Europas historische Verantwortung im Ukrainekrieg
Seite 2: Europäische Denklogiken
Als chinesischer Wissenschaftler, der auf Europa- und Deutschland-Studien spezialisiert ist, ist mir die Logik dieses Konflikts bzw. die Denklogik der Konfliktparteien alles andere als fremd. Der Erste Weltkrieg – die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie sie vom US-amerikanischen Historiker George F. Kennan zu Recht bezeichnet wurde1 – war bereits das Produkt dieser Logik.
Vor über 100 Jahren standen sich die europäischen Nationalstaaten, gestärkt durch ihre Kolonien und ihren weltweiten Einfluss, in feindlichen Lagern gegenüber. Ihr Krieg war das Mittel zu Zwecken, die sich in ihren jeweiligen hegemonialen Ansprüchen und denen ihrer Bündnisse ankündigten.
Die Pariser Friedenskonferenz folgte derselben Logik und schuf eine "The winner takes it all"-Ordnung. Damit gab sich das besiegte Deutschland nicht zufrieden und entfachte einen weiteren Weltkrieg, dessen berechnende Grausamkeit industriellen Ausmaßes alle vorangegangenen Kriege in den Schatten stellte.
Doch die beiden Weltkriege konnten das europäische Verlangen nach einer Entscheidung für einen endgültigen Sieger nicht vollständig befriedigen, so dass eine kontrollierte, aber nicht weniger explosive Konfrontation, deren Hauptschauplatz Europa war, geradezu als das Gebot der Stunde erschien.
Im Verlauf des Kalten Krieges unter gegenseitiger atomarer Abschreckung entging die Welt mehrfach nur knapp einer Eskalation in heiße Auseinandersetzungen.
Auch ist es keine Neuheit, dass die Kriegsparteien ihrem Handeln eine moralische Dimension verleihen und sich gegenseitig der Kriegsverbrechen und -schuld bezichtigen. Im Ersten Weltkrieg verabscheuten Großbritannien und Frankreich die "hunnenhafte" Aggression Deutschlands.
Darauf reagierten 93 deutsche Intellektuelle mit dem Aufruf "An die Kulturwelt!", in dem der deutsche Krieg als Verteidigung der Kultur gerechtfertigt wurde.2
Wer war am Kriegsausbruch schuld? Sowohl David Lloyd George, der britische Premierminister zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als auch Christopher Clark, der Cambridge-Historiker des 21. Jahrhunderts, sind sich einig, dass der Erste Weltkrieg durch das "Schlafwandeln" aller Beteiligten, die aktiv und willig in die offensichtliche Kriegsfalle hineinschlitterten, ausgelöst wurde.3
Aus der Geschichte scheint Europa wenig gelernt zu haben. In diesen Tagen werfen die NATO und Europa Russland die Verletzung des Völkerrechts und Barbarei vor. Die russische Erwiderung darauf kommt in einer Ansprache der Russian Union of Rectors, die die Unterschriften von 250 Hochschulrektoren trägt, zum Ausdruck: In diesem Konflikt gehe es Russland um die "Entmilitarisierung", "Entnazifizierung" und den "Schutz vor der wachsenden militärischen Bedrohung" in der Ukraine.4 Steht die europäische Geschichte still oder täuscht man sich hier?
European solutions to European problems!
Ein Rückblick auf die Geschichte der europäischen Kriege seit Beginn des 20. Jahrhunderts zwingt mich zu einer Schlussfolgerung, die wahrscheinlich von den europäischen Kolleginnen und Kollegen mit Empörung zurückgewiesen und kategorisch abgelehnt wird: Einerseits stellt Europa zweifellos den Leuchtturm der modernen menschlichen Zivilisation dar; andererseits hat es diese wiederholt an den Rand des Zusammenbruchs und der Zerstörung gebracht.
Das moderne Europa erscheint in dieser Perspektive als eine janusköpfige Zivilisation mit einer entsetzlichen Fratze der Barbarei, die ihrerseits in eine heilige Fassade absoluter Werte und Ideen verpackt wird.
Es kommt in der europäischen Geschichte äußerst selten vor, dass Kritik nichteuropäischer Herkunft an diesem unerschütterlichen europäischen Sendungsbewusstsein erwünscht ist. Es ist an der Zeit, dass die Europäerinnen und Europäer sich ihrer Logik stellen und diesem Nullsummenspiel des Wahnsinns ein Ende setzen!
Erlauben Sie mir als jemandem, der die zivilisatorische Leistung Europas stets bewundert und dennoch in der chinesischen Kultur verwurzelt ist, einen Appell in Richtung Europa auszusprechen: In diesem Konflikt geht es wahrlich nicht um den Endkampf zwischen Freiheit und Unfreiheit der Menschheit, sondern vielmehr um die Fortsetzung der Geschichtslogik des modernen Europas.
Es ist an der Zeit, dass die Europäerinnen und Europäer sich dieser ihrer Logik stellen und diesem Nullsummenspiel des Wahnsinns ein Ende setzen! Die Kulturen außerhalb Europas gehen voller Angst und Abscheu mit dieser europäischen Geschichtslogik um.
Europa hat kein Recht, die ganze Welt zu zwingen, sich nach einem katastrophalen Jahrhundert erneut der Wahl zwischen Krieg und Frieden, zwischen Überleben und Zerstörung zu stellen.
Dass der russisch-ukrainische Konflikt im Wesentlichen ein europäisches Problem ist, ist kein skrupel- und verantwortungsloses, die Gerechtigkeit missachtendes und Tatsachen verdrehendes Argument eines chinesischen Akademikers, sondern eine schlichte Feststellung im Geiste der europäischen Vernunft.
Die kenianische Wissenschaftlerin Martha Bakwesegha-Osula hat in einem am 16. März 2022 in der deutschen Monatsschrift "Internationale Politik und Gesellschaft" erschienenen Artikel die afrikanische Sicht auf den russisch-ukrainischen Konflikt zum Ausdruck gebracht: "European solutions to European problems!"5
Diese Sicht ist auch ein wichtiger Grund, warum sich viele Länder, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung zur Lage in der Ukraine am 2. März der Stimme enthalten haben.
In diesen Tagen werden europäische Stimmen immer lauter, dass China in die diplomatische Vermittlung zur Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts einbezogen werden solle. China seinerseits kann sich der Frage schwer erwehren, inwiefern Europa chinesische Hilfe im Ernst bräuchte.
Würde Europa die chinesische Wertevorstellung vom Primat des Friedens und der Harmonie akzeptieren? Denn anders als die europäische Siegerlogik kennt die chinesische Geschichtserfahrung Kompromisse und Praktiken, die nicht selten in Europa als ein "Frieden des Friedhofs" und "Scheinfrieden" bezeichnet werden.
Wird dem chinesische Credo – "Wenn Sie geduldig bleiben, werden Sie Ruhe und Frieden finden; wenn Sie einen Schritt zurücktreten, werden Sie mehr Raum gewinnen" – in Europa Sympathie entgegenschlagen oder Verachtung?
Erwartet Europa im Falle einer chinesischen Vermittlung einen Kompromissfrieden, oder will es, dass China sich auf die Seite Europas stellt und so im europäischen Nullsummenspiel mitspielt?