Evidenz- oder marketingbasierte Medizin?

Interne Dokumente und neue Analysen zeigen die Schwächen des Systems der Arzneimittelzulassung

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Die evidenzbasierte Medizin ist das neue Steckenpferd der Gesundheitspolitik. Es mutet seltsam an, dass hier Selbstverständliches in den Rang einer Innovation erhoben wird. Denn es sollte doch klar sein, dass die Behandlung von Patienten auf dem aktuellen Stand der klinischen Medizin und medizinischer Veröffentlichungen steht und die pharmazeutische Therapie auf empirisch nachgewiesener Wirksamkeit beruht.

Die Autoren Glen Spielmans und Peter Parry stellen nun in einem Aufsatz die These auf, dass die pharmazeutische Industrie die Ideen der evidenzbasierten schon längst gegen die der marketingbasierten Medizin aufgegeben hat.

Marketingbasierte Medizin würde auf mehreren Säulen basieren: Dem Unterdrücken und Verändern von ursprünglich negativen Studiendaten, Ghostwriting, Erfinden von Krankheiten ("disease mongering"), dem Beeinflussen von Ärzten, dem Versagen der Zulassungsbehörden und nicht zuletzt dem Versagen der Fachmagazine, die trotz des sogenannten Peer Reviewing, also der Begutachtung der Aufsätze durch ebenbürtige Kollegen, ihrer Rolle als Kontrollinstanzen nicht gerecht werden. Einigen dieser Spuren wird im Folgenden nachgegangen.

"Defektes System"

Dass die Vorwürfe der Wissenschaftler von der Metropolitan State Universität (USA) und Flinders Universität (Australien) nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die Aussagen von Beteiligten. So spricht die frühere Chefredakteurin eines angesehenen Wissenschaftsmagazins, dem New England Journal of Medicine, Marcia Angell, von einem "defekten System". Ähnlich besorgt äußert sich Richard Smith, ehemaliger Chefredakteur des British Medical Journal (BJM). Er titelte seinen Aufsatz: "Medizinische Journale sind der verlängerte Arm der Marketingabteilung pharmazeutischer Unternehmen."

Im Kern geht es darum, wie und warum es manche Medikamente auf den Markt schaffen, die anderen dagegen nicht. Statt der propagierten evidenzbasierten Medizin würde die marketingbasierte Medizin vorherrschen, so der Vorwurf der Autoren. Sie stützen sich mit ihrer Behauptung auf interne Dokumente und E-Mails aus unterschiedlichen Pharma-Konzernen.

Es ist seit längerem nachgewiesen, dass Studien, die vom Hersteller finanziert werden, zu signifikant besseren Ergebnissen führen als Studien, die von Forschern durchgeführt werden, die in keiner Verbindung zum Hersteller stehen. Das wird dadurch begünstigt, dass die Hersteller bislang nicht verpflichtet sind, negative Studienergebnisse zu veröffentlichen.

Am Beispiel des antipsychotischen Wirkstoffs Quetiapin (Seroquel) zeigt sich, dass die internen und später vom Hersteller AstraZeneca publizierten Daten wenig miteinander gemein haben. AstraZeneca hatte den neuen Wirkstoff Quetiapine mit einem alten Arzneimittel namens Haloperidol (in Deutschland bekannt als "Haldol") verglichen und musste im März 2000 feststellen, dass die Wirksamkeit schlechter war (die internen Dokumente sind mittlerweile durch ein Gerichtsverfahren öffentlich zugänglich. Dies hielt den Studienleiter aber nicht davon ab, die Überlegenheit von Quetiapine zu propagieren.

Kein Publizierungszwang

Um eine Zulassung in den USA zu erhalten, müssen Pharma-Firmen ihre Studien bei der Arzneimittelbehörde FDA anmelden. Ob sie die Studien später in einem Fachmagazin veröffentlichen, ist ihnen allerdings überlassen. Erick Turner und Kollegen kramten in den Archiven der FDA und veröffentlichten 2008 einen Artikel, in dem sie die Ergebnisse von publizierten und nicht-publizierten Studien mit Antidepressiva verglichen. Danach wurde nur ein Drittel der Studien mit negativen Ergebnissen später veröffentlicht. Mehr noch, in der Hälfte der Fälle dieser publizierten Daten wurden aus den ursprünglich negativen plötzlich positive Ergebnisse. Wie war das möglich?

Damit betritt man das Feld der wissenschaftlichen Manipulationsmagie. Schon der oben genannte ehemalige Chefredakteur Richard Smith hat in seinem Aufsatz die Möglichkeiten aufgeführt, wie man aus Datensätzen möglichst die Ergebnisse extrahieren kann, die in das Konzept passen. So kann man Teilnehmer ausschließen, weil sie bestimmten Kriterien nicht genügen. Dies ist besonders beliebt in der Placebo-Responder-Phase, also dem frühen Zeitpunkt in einer Studie, in der der alle Teilnehmer ein Scheinmedikament erhalten und diejenigen aussortiert werden, die zu gut darauf reagieren. Oder man dosiert das Vergleichsprodukt so niedrig, dass keine vernünftige Wirksamkeit eintreten kann. Oder man schließt bei einer Multicenter-Studie die Daten aus einem bestimmten Standort aus. Oder es existieren mehrere Endpunkte in der Studie, von denen nur der gewünschte gewählt wird. Nicht zuletzt generiert man Subgruppen unter den Probanden, und wählt zur Veröffentlichung nur die Erwünschten aus.

Neben kreativem Studiendesign und dem Jonglieren mit Datensätzen setzen pharmazeutische Unternehmen auf Beraterfirmen, die den Prozess der Medikamentenentwicklung von Anfang bis Ende begleiten. Firmen wie PeerView und Sunvalley Communication sind darauf spezialisiert, Arzneimittelhersteller bei der Generierung ihrer Studien und Veröffentlichung ihrer Daten zu unterstützen. Die Firma Dianthus Medical offeriert "medical writing" und damit die Vorbereitung eines wissenschaftlichen Aufsatzes zur Publizierung in einem Fachmagazin. Als Referenzen werden auf der Website die Großen der Branche (GlaxoSmithKline, Lilly, Sanofi-Aventis, Wyeth) aufgeführt.

Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass rund zehn Prozent der Aufsätze von solchen Ghostwriting-Firmen teilweise oder komplett verfasst werden. Andere sprechen sogar von 18-40 Prozent bei dem Antidepressivum Sertralin. Firmen wie "Current Medical Directions" oder "Complete Healthcare Communications" planen neben den Veröffentlichungen zudem Workshops und Werbe-Maßnahmen.

Was ist zu tun? Aus Sicht von Glen Spielmans und Peter Parry sollten in einem ersten Schritt die Rohdaten und Ergebnissen von allen Studien öffentlich zugänglich sein. Richard Smith geht noch weiter: Er würde gerne die Verbindung von Journalen und Pharma-Industrie gänzlich kappen und schlägt vor, dass die Studienprotokolle online zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Magazinartikel würden sich dann nur noch mit der Diskussion der Protokolle und Ergebnisse beschäftigen.

In Deutschland wird die Diskussion um die Abhängigkeit der Fachmagazine und die Unzulänglichkeit vieler Arzneimittelstudien noch kaum geführt. Auf Seiten der Politik besteht wenig Lust, es sich mit den vermeintlichen Arbeitsplatzgaranten der pharmazeutischen Industrie zu verscherzen. Dem von Gesundheitsminister Rösler vergraulten Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), Peter Sawicki, wurde im Kern weniger seine Abrechnungen, sondern seine pharmakritische Haltung vorgeworfen. Überblickt man allerdings das Arzneimittelzulassungssystem, so bleibt einem gar nichts anderes übrig, als pharmakritisch zu werden.