Evaluationsbericht: Und was, bitte, lernen wir daraus?
Ausgerechnet beim Thema Coronapandemie, das die Gesellschaft bis in kleinste Verzweigungen gespalten und teils zerrissen hat, wird es für künftige Wellen keine Argumentationshilfen geben im Sinne verlässlicher Daten und Fakten.
Der Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses zu den Auswirkungen der im Zusammenhang mit der Epidemischen Lage von nationaler Tragweite erlassenen Normen liegt seit Ende Juni vor. Er müsste Grundlage dafür sein, über die Corona-Pandemie hinaus Handlungsoptionen in der Rechtsetzung, Kommunikation und im Management für weitere Krisen zu erarbeiten. Ob dies auch in ausreichendem Maße passieren wird, kann angesichts der verworrenen Kommunikation darüber, wie es nun weitergehen soll, bezweifelt werden.
In vielerlei Hinsicht, so der Tenor in der Berichterstattung, war der Bericht einem Offenbarungseid gleichgekommen. Weder in der Anfangsphase (Containment), noch bei der Abmilderung der Folgen der Infektion (Mitigation) und der Vermeidung der Überlastung des Gesundheitswesens sowie beim Schutz vulnerabler Gruppen (Protektion) lief es optimal. Da dies keine abgeschlossene Vergangenheit ist, ließe sich daraus zumindest optimistisch schlussfolgern, dass der Lerneffekt hoch sein müsste.
Fragwürdig, hört man sich nur mal die Polyphonie bei den Empfehlungen an, wer sich nun wie und wann am besten die vierte Impfung abholen sollte. Es scheint, als gäbe es nicht einmal ausreichend verbindliche Kommunikationswege zwischen dem Gesundheitsministerium und der Ständigen Impfkommission. Kann aber auch an Lauterbachs Eigenwilligkeit liegen.
"Die Wirksamkeit der Impfung als Maßnahme zur Bekämpfung des Sars-CoV-2 kann aus Gründen der Komplexität nicht behandelt werden, dies schließt auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht (§ 20a IfSG) mit ein. Es müssten nicht nur die Anzahl der Impfungen, die Altersgruppen und mögliche Gegenanzeigen bzw. Vorerkrankungen betrachtet werden, sondern auch die verschiedenen Impfstoffe sowie die möglichen Kombinationen der verschiedenen Impfstoffe in jeder möglichen Variation miteinander verglichen werden.
Bericht des Sachverständigenausschusses
Ausgerechnet bei diesem Thema, das die Gesellschaft bis in ihre kleinsten Verzweigungen gespalten und teils zerrissen hat, wird es für künftige Wellen keine Argumentationshilfen geben im Sinne verlässlicher Daten und Fakten. Zumal dies in Folge juristisch eine Impfpflicht, für wen auch immer, erheblich erschwert.
Lockdown: Hier ist zumindest klar, dass eine Reduktion enger physischer Kontakte auch zu einer Verminderung der Infektionen führt. Der Effekt verringert sich mit zunehmender Dauer, da immer weniger Menschen bereit sind, den Anweisungen zu folgen.
Kontaktnachverfolgung: Angesichts überlasteter Ämter und bei exponentiell steigenden Zahlen nur in Frühphase einer Pandemie hilfreich.
2G/3G-Maßnahmen: Der Schutz lässt mit der Zeit, die nach Impfung oder Genesung vergeht, deutlich nach.
Schulschließungen: Wirkung völlig offen, nicht intendierte Wirkungen hoch, da es kaum Kompensationsangebote für Kinder und Jugendliche gab, die in ärmeren und armen Haushalten und unter prekären sozialen Bedingungen leben. Maskenpflicht: Keine abschließende Beurteilung möglich.
Psychosoziale Auswirkungen: Erheblich, besonders für Frauen und junge Menschen.
Corona-Hilfen: Kamen überwiegend männlichen Erwerbstätigen zugute.
Sozial bedingte Ungleichheit wurde nicht als eigenständiges Thema der Pandemiepolitik erkannt. Ausweichmöglichkeiten für Menschen, die in ihrem gewohnten Umfeld nicht hinreichend vor Infektion geschützt sind, gab es kaum, Geschlechterkulturen und -normen wurden retraditionalisiert, ein Gender-Budgeting bei Pandemiemaßnahmen wurde nicht in Betracht gezogen.
Ein Mindestmaß an sozialen Kontakten zu engen Bezugspersonen konnte nicht gewährleistet werden, eine enge Kontrolle des Infektionsschutzes besonders dort, wo die Arbeitsbedingungen prekär sind (Fleischindustrie), gab es nicht, die bis dato getroffenen Maßnahmen, um eine Wiederholung der daraus entstehenden Katastrophen zu vermeiden, sind völlig unzureichend.
Nichts ist darüber zu hören oder zu lesen, dass aus den Erfahrungen der vergangenen zweieinhalb Jahre an einem Resilienzkonzept im Sinne einer ausreichenden öffentlichen Daseinsvorsorge gearbeitet wird. Eines, das auch für weitere potenzielle Krisen (Hitze, Stromknappheit) tauglich wäre und das zugleich Eingriffe in grundlegende Freiheitsrechte verhindert. Ein solidarisches Resilienzkonzept also.
Nichts darüber, dass an einer international anerkannten und systematisch verwendeten Definition des Lockdowns gearbeitet wird, was zur Folge hat, dass vergleichbare Evaluationen nicht möglich sind. Ebenso fehlen Ansätze für eine Evaluation der nicht intendierten Folgen von Schul- und Kitaschließungen.
Es gibt keine Debatten darüber, was ein Mindestmaß an sozialen Kontakten ist, das gewährleistet werden muss – denken wir nur an die nicht durch Corona begründete Übersterblichkeit alter Menschen in Pflegeeinrichtungen und an das Elend, dass selbst Sterbende in den Einrichtungen in ihrer Einsamkeit belassen werden mussten, was ein würdevolles Sterben unmöglich machte.
Ebenso ist nicht klar, ob es im Falle von wie auch immer gearteten Zugangsbeschränkungen und damit verbundener Testpflicht nicht geradezu zwingend ist, die kostenlosen Bürger:innentests weiterhin flächendeckend vorzuhalten.
Hat die Politik bereits angekündigt, ein Konzept für Entschädigungsleistungen bei Betriebsschließungen und für den Fall des Erwerbsausfalls durch fehlende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder entwickelt? Nichts gehört.
Gibt es eine Debatte darüber, wie in dem Satz "Ihre inhaltliche Rechtfertigung finden staatliche Eingriffe zum Gesundheitsschutz im Angesicht einer bedrohlichen Infektionskrankheit wie Sars-CoV-2 grundsätzlich darin, dass individuelles Verhalten gesellschaftliche Ausstrahlungseffekte hat" dahingehend konkretisiert wird, dass sich die daraus ergebenden Grundrechtseingriffe auch wirklich rechtfertigen lassen?
Was genau meint "bedrohlich"? Und welches "Bedrohlich" rechtfertigt wann welchen Eingriff? Ab wann ist ein Eingriff, der zum Zeitpunkt x gerechtfertigt ist, nicht mehr gerechtfertigt?
Und ist es gerechtfertigt, dass die Entscheidungen für die Maßnahmen über sehr lange Zeit bei der sogenannten Bund-Länder-Runde lagen, einem Gremium, das weder im Grundgesetz verankert und von den jeweiligen Parlamenten entkoppelt ist. Ein rein exekutives Gremium also, bestehend aus Ministerpräsident:innen und Bundeskanzler:in, hinter verschlossenen Türen tagend. Über einen längeren Zeitraum gedacht muss dies zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen führen.
Ein zentraler Satz im Bericht des Sachverständigenrates lautet:
Es gibt keinen Verfassungssatz, wonach die Regeln des Grundgesetzes nur für einen – wie auch immer zu definierenden – Normalzustand gelten. Einen durch das Recht angeblich nicht fassbaren Ausnahmezustand kennt es dementsprechend nicht. Daher ist dem Grundgesetz die Vorstellung, ein Verfassungsorgan könne ohne rechtliche Bindungen handeln, um die Verfassungsordnung insgesamt zu retten, fremd.
Heißt, auch in einer epidemischen Lage mit nationaler Tragweite bleiben der Grundsatz der Gewaltenteilung, das Bundesstaatsprinzip und die Grundrechte verbindlich.
Der Bericht bezeichnet zudem die Feststellung der Epidemischen Lage von nationaler Tragweite als "fragwürdige Konstruktion", weil sie zu der Annahme verleiten könne, dass mit den bewährten Mitteln des demokratischen Rechtsstaates eine Pandemie nicht zu bewältigen sei. Es bedürfe also einer verfassungsrechtlichen Grundlage für entsprechende Notlagen.
Dies ließe sich, so ein Vorschlag der Berichtenden, der viele Tücken hat, durch die Ergänzung des Art. 80a Grundgesetz durch einen Artikel 80b erreichen, mit dem Vorratsgesetze für Krisenfälle durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestages inkraft gesetzt werden könnten.
Vorratsgesetze für Krisenfälle, die aus der Schublade geholt und für geltend erklärt werden, gäben allerdings eine Ermächtigungsgrundlage, die groß ist. Daran ändert auch die hohe Hürde einer Zwei-Drittel-Mehrheit nichts.
Das Land Berlin hat sich statt eines solchen massiven Eingriffs für ein Parlamentsbeteiligungsgesetz entschieden, das Abstufungen vorsieht, wann das Parlament vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen muss oder auch Widerspruch einlegen kann. Ließe sich ja vielleicht was draus lernen, bevor man die Verfassung ändert.
Zudem muss gesagt werden, dass der Bericht der Evaluierungskommission nichts geliefert hat, was im Hinblick auf Resilienz im Sinne staatlicher Daseinsvorsorge hilfreich wäre. Außer, dass es fein sein könnte, die Wissenslücken (ein sehr euphemistischer Ausdruck) sukzessive zu schließen.
Euphemistisch, weil ja eigentlich festgestellt werden muss, dass die Begleitforschung während der Pandemie völlig versagt hat. Im Bericht klingt das so:
Ebenso wurde bislang auch keine Koordinierung der bereits geplanten oder laufenden Studien zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene angestrengt.
Sprachlich nicht schön formuliert, auch wenn die Bekämpfungsfrage der Kampfansage vorzuziehen ist, aber übersetzt: Es gab und gibt keine gemeinsam von den zuständigen Ministerien BMWF und BMG koordinierte Forschungsinitiative unter Einbeziehung forschender Institutionen, wie zum Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft.
Erfolglos haben die Gesetzlichen Krankenkassen ihre Datenbestände für eine datenschutzrechtliche Analyse angeboten, um eine Verknüpfung von Impf- mit Gesundheitsdaten zu ermöglichen. Die werden wir auch bei der nächsten, übernächsten und überübernächsten Welle wohl nicht bekommen.
Was bedeutet dies für die Gesellschaft?
Mangelnde Verknüpfung verschiedener Wissenschaften, also Monokultur statt Interdisziplinarität führt dazu, dass sie in den Debatten weiter auseinanderdriften wird.
Die einen stellen nur auf die epidemologische Wissenschaft ab, den anderen ist die völlig egal. Psyche, soziale Sicherheit und soziale Verwerfungen, Folgenabschätzung, soziologische und ökonomische Fragen – wenn von vornherein nicht alles zusammengedacht und zusammengebracht wird, bleibt es bei dem Eindruck, dass wir über Monate hinweg fast ausschließlich Virolog:innen als Maßstab aller Dinge präsentiert bekamen.
Währenddessen stiegen in der Gruppe der 15-17-Jährigen die emotionalen Störungen um 42 Prozent, der multiple Suchtmittelmissbrauch um 39 Prozent, die depressiven Episoden um 28 Prozent und die Essstörungen um 17 Prozent. (Evalutionsbericht). Bei Grundschulkindern musste ein Anstieg der Störung sozialer Funktionen um 36 Prozent verzeichnet werden.
Interdisziplinäre Forschung hieße also auch, sich die Frage zu stellen und sie zu beantworten, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, was dieser Generation angetan worden und ob dies gerechtfertigt ist. Im Bericht steht:
Eine Meta-Analyse von Daten, die in 204 Ländern zwischen Januar 2020 und Januar 2021 erhoben wurde, berichtet einen weltweiten Zuwachs von 76,2 Millionen Menschen mit Symptomen von Angsterkrankungen bzw. 53,2 Millionen Menschen mit Symptomen einer Depression.
Davon seien vor allem junge Menschen und Frauen betroffen. Und wenn der Bericht zu dem Schluss kommt, dass in Deutschland durch die Pandemie "neue Dimensionen der Ungleichheit" entstanden seien, dann wäre die logische Schlussfolgerung für gute Politik doch sicher, genau das durch ausreichend Vorsorge und Umverteilung von Ressourcen zu reparieren und zu verhindern.
Stattdessen ist eine Kakophonie an Stimmen zu hören, ob nun jetzt, später, ab welchem Alter, mit oder ohne Vorerkrankung die vierte Impfung abgeholt werden sollte. Vielleicht arbeitet auch jemand an einem Evaluationsbericht darüber, welche Schlussfolgerungen und Handlungen ein Evaluationsbericht, nach sich zieht, der in mancher Hinsicht desaströs ist und der Politik ein wahrlich nicht gutes Zeugnis ausstellt. Über den schreiben wir dann im kommenden Jahr.
Kathrin Gerlof ist freie Autorin und Journalistin und Chefredakteurin der monatlich erscheinenden Wirtschaftszeitung OXI Wirtschaft anders denken.