Exklusiv: EU-RatsprÀsidentschaft reagiert auf Streit um ukrainisches Billig-Getreide
Polen einigt sich mit Kiew im Einfuhrstreit. EU-Dokument zeugt von schwerem Disput in BrĂŒssel. Das ist die Kritik an der schwedischen EU-RatsprĂ€sidentschaft.
Getreide aus der Ukraine darf wieder ĂŒber Polen exportiert werden. Nach zweitĂ€gigen Verhandlungen [1] sind die Regierungen beider LĂ€nder zu einer Einigung gelangt: Die Einfuhr ukrainischer Agrarprodukte bleibt zwar weiterhin untersagt, aber der Transit darf ab Freitag wieder aufgenommen werden. Die Transporte werden kĂŒnftig ĂŒberwacht und versiegelt.
"Wir waren gezwungen, die Grenzen zu schlieĂen, weil die EU die Augen vor den groĂen Getreidemengen verschlossen hat, die nach Polen flieĂen", erklĂ€rte der polnische Landwirtschaftsminister Robert Telus am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Warschau.
Mit der neuen Regelung erhöht sich der Druck auf die EU-Kommission, eine gemeinsame Lösung fĂŒr alle Mitgliedsstaaten der EuropĂ€ischen Union zu finden. Denn neben Polen wagten auch Ungarn und die Slowakei den Alleingang und schlossen die Grenzen fĂŒr Getreide, Ălsaaten und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der Ukraine.
RumĂ€nien könnte dem Beispiel bald folgen, und auch in Bulgarien ist die Forderungen nach einem Importstopp populĂ€r â nur dass man ihn in Sofia nicht im Alleingang verhĂ€ngen möchte, sondern auf eine europaweite Lösung setzt.
In einer E-Mail hatte laut Reuters ein Sprecher der EU-Kommission am Sonntag betont, "dass die Handelspolitik in die ausschlieĂliche ZustĂ€ndigkeit der EU fĂ€llt und daher einseitige MaĂnahmen inakzeptabel sind". Doch Dokumente, die Telepolis und der Berliner Zeitung vorliegen, legen nahe, dass die AlleingĂ€nge auch eine Reaktion auf die UntĂ€tigkeit der EU-Kommission sein könnten.
Am Montag tagte in BrĂŒssel mit dem "Sonderausschuss Landwirtschaft" ein Gremium, welches die EU-Agrarpolitik maĂgeblich beeinflussen kann â es bereitet die Treffen der Agrarminister der EU-LĂ€nder vor. Nachdem Polen und Ungarn mit ihren AlleingĂ€ngen am Wochenende fĂŒr Schlagzeilen gesorgt hatten, wurde am Montag auch die aktuelle Marktlage in den Ukraine-Anrainer-Staaten behandelt.
FĂŒr das Treffen der EU-Agrarminister in der kommenden Woche war das Thema â trotz aller Dringlichkeit â bislang nicht vorgesehen. Die schwedische RatsprĂ€sidentschaft versprach nun allerdings, das Thema auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Damit hĂ€tten die AlleingĂ€nge mehr Wirkung gezeigt als das Einhalten des "Dienstweges".
Denn vor Ostern hatten sich die Regierungschefs der fĂŒnf Ukraine-Anrainerstaaten â Bulgarien, Ungarn, Polen, RumĂ€nien und der Slowakei â in einem Schreiben an die PrĂ€sidentin EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gewandt. Sie argumentierten, dass der Anstieg der Lieferungen beispiellos sei und die abgeschafften Zölle eventuell wieder eingefĂŒhrt mĂŒssten. Ein rumĂ€nischer Diplomat erklĂ€rte am Montag, dass BrĂŒssel bislang nicht darauf reagiert habe.
Im Juni 2022 hatte die EuropĂ€ische Union ihre Einfuhrzölle fĂŒr die Ukraine fĂŒr ein Jahr ausgesetzt. Damit sollte es ermöglicht werden, dass ukrainische Agrarprodukte ihren Weg auf den Weltmarkt auch auf dem Landweg [2] finden können. Es wurden sogenannte SolidaritĂ€tskorridore eingerichtet, ĂŒber welche der Transport abgewickelt werden sollte.
Als man sie einrichtete, waren sich die LĂ€nder der EuropĂ€ischen Union offenbar nicht der logistischen Herausforderungen bewusst, vor die sie gestellt wĂŒrden. Auch die EU-Kommission hatte das AusmaĂ nicht erahnt. Am Montag warfen slowakische Diplomaten den Kommissionsvertretern vor, "die Situation bisher unterschĂ€tzt" zu haben, heiĂt es in dem internen Dokument.
Agenturbericht: GroĂteil des Getreides nach Polen
Reuters berichtete nun, dass seit Beginn des Konflikts rund 17 Millionen Tonnen wichtiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse die Ukraine per Lkw oder Zug verlassen hĂ€tten. Nach Daten des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums sei dabei der gröĂte Teil ĂŒber die Grenze zu Polen gegangen.
Polen, Ungarn und die anderen Anrainerstaaten monierten jedoch, dass die "SolidaritĂ€tskorridore" nicht funktionieren. Stattdessen wĂŒrden die eigenen MĂ€rkte mit den ukrainischen Produkten "ĂŒberflutet", beklagten sie im EU-Sonderausschuss, wie das Protokoll belegt, das Telepolis und der Berliner Zeitung vorliegt.
Gemeint ist damit, dass die Lager in den betreffenden LÀndern voll mit ukrainischem Getreide [3] sind, das aufgrund niedriger Weltmarktpreise und einer geringen Nachfrage nicht ohne Weiteres weiterverkauft werden kann. In der Folge gingen die regionalen Preise in den Keller und beeintrÀchtigten die VerkÀufe der örtlichen Landwirte.
Man sei sich der Folgen fĂŒr die Anrainerstaaten bewusst, erklĂ€rten die Kommissionsvertreter am Montag. In BrĂŒssel weiĂ man darĂŒber Bescheid, dass es auf den Routen zu EngpĂ€ssen kommt, die einen zĂŒgigen Weitertransport der AgrargĂŒter beeintrĂ€chtigen. Einen solchen Flaschenhals stellt etwa der Sulina-Kanal in RumĂ€nien dar. Die EU-Kommission möchte seine KapazitĂ€t im Zusammenspiel mit der Regierung in Bukarest erweitern. In welchem Zeitraum dies realisiert werden soll, ist allerdings unklar.
Kommissionsvertreter skizzierten Ende MĂ€rz bei einem Treffen weitere MaĂnahmen. Eine Machbarkeitsstudie solle etwa klĂ€ren, ob die Spurbreite der Schienenwege in der Ukraine und in der Republik Moldau an die EU-MaĂe angepasst werden könnten. Aber auch das dĂŒrfte kaum zu einer kurzfristigen Entspannung der Lage fĂŒhren.
Bei diesem Treffen wurde seitens der EU-Kommission vorgeschlagen, dass die ukrainischen AgrargĂŒter in Richtung der kroatischen HĂ€fen umgelenkt werden könnten. Die Adria-Route verfĂŒge "ĂŒber betrĂ€chtliche ungenutzte KapazitĂ€ten", hieĂ es, und diese könnten die ĂŒbrigen Transportwege entlasten. In der Praxis scheitert das vermutlich auch an den Kosten, welche die Lieferungen verursachen.
Aber auch die Zielorte dĂŒrften eine Rolle spielen â und bei ihnen gibt sich die EU-Kommission ahnungslos. In einem Papier heiĂt es, einige EU-LĂ€nder hĂ€tten mehrfach den Wunsch geĂ€uĂert, ein klares Bild ĂŒber die ZiellĂ€nder des Getreides zu bekommen. BrĂŒssel habe daraufhin versucht, Informationen von den einzelnen EU-Staaten zu bekommen. Doch von ihnen hĂ€tten nur zehn reagiert. Ein verlĂ€ssliches Bild lasse sich so nicht gewinnen, ist das Fazit der BrĂŒsseler Behörde.
Statt kurzfristige Lösungen fĂŒr die entstandenen Probleme zu erarbeiten, appelliert die EU-Kommission an die einzelnen Ukraine-Anrainer-Staaten. Einseitige MaĂnahmen könnten Russland begĂŒnstigen, erklĂ€rten ihre Vertreter. Und sie betonten, dass ukrainisches Getreide auch fĂŒr die EuropĂ€ische Union wichtig sei, in Ungarn etwa als Futtermittel.
Die Ăbereinkunft zwischen Warschau und Kiew bedeutet das teilweise Ende der Blockade. Ob andere Anrainerstaaten dem Beispiel folgen werden, ist noch nicht bekannt. Die Vereinbarung stĂ€rkt aber keineswegs die Position der EU-Kommission, sondern hebt vielmehr hervor, dass schnelle und praktikable Lösungen nicht von BrĂŒssel zu erwarten sind.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung.
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[1] https://www.heise.de/tp/article/Importverbot-fuer-ukrainisches-Getreide-Trotz-Verhandlungen-kein-Ende-des-Streits-in-Sicht-8969380.html
[2] https://www.reuters.com/markets/commodities/why-have-some-eu-countries-banned-ukraine-grain-imports-2023-04-17/
[3] https://www.reuters.com/world/europe/poland-ukraine-resume-grain-transit-talks-2023-04-18/
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