Exodus der Parteikader in die Freiheit
Eine Zwischenbilanz der Korruption im gegenwärtigen China
Es gibt Leute, die meinen, dass die wirtschaftliche Landschaft im heutigen China in vieler Hinsicht jener des Manchester-Kapitalismus nicht unähnlich sei. Man befände sich sogar in einer Phase der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Natürlich bezieht man sich dabei nur auf das "Phänomen" im allgemeinen Sinne. Immerhin leben wir schon im 21. Jahrhundert. Auch das Phänomen, dem sich dieser Bericht zuwendet, hat mehr oder weniger mit einer Akkumulation von Kapital zu tun. Interessant aber ist, wo und wie dies geschieht?
Der zweiwöchentlich erscheinenden chinesischen Zeitschrift Banyuetan zufolge (deren erste Nummer im Juni 2003 herauskam) sind seit der Öffnung des Landes mindestens 4.000 hohe Funktionäre Chinas unter Mitnahme von insgesamt fünf Milliarden US-Dollar ins Ausland gegangen.
Die Hongkonger Tageszeitung Wenweipo zieht am 4. Februar 2004 eine "chinesische Quelle" heran: Allein im ersten Halbjahr 2003 hätten mehr als 8000 korrupte Parteikader die Flucht ins Ausland ergriffen, die genaue Summe der mitgenommen Gelder ist unbekannt.
Die dem chinesischen Ministerium für öffentliche Sicherheit unterstehende Abendzeitung Fazhi Wanbao berichtet am 23. Juli 2004, dass nach einer Pressemitteilung desselben Ministeriums ca. 500 Kader mit mehr als 70 Milliarden yuan (ca. 7 Milliarden Euro) China verlassen haben.
Am 16. August 2004 veröffentlicht dieselbe Fazhi Wanbao zum ersten Mal die offizielle Statistik des chinesischen Wirtschaftsministerium: Geflüchtet seien mehr als 4.000 Kader mit 50 Milliarden US-Dollar. Mit anderen Worten: Durchschnittlich hat jeder mehr als zehn Millionen US-Dollar mitgehen lassen.
Die Frage, welche Statistik annähernd der Wahrheit entspricht, sei erst mal dahin gestellt. Wir können uns einem anderen Fakt zuwenden: Seit Oktober 2003 können Festlandchinesen von vielen Städten aus direkt nach Hongkong reisen, eine Errungenschaft, die mit dem volkstümlichen, schönen Namen "Freiheitsreise" belegt wurde. 800 Kader haben bis dato diese Chance genutzt, um über Hongkong (oder Macao) in die Freiheit, d.h. nach Westen zu gehen.
Man fliegt nämlich von Hongkong aus ganz problemlos direkt in die Länder des Commonwealth, wo man dann das Visum unmittelbar bei der Einreise beantragen kann - selbstverständlich zuerst als "politischer Flüchtling". Von dort aus geht in der Regel die Reise weiter nach Amerika oder Europa. Man nennt dies in China inzwischen den "Dreisprung". Allein vom 3. bis 5. August 2004 wurden in Shanghai, Peking und einigen anderen Städten mehr als 60 "große Tiere" auf Flughäfen festgehalten. Unter ihnen hatte einer 600.000 Euro im Koffer, und er war derjenige, der am wenigsten Bargeld bei sich hatte. Dass manche so viel Bargeld auf einmal ausführen dürfen, legt die Vermutung nahe, das Personal des Zolls sei gekauft.
Um noch einmal auf den Begriff "politischer Flüchtling" zurückzukommen: Derartige "politische Flüchtlinge" aus China sind nicht etwa jenen vergleichbar, die eigentlich nur aus wirtschaftlicher Not im Mittelmeer unterwegs sind und dann z.B. an der italienischen Küste stranden. Deren Schicksal ist oft auf tragischste Weise prädestiniert. Die "Flüchtlinge" aus China dagegen sind vermutlich in der Regel willkommene Gäste: Sie haben "Kohle", haufenweise!
Wie viele Kader mit wie viel aus Korruptionsaffären stammendem oder unterschlagenem Geld tatsächlich Reißaus genommen haben, weiß eigentlich keiner. Eins steht aber fest: Selbst jene 50 Milliarden US-Dollar, von denen die Statistik des Wirtschaftsministeriums ausgeht, machen nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtsumme der veruntreuten Gelder in China aus. Seit einigen Jahren ist es übrigens keine Seltenheit mehr in China, dass sich Kader und Firmenbosse wegen Veruntreuung hoher, meist in die Millionen gehender Beträge vor Gericht verantworten müssen. Wohl gemerkt: Es handelt sich dabei natürlich nur um die Spitze des Eisbergs, also Fälle, die aufgedeckt wurden.
"Route Map" der Flucht
Eine Zäsur auf dem Wege zur fast schon massenhaft zu nennenden Flucht korrupter Kader bildet das Jahr 2000, in dem ein Vizeprovinzgouverneur wegen enormer Veruntreuung entsprechend den Bestimmungen des chinesischen Rechts zum Tode verurteilt wurde. Diese als "Einschüchterung" verstandene Verurteilung und die immer häufigeren Prozesse haben die Fluchtwelle ausgelöst. Die Protagonisten sind in vielen Fällen Bosse der großen Staatsunternehmen. Eine Statistik der Pekinger Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2001 zeigte bereits, dass 70% der sich laufenden Verfahren durch die Flucht ins Ausland entziehenden Angeklagten Manager oder Buchhalter von Staatsunternehmen waren, also allesamt Personen, die "das Parteibuch" haben müssen. Die zweite große Gruppe Fersengeld gebender Angeklagter waren Funktionäre der Provinzregierungen, die in bezug auf die Genehmigung von Staatsaufträgen viel Macht haben.
Allgemein gesagt kann man von drei Arten der Flucht sprechen: Die erste Variante ist jene, bei der die Flucht langfristig vorbereitet bzw. nach einem durchdachten Plan realisiert wird. Man schickt zuerst die Ehefrau und Kinder ins Ausland; verlegt langsam das Geld auf ein Konto im Ausland, kündigt dann und geht zwecks "Familienzusammenführung" ins Ausland. Im zweiten Szenario wird die Flucht erst nach der Entdeckung einer "Ungereimtheit" ergriffen; man hat nun zwar nicht so viel Zeit zum Fliehen, muss sich manchmal erst einmal an einem unbekannten Ort verstecken; aber der Rückzugsweg und die falschen Pässe sind schon längst parat. Die dritte Möglichkeit ist die bequeme Dienstreise ins Ausland, was dann einen endgültigen Abschied von China bedeutet.
Die Zeiten haben sich geändert. Im Vergleich zu den früheren, mehr oder weniger durch politische Verfolgung ins Exil gezwungenen Flüchtlingen haben die heutigen Kader Zeit und bewahren oft auch Gelassenheit bei ihren Planungen. Manche geben offenkundig nicht erst im letzten Moment Fersengeld und haben in der Regel auch von Anfang an den Westen im Auge, indem sie ihre Kinder zum Auslandsstudium nach Westen schicken - oder auch Kinder und Frau zusammen in die investment migration.
Paradiese für investment migration, bei denen die Einwanderung für "vermögende Chinesen" besonders einfach ist, sind Australien und Kanada. Ein begehrtes Ziel sind auch die USA. Wenn also korrupte Kader genügend Staatseigentum auf ihr privates ausländisches Konto überwiesen haben oder auch, wenn sie bemerken, das es inzwischen für sie kritisch wird, machen sie sich aus dem Staube. Eine Greencard haben ihre Familienangehörigen sowieso schon längst in der Tasche. In der chinesischen Kriegskunst heißt es ja nicht von ungefähr: Bingma weidong, liangcao xianxing, zu Deutsch: Der Provianttross geht voraus, bevor die Truppen in Marsch gesetzt werden.
Ein chinesischer Reporter berichtete kürzlich aus den USA: Auf dem größten Flughafen der amerikanischen Westküste, dem Los Angeles International Airport, machen Flüge zwischen China und den USA seit einiger Zeit den größten Anteil aller Starts und Landungen aus. Die chinesischen Studenten (und jene, die sich für Studenten ausgeben) sind hier inzwischen nicht mehr wieder die vor zwanzig Jahren, welche mit ein paar hundert US-Dollar im Portemonnaie ankamen und oft richtig schäbig aussahen. Heutzutage sitzen manche dieser "Studenten" in der First Class. Wenn dann eine "alleinerziehende Mutter", die gerade mit ihrem "Halbwaisen" aus China ankam, einfach so mit Bargeld eine Villa im Wert von einigen Millionen US-Dollar kaufen kann, lässt das ihre amerikanischen Nachbarn schon große Augen machen. Denn diese müssen ihre Wohnungen oft das ganze Leben lang in Raten abzahlen. Die amerikanische Presse bezeichnet solche chinesischen Studenten, die mit Vorliebe Mercedes oder sogar Lincoln fahren, als "rich kids from Mainland China". Wie man weiß, gibt es in New York bereits Villenviertel von Chinesen.
Ein langjähriges Projekt
Für einen chinesischen Kader heißt die Vorbereitung oder Projektierung der Flucht: Bestimmung des Fluchtziels, Transfer des Geldes, Beschaffung eines Passes (oder der Pässe). Wenn Macht ein "Synonym" von Geld ist, scheint der Transfer einer hinreichenden Summe kein großes Problem zu sein. Pässe (korrekte oder auch gefälschte) zu erhalten, ist eine Frage des Schmiergelds oder von Beziehungen. Bei dem Exgouverneur der Provinz Yunnan, der wegen Korruption angeklagt wurde, fand man, als er verhaftet wurde, fünf unterschiedliche Pässe. Das Ausreiseziel aber muss mit größter Sorgfalt studiert werden, denn hier will die Frage der "Vorhut" und des "Proviants" berücksichtigt sein. Man wählt zumeist jene Länder, die mit China keinen Auslieferungsvertrag unterzeichnet haben.
In der Vergangenheit entschlüpften korrupte Kader meist nur aus dem einfachen Grund, so nicht verhaftet zu werden. Manche versteckten sich z.B. für längere Zeit in abgelegenen Gebirgsgegenden West-Chinas oder arbeiten sogar unter falschem Namen als Bergarbeiter unter Tage. Viele flüchteten auch in Nachbarländer wie Thailand und Burma. Heutzutage interessiert solche Leute die Dritte Welt nicht mehr, noch weniger das Hundeleben im Wald. Sie haben vor allem Nordamerika im Visier, wo sie mit ihrem transferierten Vermögen ein paradiesisches Leben führen können. Also ein amerikanischer Traum, verwirklicht über das Parteibuch, auf dem Wege der Korruption.
Der Devisenhandel (foreign exchange) ist in China immer noch unter "strenger" Staatskontrolle. Daher kommt nicht jeder an Devisen. Zu diesem Zweck kooperiert man mit so genannten "ausländischen" Firmen, die den "chinesischen Partnern" fingierte Lieferscheine und Rechnungen ausstellen, auf deren Basis letztere dann offiziell yuan in Dollar (oder Euros) eintauschen und ins Ausland überweisen können. Im Zweifelsfall (und wenn es um bescheidenere Summen geht) hat man doch auch Kinder im Ausland, die für ihr Studium, ihre Versicherung oder alle anderen möglichen Angelegenheiten Devisen brauchen. Dies ist der Weg, auf dem Privilegierte an harten Währungen kommen. Eine andere Methode ist jener, dass man mit "eigenem" (aus Bestechungen und/oder Veruntreuungen stammenden) Geld im Namen des Staatsunternehmens im Ausland "investiert" oder einfach einen Teil des Unternehmenskapitals des Staatsbetriebs einsetzt, der dann auf irgendeinem Konto der eigenen Kinder im Ausland landet.
Nach einer vor kurzem veröffentlichten Statistik machen nicht wenige Niederlassungen chinesischer Staatsunternehmen in den USA ein Minusgeschäft. Aber auch nicht wenige Chefs dieser Firmen - oder ihre Kinder - sind schon längst zu Millionären auf amerikanischem Boden geworden. Doch nicht nur Tochterunternehmen, auch die auf dem chinesischen Festland operierenden Stammfirmen, sind vor Versuchungen nicht gefeit. So haben seit einigen Jahren nicht wenige staatliche Handelsunternehmen, bevor sie bankrott gingen, bereits beachtliche Teile ihres Kapitals (und realisierte Profite) ins Ausland verlagert, selbstverständlich auf private Konten.
Geldwäsche unterschiedlichster Arten
Die geläufigste Spielart der Geldwäsche realisiert man offenkundig über die "rich kids from Mainland China". Im Jahr 2000 wurde im Zuge laufender Ermittlungen bei einem Herrn Xia Yurong, seines Zeichens Chef-Ingenieur eines Unternehmens in Anshan, eine Brieftasche gefunden, in der sich eine Aufstellung seines Privateigentums in Höhe von 14 Millionen yuan befand. Dieses Eigentum sollte sein in Australien studierender Sohn dort investieren. Es finden sich natürlich auch Kavaliere wie der inzwischen berühmte Cheng Kejie, der eine Riesensumme unter dem Namen seiner in Hongkong lebenden Geliebten bei den dortigen Banken deponiert hatte. Es war übrigens derselbe Cheng, der leider die Herstellung guter Kontakte zu ausländischen Banken versäumt hatte und sich für den Geldtransfer einer Untergrundbank bedienen musste. Für den Transfer des ganzen veruntreuten Geldes im Wert von 41,09 Millionen yuan nach Hongkong musste er 11,5 Millionen yuan Provision zahlen, also mehr als ein Viertel der "Kohle"! Ihm tat das seinerzeit nicht besonders weh, weil er noch mehr "Kohlengruben" kannte.
Die Geldwäsche floriert in China. Der Presse zufolge werden jedes Jahr ca. 200 Milliarden yuan über Untergrundbanken ins Ausland transferiert, davon stammen, so heißt es, 70 Milliarden aus dem Schmuggelgeschäft, 50 Milliarden fließen aus dem den Kadern (wenn sie nur korrupt genug sind) zur Verfügung stehenden "Geldhahn"; die Herkunft der übrigen Summe hat mit der Steuerhinterziehung chinesischer privater sowie ausländischer Unternehmen zu tun. In China selbst scheint es übrigens für einen Kader nicht so ganz einfach zu sein, persönlich eine beachtliche Summe auf einmal zur Bank zu bringen. Aber man findet schon Möglichkeiten, wie zum Beispiel jene, einen Verwandten (normalerweise gegen eine ebenfalls beachtliche Provision) zu beauftragen, ein Konto bei einer Bank zu eröffnen. Manche dieser Kader gehen auch mit einem professionell gefälschten Personalausweis zu einer Bank in einer anderen Stadt.
Wieder andere Kader benutzen eine andere Strategie: Sie veruntreuen so viel wie sie können und lassen sich bestechen, wo immer sie sind. Nachdem sie genügend Nervus rerum gesammelt haben, "gehen sie ins Meer" - xiahai heißt das in (neu-)modischem Chinesisch und meint die Entscheidung derjenigen, die in der Verwaltung oder für Staatsbetriebe gearbeitet haben und sich dann selbständig machen. Ein auffälliges Merkmal derartiger "Geschäftsleute" ist es, dass sie in diesem Meer der Selbständigkeit von Anfang an normalerweise sehr gut schwimmen können. Im Gegensatz zu den anderen privaten Unternehmern, die oft ungern ihren Reichtum offen legen, protzten diese Typen von Xiahai-Unternehmern gern damit, dass sie jeden Tag einen Haufen Geld verdienen - und dies unabhängig davon, ob sie eine eigene Firma gegründet haben oder an der Börse spekulieren, ob sie jetzt dabei Geld verdienen oder aber de facto ein Minusgeschäft machen. Auf jeden Fall müssen sie ja ihre schwarze Kasse "rehabilitieren". Sie fürchten nur eins, dass die anderen nicht wissen, wie tüchtig sie auch als Geschäftsleute sind.
Ziemlich populär ist auch, dass man weiter hohe Ämter bekleidet und nur die eigenen Familienangehörigen Firmen gründen, wobei man sie auch Entertainment-Salons oder Restaurants eröffnen lässt. Die wirkliche Geldquelle befindet sich natürlich woanders. Manche Regierungsbeamten oder Chefs von Staatsunternehmen gründen de facto auch eigene Firmen, bleiben dabei aber im Hintergrund und lassen Dritte als Eigentümer auftreten. Sie aber sind diejenigen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen. Auf diese Weise können sie in der Tat zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: auf der einen Seite können sie Geld waschen, auf der anderen Seite verdienen ihre Firmen zusätzlich noch Geld - dies nicht zuletzt dank ihrer Beziehungen.
Aufgelistet sind hier nur einige Variationen der Geldwäsche. Natürlich sind damit längst noch nicht alle Möglichkeiten abgedeckt.
Zweiter Teil demnächst: Auf in die Freiheit!