtung eines alten Kunstbuches. Eindeutiger thematisiert wird der Fall da Vinci jedoch in Opfer [13].

Der Spiegel

Während Julia Hamari im Vorspann von "Opfer" emphatisch das "Erbarme Dich" aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion [14] singt, geht die Szene über in den Schrei der Möwen und das Spülen des Meeres, gleitet die Kamera tastend über da Vincis "Anbetung". Im Film bietet der ehemalige Schauspieler und Intellektuelle Alexander sich Gott als Opfer an, um den atomaren Holocaust abzuwenden. Die Uraufführung lief in Cannes am 9. Mai 1986, knapp zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und kaum acht Monate vor dem Tod des Regisseurs.

Vorspann [15] "Das Opfer"

"Ich hatte schon immer sehr große Angst vor Leonardo", sagt Otto, der Briefträger (das Pendant zu Alexander) beim Anblick der "Anbetung". Otto (gespielt von Allan Edwall) erscheint als das alter Ego [16] des Protagonisten; eine kuriose, seltene Figur mit einem Hang zum Übersinnlichen. Nicht unähnlich den Narren und Weisen des Alten Russland, die in Tarkowskis Filmen, stets unter anderer Gestalt, eine tragende Rolle spielen.

Als Otto während einer Unterhaltung über metaphysische Gegenstände und Vorkommnisse mitten im Zimmer jäh hinschlägt und einige Momente wie betäubt da liegt, sind alle zuerst bestürzt; schließlich, nach seinem Befinden gefragt, gibt er lakonisch an, von einem bösen Engel berührt worden zu sein. Das "Phantom unseres eigenen Ichs" folgt uns Schritt und Tritt auf dem Fuße, so zeigt es der deutsche Romantiker Hoffmann in seinen "Nachtstücken"; wie noch auszuführen sein wird, ist der originelle Phantast für Tarkowski kein Unbekannter.

Ottos Angst vor Leonardo da Vinci [17] (1452-1519) - dessen Adoration of the Magi als Kopie den Wohnsitz Alexanders schmückt - liegt in den Wurzeln einer Kultur begründet, die da Vinci als Urheber und Protektor der Moderne feiert, als genialen Schöpfer und Konstrukteur [18] am Beginn der Neuzeit. Jedoch, schon hier beginnt der Zerfall. Das Wissen darum gehört nur Wenigen. Meist sind es Leute wie Otto; Einzelgänger, die dem Normalbürger verrückt vorkommen, die auf ihre eigene Art dem Glück und den Idealen der Menge entsagen.

Opfer

Der Mensch ist nicht für das Glück geschaffen, es gibt wichtigere Dinge als das Glück. Die Suche nach der Wahrheit ist ein qualvoller Weg.

A. Tarkowski

Otto verkörpert jemanden, der diese Qualen auf sich nimmt. Schon in den ersten neun Minuten des Films (kein einziger Schnitt!), die - wie alle Außenaufnahmen von Opfer - 1985 auf der Insel Gotland [19] entstanden, lernt man den kauzigen Briefträger als einen kennen, der alle Zeit der Welt auf seiner Seite zu haben scheint. Jan Brachmann schrieb [20] über die Eröffnungssequenz: "Hier wird einlässliches Sehen verlangt, Sammlung, das Gegenteil von Eile, Geschäftigkeit, Ereignishunger. Der Regisseur nannte dies: 'Rückkehr zu einem normalen, geisterfüllten Leben'." - "Einfachsein in aller Demut" nennt das der Grieche Theophanes im Zwiegespräch mit dem Wandermönch Andrej Rubljow. Es geht um das Wesen der schöpferischen Arbeit und den Glauben.

Die Natur:"Schauer der Landschaft"

Der Weg ins Verderben spiegelt sich in der Naturerfahrung. Im "Schauer der Landschaft5 [21] macht sich die deutsche Romantik bemerkbar. Schon das Rauschen im Gebüsch kündet den Untergang. Wenn so die Natur tönt, dann ist ihre Botschaft "nicht Vitalität und Autonomie [...], sondern angsterregendes Ausgeliefertsein des unbeschützten Individuums"6 [22]. Rieselndes, murmelndes Wasser (Beginn von Solaris), Äste und Wurzelwerk, ein gänzlich stummer Wald (wie in Iwans Kindheit) oder auch nur die Rinde eines einzelnen Baumes bilden die Bausteine einer naturalen Grammatik. Diese gibt "der vom gesellschaftlichen Prozess deformierten Seele" die einzige, die vielleicht letzte Gelegenheit zur Artikulation. In der Landschaft wird sie "ihrer selbst ansichtig"7 [23].

Iwans Kindheit

Solcherlei Bilderrätsel sind in der Kinematographie Tarkowskis zu Standards geworden; sie schaffen Haltepunkte im Fließen der Zeit und betten das individuellen Erleben ein in die Indifferenz weitgespannter Zeiträume. Die historische, zivilisatorische Zeit mit ihren gewaltsamen Brüchen und Verwerfungen hebt sich so ab vom Hintergrund ewiger Naturphänomene; diese bilden eine Art überindividueller Rahmung. Als solche liefern sie einen Maßstab, an welchem sich das persönliche, subjektive Leben in seiner existentiellen Dürftigkeit bemißt. Pferde, Bäume, Wasser, Äpfel (Iwans Kindheit) werden dabei durchweg zu höchst doppeldeutigen Chiffren, die einerseits melancholisch auf das mißlungene Leben verweisen, in denen andererseits das geglückte Leben als ferner Widerhall wie auch als utopischer Entwurf präsent ist. Sie bilden so Mosaiksteine einer Sehnsucht, die von Angst befreit sein möchte.

Nostalghia

Hartmut Böhme formuliert [24] das so:

Bis hin zu "Nostalghia" werden einzelne Sinnprovinzen - wie die Religion, die Wissenschaft, die Kunst, die Heimat und die Fremde, die eigene Lebensgeschichte, die Familie, die Natur- in dem immer depressiveren Bemühen erkundet, der verwüsteten Geschichte die Möglichkeit "geglückten Lebens" abzugewinnen.

So gibt es auch Befreiung letztlich nur noch in der Sprache der Natur. Befreiung als Ideal, und zusammen damit der Wunsch nach Ruhe. Es soll alles wieder so sein wie gestern, ja wie heute morgen: Das ist das flehentliche Gebet Alexanders (wiederum auf Knien) nach dem Einbruch des Schreckens, als klar wird, dass die atomare Katastrophe Realität geworden ist (Opfer).

Opfer

Die Befindlichkeit des Protagonisten ist hier wie auch an andern Stellen im Werk Tarkowskis weniger in Handlungen als vielmehr in Monolog und im poetischen Ausdruck der Bilder zu entziffern. Sehnsucht ist dabei ein beherrschendes Motiv, das Sonderlinge wie den namenlosen Schriftsteller (gespielt von Anatoli Solonizyn) und den Wissenschaftler (Nikolai Grinko) veranlasst, unter Lebensgefahr Zugang zu Stalkers Zone zu suchen.

Sehnsucht, fromme Ahnung

Sehnsucht ist auch hinlänglich bekannt als treibendes Motiv der Romantik. Die Anleihen Tarkowskis in dieser Hinsicht sind vielfältig. Tarkowski arbeitete in den siebziger Jahren an einem Skript für das estnische Studio Tallinnfilm, eine Vorarbeit, die er 1974 weitgehend abschloss. Die Idee fußt auf Leben und Werk von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann [25] (1776 - 1822) und führte zu dem Drehbuch Hoffmanniana [26] (1976). Tarkowski nahm sich das Skript 1984 noch einmal vor, und obwohl auch die russische Zentralbehörde für Filmwesen Goskino [27] (deren Nachfolgebehörde Roskino 1998 von Putin endgültig aufgelöst wurde) bereits grünes Licht gegeben hatte, wurde das Vorhaben nicht mehr realisiert. "Hoffmanniana" blieb also ein unvollendetes Projekt. Tarkowski war aber nicht nur mit dem Werk Hoffmanns vertraut, sondern kannte auch Schelling, Novalis und Kleist.

Auf die Tradition der "frühromantischen Idee einer rätselhaft sprechenden Natur" verweist wiederum F. Apel8 [28] und zitiert E.T.A. Hoffmanns Hinweis auf die "Hieroglyphenschrift" der Schöpfung9 [29].

Der Geweihte vernimmt die Stimme der Natur, die in wunderbaren Lauten aus Baum, Gebüsch, Blume, Berg und Gewässer von unerforschlichem Geheimnis spricht, die in seiner Brust sich zu frommer Ahnung gestalten; dann kommt, wie der Geist Gottes selbst, die Gabe über ihn, diese Ahnung sichtlich in seine Werke zu übertragen.
Ist dir, Jüngling! denn bei dem Beschauen der Landschaften alter Meister nicht ganz wunderbarlich zumute geworden?
Gewiß hast du nicht daran gedacht, daß die Blätter des Lindenbaums, daß die Pinien, die Platanen der Natur getreuer, daß der Hintergrund duftiger, das Wasser klarer sein könnte; aber der Geist, der aus dem Ganzen wehte, hob dich empor in ein höheres Reich, dessen Abglanz du zu schauen wähntest.

"Hieroglyphenschrift" meint: verrätselte Sprache. Hier findet sich ein Geheimnis der Tarkowskischen Weltdeutung, in der alogischen Struktur einer ganz anderen Sprache liegt der Gegenentwurf zum Bestehenden verborgen. Die ganz andere Sprache ist nicht diskursiv, nicht konsensversessen. Diskurs und Konsens sind bekannt als Heilmittel der Moderne; dagegen greift Tarkowski zurück auf vorzivilisatorische Momente. Die "Hexe" Maria (Gúdrun Gísladóttirin "Opfer") entstammt Otto zufolge dem sagenhaften Island. Island: die geografische Abkunft steht für einen mythischen Zeit-und Kulturraum, so wie der persönliche Name Maria die Brücke schlägt zum christlich-abendländischen Kosmos mit dem konkreten Anklang an Leonardo da Vincis "Anbetung". Unter beiderlei Hinsicht rückt Maria ins Zentrum des Geschehens, so, wie Tarkowski es auffasst und künstlerisch organisiert.

In der Figur der Dienstmagd Maria verdichtet Tarkowski ein Ideal und formt eine bewusste Wertsetzung vor dem zweifachen Hintergrund der vom Menschen herbeigeführten Katastrophe und einer ewig gleichen, aber auch gleichgültigen Natur. Nur ist es wiederum auch die Abgeschiedenheit der Schärenlandschaft, die den Protagonisten überhaupt noch mit sich selbst und, im Spiegel naturhafter Phänomene, mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen lässt. Die Natur kündet auch hier den Untergang; im Gesang über den Schären, in dem seltsamen und manchmal furchterregenden sylphenhaften Singen und Tönen, das nicht physisch greifbar wird und nicht eindeutig zu verorten ist, liegt eine besonders feinsinnige Note, mit der Tarkowski den Schauder in "Opfer" vernehmbar werden lässt. Es ist der Schrecken angesichts der total gewordenen geistigen Verödung, angesichts einer unausweichlich todbringenden Zivilisation, in der kein Zuhause mehr denkbar scheint. Gibt es ein Gegengift?

Die Frau als Erlöserin

"Man sagt, es habe nur zwei wichtige Frauen in Tarkowskis Leben gegeben: seine Mutter und seine Heimat", schrieb [30] Semfira Muftafutdinowa in einer Abhandlung trefflich. Hier liegt auch der Erklärungsgrund für ein Spezifikum in Tarkowskis Zukunftsentwurf. Es besteht in der Möglichkeit der Katharsis durch die Frau, oder, um hier eine Bemerkung Rudolf Borchardts über die amerikanische Lyrikerin Edna Millay [31] (1892-1950) zu gebrauchen: durch eine "gottgezeichnete Frauenseele".

Gegen den männlich korrumpierten Größenwahn, gegen Gewalt und Übernutzung der Natur, gegen eine "Zivilisation, die auf Stärke beruht, und auf Macht" (Alexander, Gespräch mit Jungchen) richtet sich der Durchhaltewille des Individuums, das in derWeltmaschine unbarmherzig zermahlen wird. Sünde, so erklärt Alexander seinem kleinen Sohn (im Film liebevoll, aber auch namenlos genannt "Jungchen", gespielt von Tommy Kjellqvist) - Sünde, das ist das Nicht-Notwendige. Hier erscheint die Maßlosigkeit einer vollends technisierten, rationalisierten Welt als Untugend, als schmähliches Laster. "Und was den Lebensstandard betrifft, so hat ein kluger Mensch gesagt, Sünde sei das, was nicht notwendig ist" (O-Ton Alexander).

Durchaus dissoziierte Propagandisten dieser Welt sind der Psychologe Kris Kelvin in Solaris (gespielt von Donatas Banionis) oder der Doktor namens Viktor in Opfer (gespielt von Sven Wollter). Beide stellen sie typische Vertreter einer Wissenschaft dar, die die absolute Oberhoheit beansprucht, denen aber im Verlauf des Geschehens die Dinge aus den Händen gleiten. Viktorsieht das Heil in der Auswanderung, zieht das Angebot einer Klinik aus Australien in Betracht und setzt sich damit prompt der Kritik seiner Familie aus. Aber: Entkommt er in Australien der Welt, der er eigentlich den Rücken kehren will? Als die Katastrophe hereinbricht - die Nachricht vom bevorstehenden bzw. schon begonnenen Atomkrieg -, offenbart sich die ganze Hilflosigkeit der wissenschaftlichen Denkweise: Der Arzt versucht, das Problem mit einer Beruhigungsspritze zu lösen.

Solaris

Akademischer wird die Problematik in Solaris thematisiert. Kelvin, mit dem Satz konfrontiert "Ich finde, Erkenntnis ist nur dann wahrhaftig, wenn sie sich stützen kann auch auf Sittlichkeit", erwidert nüchtern: "Ob sittlich oder unsittlich, die Wissenschaft macht der Mensch. Denken Sie an Hiroshima." Sein Widerpart Berton verzweifelt: "Er (Kelvin) ist ein Buchhalter und kein Wissenschaftler!" Einwände gegen die herrschende Wissenschaft kanzelt Kelvin kurz und knapp als "seelische Anwandlungen"ab.

Gibt es überhaupt "die Zeit", oder ist sie ein Phantasma?"Zeit ist sonach ein Phantasma der Bewegung", sagt Thomas Hobbes in seinen Grundzügen der Philosophie (Lehre vom Körper [32]) und fügt präzisierend hinzu: "Die vollständige Definition der Zeit muss [...] folgendermaßen lauten: Zeit ist das Phantasma des Früher und Später in der Bewegung." Bezeichnenderweise ist es gerade Kelvin, dessen Hybris durch eigene Erfahrung ad absurdum geführt wird. Er trifft an Bord der Raumstation über dem mysteriösen Ozean von Solaris [33] auf das Unmögliche: auf die Verlebendigung seiner toten Frau Hari (bei Tarkowski verkörpert von Natalia Bondartschuk). Diese Erfahrung stellt auch seine Vorstellung von der Zeit auf den Kopf; ihm widerfährt nichts Geringeres als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Solaris

Die magische Potenz der Frau erweist sich gerade in der Aufhebung der Zeit, so wiederum auch in "Opfer", dort in der Schlüsselszene der Vereinigung der "Hexe" Maria mit Alexander. Zwar bleibt es im Film letztlich offen, ob Alexander hier nur geträumt hat; aber dem Traum selbst kommt ja eine (höhere) Wirklichkeit zu. So geschieht es, dass die uneigennützige Liebe das männliche Prinzip der Stärke durchbricht und - in der Aufhebung der Zeit - die Gewalt neutralisiert. Im Gesang über den Schären offenbart sich ihr Wesen, ja, diese Art magischer Präsenz und Potenz wird im Verlauf des Geschehens hörbar dringlich und dringlicher. "Liebe und Ergebenheit", das sind die letzten Wunder in einer zerschundenen und hoffnungslosen Welt. Die Frau erscheint als Sinnbild und Hüterin einer Gegenkultur, einer anderen Lebensform, in welcher "Weiblichkeit" als künftige "Wertinstanz" vorgestellt ist10 [34].

Solaris

"Nicht ohne Grauen folgt man diesen Zeichenspuren in der Bilderwelt Tarkowskijs", meint [35] Hartmut Böhme, der dessen Welt in ihrer Abgründigkeit auch als "Schädelstätte der Posthistoire" identifiziert.

Beängstigend, eigentümlich, merkwürdig, das ist Tarkowskis Welt ohnehin schon; manifestieren sich Ereignisse und Träume jedoch in den bildlichen und figürlichen Zitaten abendländischer Kultur, so ist es die Religion, die hier eine beherrschende Stellung einnimmt. Beherrschend inwiefern? Dominant in der visuellen Vergegenwärtigung, despotisch in den geistig-seelischen Vollzügen, in Erinnerung und im Hoffen und Bangen angesichts derexistentiellen Bedrohung. Gerade im Bild des abgestorbenen Baums ist die Religion als ausgeleerte Sinnprovinz versinnbildlicht. Europa, das ist im Gedankenkosmos Tarkowskis nur ein anderer Name für die längst gottverlassene europäische Zivilisation. Auch hier sein Fazit: Der Mensch hat sich die Jahrhunderte über in destruktiven Praktiken, in Methoden barbarischer Intervention verfangen.

Telegrafenmasten, Schienen, Gebäuderuinen, Panzer, auch das noch funktionierende Telefon sind Spuren dieser Intervention, in deren Verlauf der Mensch offenbar den kürzeren gezogen hat [...] Das zivilisatorische Material, das er zurückließ, wird wieder von der Natur verschlungen - "hardware" wie Beton, Eisenplatten, Stahlträger, Waffen aller Art ...

Klaus Kreimeier [36]

"Idiotisten"

Nicht die Überwindung der Entfremdung (im Sinne der Hoffnung Blochs) ist das Haus des Menschen, sondern Eiszeit, Starre, tiefster Winter. Die frostklirrende Landschaft Pieter Bruegels, auch als Seelen- oder Bewusstseinsbezirke aufgefasst, ist die wahre Heimstatt des Menschen in der Sprache der Eschatologie. In Stalker [37], Tarkowskis fünftem Film, wird die Reise der Protagonisten zuletzt "zur Fahrt ins Totenreich" (H. Böhme). Sie begegnen Anubis, dem Totenhund, der in der Sageam Fluss des Vergessens wartet und der hier aus dem Nichts auftaucht und den Schauder der endzeitlichen Kulisse nur noch intensiviert.

Stalker

"Idiotisten", das sind die Absender auf dem Geburtstagstelegramm zu Alexanders Fünfzigstem, das ihm von Otto überreicht wird. "Idiotisten", das sind möglicherweise wir, die endzeitlichen Europäer. Im krisengeschüttelten Euro-Europa, in der Öde der Konsumsklaverei und mit dem Wissen um Tschernobyl und Fukushima ist es uns vergönnt, einen Blick in den Abgrund der Zukunft zu werfen. Der Filmpoet Andrej Tarkowski liefert dazu glänzendes Bild- und Denkmaterial, bietet Anschauungsunterricht der anderen Art. Märtyrer und Heilige sind versteinert, verflucht sind die Überbleibsel einer ruinösen Zivilisation, Narren und Weise (und in deren Schatten wir selbst) starren auf die Vexierbilder der Auflösung.

Ruinenlandschaft. Stalker liegt rücklings auf einem flach aus dem Wasser ragenden Stein. Sehr langsame Kamerafahrt: ein Kachelboden wird sacht von Wasser überströmt. Im Wasser tauchen undeutlich von "Verwesung" überzogene Dinge auf: eine medizinische Spritze, technisches Gerät, aufgelöstes Papier, Bleche, eine Christus-Ikone, eine pistolenartige Waffe, langsam strömende, mullartig aufgequollene Materiereste, Stahlfedern. Im Off eine weibliche Stimme, die aus der Apokalypse des Johannes rezitiert. Nach dem Schlusswort "und wer kann bestehen? lacht sie auf.

Nur am Meer ist noch Selbstbegegnung möglich, nur in der Abgeschiedenheit der Insel liegt noch Gewissheit. Im Gesang über den Schären widerhallt der Abgesang auf Europa. Das ist vielleicht Tarkowskis wichtigstes Vermächtnis an uns krisengeschüttelte Europäer 2011.

Am Schluss von "Opfer", als das Haus lichterloh in Flammen steht und alle Protagonisten samt Dienstmädchen verloren durch den aufgeweichten Inselboden stolpern, kommt ein vorsintflutlicher Krankenwagen mit zwei Klappen am Heck, um Alexander einzubuchten. Das ist eiserne Konsequenz. Und das ist nicht allein der russische Weg aus der Katastrophe - wo ja nun mal der Staat für die Realität zuständig ist und nur der Staat über die autorisierte Sicht der Dinge verfügt -, es ist auch die einzige Antwort, die Europa selbst bis heute auf die Wahrheit parat hat und auf den, der sie ernst nimmt und sie ausspricht so wie Tarkowski in seiner poetischen Ursprache: Ganz zum Schluss, wenn alle wohlfeilen Fortschrittsmythen durchdekliniert und aufgebraucht sind, kommt die Ambulanz.

Tarkowski - Filmografie und Literatur [38]


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[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Andrei_Arsenjewitsch_Tarkowski
[2] http://www.arsenal-berlin.de/kalender/filmreihe/calendar/2011/august/01/article/2858/2796.html
[3] http://www.cinema.de/film/stalker,88962.html
[4] http://www.tag.wtal.de/programm/namen/andrejtarkowskij.htm
[5] http://journalismus.h-da.de/projekte/ss05/scifi/indexe6ff.html?id=159&type=98
[6] http://www.russlandjournal.de/entertainment/film-dvd/russische-filmkassiker/andrej-tarkowski/
[7] http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/ruinen.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_1
[9] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_2
[10] http://www.russian-tv.de/andrej_tarkowskij_russische_filme.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_3
[12] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_4
[13] http://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_(Film)
[14] http://films7.com/music/classic/julia-hamari-erbarme-dich-matthaeus-passion-js-bach
[15] http://www.youtube.com/watch?v=WEqedRN1d1Y&feature=related
[16] http://de.wikipedia.org/wiki/Alter_Ego
[17] http://de.wikipedia.org/wiki/Leonardo_da_Vinci
[18] http://www.museoscienza.org/
[19] http://de.wikipedia.org/wiki/Gotland
[20] http://www.berliner-zeitung.de/archiv/zurueck-zum-geist,10810590,10558628.html
[21] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_5
[22] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_6
[23] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_7
[24] http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/ruinen.html
[25] http://en.wikipedia.org/wiki/E._T._A._Hoffmann
[26] http://en.wikipedia.org/wiki/Hoffmanniana
[27] http://de.wikipedia.org/wiki/Goskino
[28] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_8
[29] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_9
[30] http://journalismus.h-da.de/projekte/ss05/scifi/indexe6ff.html?id=159&type=98
[31] http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/dieentdeckungamerikas-r.htm
[32] http://www.zeno.org/nid/20009184430
[33] http://de.wikipedia.org/wiki/Solaris_(1972)
[34] https://www.heise.de/tp/features/Europas-Nachtgesang-3392503.html?view=fussnoten#f_10
[35] http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/ruinen.html
[36] http://www.filmzentrale.com/rezis/stalkerkk.htm
[37] http://de.wikipedia.org/wiki/Stalker_(Film)
[38] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3545464.html?artikel_cid=3392503&row_id=1