Evolution des Terrors

Im Irak lassen sich die Anpassungsleistungen des (islamistischen) Terrorismus verfolgen, Aussicht auf eine Ende der muslimischen Terrorkultur besteht wohl vorerst nicht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit den ersten großen Terroranschlägen von internationale agierenden islamistischen Terroristen hat es nach dem Krieg in Afghanistan und schließlich im Irak erhebliche strategische Veränderungen gegeben. Offenbar sehen sich die durch die Kriege und die Besatzung gestärkten Terrorgruppen mehr und mehr dazu genötigt, mit ihren Anschlägen Rücksicht auf Sympathisanten zu nehmen und ihre Aktionen zu begründen. Auch die Wahl der Opfer wird im Hinblick auf die politische Wirkung genauer justiert.

Bei den ersten großen Anschlägen auf die beiden US-Botschaften in Afrika oder auch am 11.9. 2001 auf das WTC und das Pentagon sprach alleine die Tat für sich, die sich über die Medien verbreitete. Die Täter und Drahtzieher übernahmen keine Verantwortung und ließen daher nur Spekulationen und Mutmaßungen über sich selbst und ihre Motive zu. Da Osama bin Ladin aber in einem Interview zum Dschihad gegen die USA und die ihr nahestehenden arabischen Regime aufgerufen hatte und im Taliban-Afghanistan weiterhin Tausende von Menschen für den Terrorkampf ausgebildet wurden, lag der Verdacht nahe, dass Bin Ladin und sein al-Qaida-Netzwerk hinter den spektakulären Anschlägen steht. Dadurch wurde er auch zum Gegenspieler von George Bush und zu einer prominenten Figur, die gehasst und bewundert wird.

Noch immer hat sich "al-Qaida", wer immer auch das sein mag, sofern der Name mehr ist als eine Bezeichnung für lose verbundene Personen und Gruppen, nicht zu einem konkreten Anschlag bekannt, auch wenn bin Ladin und andere den Dschihad durch Terroranschläge gerechtfertigt und zu ihm aufgerufen haben. Normalerweise kamen Bekenntnisse zu Anschlägen von Gruppen, die man von außen al-Qaida zurechnete. Allerdings gab es bereits zahlreiche islamistische Gruppen, die in regionalen Kämpfen wie in Palästina, Tschetschenien, Bosnien, Kaschmir oder auf den Philippinen verstrickt waren und untereinander in Verbindung standen. Sobald Gruppen sich aber etabliert und meist auch in Konkurrenz zu anderen Gruppen um den Einfluss und Rückhalt in der Bevölkerung kämpfen, wird mit der Identitätsbildung auch eine "Leistungsbilanz" und ein wie immer gearteter Begründungszusammenhang notwendig.

Es hat auch nach dem Krieg und der Besatzung des Irak, die nach Afghanistan ein weiteres Feld des Kampfes gegen die USA eröffnete, noch viele Angriffe und Anschläge gegeben, bei denen sich die Täter anonym hielten und es nicht für notwendig erachteten, ihre Aktionen zu rechtfertigen. Es gibt zwar das Bedürfnis, die Täter und ihre Hintermänner genau zu umgrenzen und vermutete hierarchische Strukturen und Befehlsketten wie in normalen Organisationen auszumachen. Möglicherweise waren die aufständischen Gruppen aber die erste Zeit nach dem verkündeten Kriegsende zu disparat und unorganisiert oder gab es über die Bekämpfung der Besatzungstruppen und der mit ihnen Kooperierenden hinaus keine großen gemeinsamen Ziele.

Von der Anonymität zum Bekenntnis und zur Legitimation

Warum aber gibt es seit einiger Zeit bei den Anschlägen und Entführungen im Irak und in Saudi-Arabien eine Begründung und ein Bekenntnis? Das hat sicherlich etwas damit zu tun, dass die unterschiedlichen Gruppen sich stärker voneinander abzugrenzen suchen und zumindest die regionalen Gruppen sich ihren Einfluss sichern wollen, während gleichzeitig die Interessen auseinander driften. Nur Angst und Schrecken um sich zu verbreiten, weil prinzipiell jeder zum Opfer eines Anschlags werden kann, selbst wenn die Bomben sich gegen die "Feinde" (Besatzungstruppen und vermeintliche Kollaborateure) richten, führt dazu, dass die meisten Menschen jede Unterstützung entziehen und einfach Sicherheit wünschen. Für nicht regional verankerte Gruppen, die international für die Ausbreitung eines islamischen Staates und den Sturz von autoritären oder dem Westen verhafteten Regimes kämpfen, ist zwar das Publikum global, das mit den medienstrategisch inszenierten Anschlägen angesprochen wird, aber es muss auch Rücksicht auf die lokale Bevölkerung genommen werden, um nicht in die Isolation zu geraten.

Daneben ist aber sicherlich auch die bei manchen Gruppen neue Medienstrategie entscheidend, über Websites und Online-Publikationen an die Öffentlichkeit zu treten und die Terroranschläge oder Entführungen selbst auch zu dokumentieren, um sie den Medien als Material zuzuspielen und damit für größere Aufmerksamkeit zu sorgen. Bilder lassen sich besser in die bildhungrigen Medien einspeisen als Texte und längere Ausführungen. Weil aber dann nicht nur mit der Propaganda der Tat, sondern auch mit Bildern von ihr geworben wird, entsteht auch aus der immanenten Logik heraus die Notwendigkeit, den "richtigen" Kontext herzustellen, um nicht jedes Ansehen bei denjenigen zu verlieren, um deren Anerkennung oder Verständnis man wirbt oder die man zu rekrutieren sucht. Gerät man in einen Begründungszusammenhang, so müssen auch die Opfer und Ziele der Anschläge legitimiert werden, wodurch sich vermutlich mehr und mehr Anschläge verbieten werden, die nur vage auf die auserkorenen Gegner ausgerichtet sind, aber zufällig anwesende Menschen töten und verletzen (Geister der Realität).

Terror und Medien

Eine der Gruppen, die schon länger die Medienstrategie der Videobotschaften übernommen und die Verantwortung für Anschläge und Entführungen übernommen hat, ist die Terrorgruppe "Tawhid wal jihad", die von al-Sarkawi geführt werden und al-Qaida nahe stehen soll (Terroristische Medienstrategie). Unlängst hatte sie mit der, passend zum Nato-Gipfel erfolgten Vorführung von drei türkischen Geiseln und der Drohung, sie zu köpfen, eine neue Stufe der Erpressung anvisiert. Traditionell war noch die Forderung, dass die türkische Regierung und die türkischen Unternehmen innerhalb von drei Tagen ihre Aktivitäten im Irak einstellen und sich zurückziehen sollten. Aber dann ging auch noch die Drohung an das türkische Volk, große Demonstrationen gegen Bush und Nato zu veranstalten. Das würde natürlich die mediale Wirkung der Terroristen stärken, macht aber gleichzeitig das mehrheitlich gegen den Irak-Krieg eingestellte türkische Volk zu Komplizen oder eben zu Erpressten.

Das konnte nicht gut gehen. Schnell haben die Terroristen, zumal sie auch im Irak selbst gegenüber den anderen Aufständischen in Isolation geraten, dies offensichtlich erkannt und versucht, aus den zwar statt gefundenen, aber nicht sonderlich großen Demonstrationen das Beste in ihrem Sinn zu machen, was den ursprünglichen Sinn ihrer Erpressung umkehrte. Die Geiseln wurden, wie sie in einem erneuten Video, das wieder von al-Dschasira gesendet wurde, frei gelassen, obgleich die Regierung die Forderung zurück gewiesen hatte. Man mache dies für die Muslime in der Türkei und wegen der Demonstrationen. Die Geiseln hätten zuvor zugesichert hätten, nicht mehr für die "Ungläubigen" zu arbeiten. Auch weitere türkische Geiseln sollen frei kommen, da die Firmen, bei denen sie angestellt sind, versichert hätten, nicht mehr mit den Amerikanern zu arbeiten.

Inzwischen zirkuliert ein Text, angeblich von al-Sarkawi, der mittlerweile zum großen Gegenspieler aufgebaut wurde und sich so inszeniert, im Internet, der die Legitimationsstrategie noch deutlicher werden lässt. "Jeder Muslim ist unser Bruder", wird der Brief von Yassin Musharbash in Spiegel Online zitiert. "Wir wollen die Gemeinschaft der Muslime an jedem Ort wissen lassen, dass wir niemals einen Muslim getötet haben und dies auch nicht tun werden." Andererseits wird auch eine weiten Spielraum lassende Unterscheidung zwischen Muslimen gezogen: "Der muslimische Amerikaner ist unser geliebter Bruder, der ungläubige Araber unser verhasster Feind." Schließlich ist der Muslim, der mit den Feinden zusammen arbeitet, ein Ungläubiger und kann damit getötet werden.

Allerdings ist Sarkawi möglicherweise typisch für die Unkenntnis über die Terrorszene. Keiner weiß, obgleich man gerade wieder einmal seine Festnahme meldete und gleich wieder dementierte, ob Sarkawi tatsächlich noch lebt. Nach Gerüchten ist er schon tot. Er heißt nicht einmal wirklich so, sondern Ahmed al-Khalayleh - womit er ein Jordanier palästinensischer Abstammung wäre. Hat er ein Bein oder zwei Beine? Sarkawi ist, auch oder gerade weil er zum Hauptfeind der USA im Irak und damit als Nachfolger von Hussein oder gar von bin Ladin erklärt wurde, ein Phantom, ein Medienphantom. Sarkawi wird als Statthalter von al-Qaida im Irak bezeichnet, aber es ist auch die Rede, dass er und seine Gruppe mit bin Ladin und al-Qaida konkurrieren - und zwar schon seit der Zeit, als sich beide in Afghanistan aufhielten.

Neben dieser Suche nach einer Rechtfertigung des Terrors durch eine - übrigens auch von US-Präsident Bush vorgegebene - klare Unterscheidung zwischen "Wir" und den "Anderen", durch eine genauere Selektion der Opfer und eine Werbestrategie für eine über alle Differenzen hinweg einenden Gemeinschaft der Muslims, gehen anonyme Anschläge und Angriffe im Irak weiter, der seit gestern als souverän erklärt wurde. Eine andere islamistische Terrorgruppe hat angeblich, wieder durch ein Video dokumentiert, das von al-Dschasira aber nicht ganz gesendet wurde, den im April gefangen genommenen US-Soldaten Keith Maupin durch Erschießen ermordet. Das sei als Rache für das geschehen, was die Amerikaner den muslimischen Märtyrern angetan hätten.

Terrorismus als Karriere?

Weitgehend unklar scheint es bislang zu sein, wie die im Irak agierenden Widerstands- und Terrorgruppen zusammen hängen oder auch miteinander konkurrieren. Sicher ist nur, dass es unterschiedliche Interessen lokaler, regionaler und internationaler und zudem ideologischer Art gibt, die sich schwer vereinen lassen und deutlich machen, dass der Irak ein schwer zu befriedendes Land ist. Die großen Konflikte zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden haben noch gar nicht statt gefunden, auch nicht die zwischen liberalen, linken oder islamistischen Strömungen. Die militanten Gruppen suchen erst, ihren Ort zu finden. Die installierte Zentralmacht dürfte mindestens eben den Problemen gegenüber stehen, die man auch in Afghanistan beobachten kann. Und die Gefahr ist groß, dass die Islamisten mit ihrem Traum vom Gottesstaat weiter erstarken werden, wenn sie ihre rückwärts gerichtete Utopie auch in Zukunft als "Befreiung" verkaufen können.

Ein Ende des Terrorismus ist, selbst wenn die Koalitionstruppen abziehen würden, nicht in Sicht, sondern ganz im Gegenteil könnte ein weiteres Aufschaukeln durch die Konkurrenz der Gruppen und deren Verbindungen mit kriminellen Organisationen und der Schattenwirtschaft zustande kommen. Das wird vor allem dann der Fall sein, wenn weiterhin Arbeitslosigkeit und Armut das Schicksal weiter Teile der Bevölkerung sind und die USA versuchen, die Geschicke der muslimischen Länder mit Gewalt zu beeinflussen.

Überdies darf man wohl nicht vergessen, dass Widerstand und Terrorismus auch in bestimmten Situationen der Aussichtslosigkeit eine Möglichkeit darstellen, das Leben mit Sinn zu erfüllen und aus der Langeweile zu reißen. Der Gang in den Terrorismus vollzieht sich für die meisten nicht Schlag auf Fall, sondern Schritt für Schritt durch viele Umstände und Erfahrungen, die dann auch extreme und verbrecherische Handlungen zu rechtfertigen scheinen.

Und gerade dann, wenn Terroristen zum Hauptfeind erklärt werden und ihre Taten zum Topthema auf der globalen Bühne werden, dürfte die Versuchung steigen, hier eine Karriere zu finden, die zur Prominenz und damit zur Anerkennung durch Aufmerksamkeit führt. Genau dies scheint das Prinzip unserer Gesellschaften geworden zu sein. Würde man sie nicht als Wissens-, sondern als Aufmerksamkeitsgesellschaft bezeichnen, so könnte man erkennen, dass selbst die islamistischen Terroristen auf der Höhe der Zeit sind. Auch ihnen geht es nicht unbedingt um die Verwirklichung der angeblich anvisierten ideellen Ziele, sondern kurzfristig und ganz egoistisch um Erfolg und Prominenz. Möglicherweise ist der Islamismus also gar nicht das Problem, zumindest nicht für die jungen, aus der Mittelschicht stammenden und gebildeten Terroristen.

Update

Mit der neuen Taktik der Unterscheidung zwischen Muslims und Ungläubigen liegen die Terroristen ganz auf der Linie von einigen muslimischen Geistlichen im Irak, wie sie von Islam Online dargestellt wird. Zwar seien Anschläge gegen die Angehörigen der Besatzungsmacht, um sie zu vertreiben, ganz legitim und von der Religion gedeckt, nicht aber Anschläge auf "unschuldige" Zivilisten. Professor Mohammad Mahrous Al-Azami, Mitglied der Muslim Scholars Association (MSA), findet insbesondere, dass seine Schicht nicht zum Ziel von Anschlägen werden darf: "Das Töten von unschuldigen Zivilisten, besonders von Universitätsprofessoren, Imams und Gelehrten, ist vom Islam verboten und widerspricht wichtigen internationalen Abkommen und dem Wesen der Humanität."

Sheikh Ahmad Hassan Al-Taha, ein anderes Mitglied der MSA, erklärt, dass Angriffe auf irakische Zivilisten und Ausländer, wenn sie nicht den Besatzern helfen, nicht rechtens seien, zudem würden sie Ablehnung zwischen den Irakern schüren und den Feinden in die Hände arbeiten.

Sheikh Othman Mohammad Gharib Al-Hashimi, Professor an der Imam-Hochschule und Imam der Al-Barkah-Moschee in Bagdad, macht dies noch deutlicher. Nach ihm gibt es drei Kategorien für Aktionen des Widerstands. "Legitim und manchmal verpflichtend" sind Angriffe auf die Besatzer. Werden Zivilisten zum Ziel, so ist das "ganz verboten". Bei der dritten Kategorie gehe es um das Abwägen von Vorteilen und Nachteilen, "wenn Besatzungstruppen Zivilisten als Deckung oder Schutz benutzen".

Und die letzten Anschläge im Irak, die viele Todesopfer unter Zivilisten forderten, werden denn auch "ausländischen Kräften", wenn nicht gleich verschwörungstheoretisch den Amerikanern unterstellt. Damit würde das Ansehen legitimer Widerstandsgruppen beschädigt und Konflikte unter den Irakern geschürt werden. Dass die Terrorgruppen nun versuchen, durch Veränderung ihrer Strategie, einer Isolation zu entgehen, dürfte auf diesem Hintergrund noch einmal verständlicher werden.