Fachkräftemangel und Inflation: Fatale Fehldiagnosen
- Fachkräftemangel und Inflation: Fatale Fehldiagnosen
- Die Mär von der Arbeitskräfteknappheit
- Einwanderung und Arbeitskräftemangel: Noch mehr Schizophrenie geht kaum noch
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Wie sich eine Gesellschaft selbst belügt und warum die EZB-Spitze und die deutsche Einwanderungspolitik völlig daneben liegen. Der Kern der dahinterstehenden Interessen, der kaum angesprochen wird.
Manchmal kann man an einer ganz einfachen Aussage schlagartig erkennen, wie sich eine Gesellschaft selbst belügt, um unangenehmen Zusammenhängen aus dem Weg zu gehen. So ist es mit der Inflation - und so ist es mit der Arbeitslosigkeit.
Ein Jahr mit hohen Preissteigerungen, üblicherweise "Inflation" genannt, hat die Gesellschaft und die Politik zum Beben gebracht, vierzig Jahre Arbeitslosigkeit dagegen werden einfach zur Seite geschoben, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen.
Das Mitglied im Direktorium der EZB, Isabel Schnabel, hat in einem bemerkenswerten Interview einen tiefen Einblick in ihr ökonomisches Weltbild geboten (Friederike Spiecker hat das ausführlich hier besprochen).
Das Ergebnis ist schockierend. Frau Schnabel verteidigt nicht nur die völlig gescheiterte Lehre des sogenannten Monetarismus, auch ihr Geschichtsbild in Sachen Arbeitslosigkeit zeichnet sich durch große Unkenntnis aus. Beides ist fatal, weil die Irrlehren, die man aus der Geschichte zieht, häufig unmittelbar die Fehler erklären, die man in der Gegenwart macht.
Mehr als erstaunlich ist, wie Frau Schnabel die Lage am Arbeitsmarkt in den 1970er-Jahren im Vergleich zu heute sieht. Sie sagt:
Wir haben vor allem einen ungewöhnlich starken Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit ist – und das ist ein riesiger Unterschied zu den 70er-Jahren – auf einem historischen Tiefststand im Euroraum. Wir haben große Arbeitskräfteknappheit. Gleichzeitig heißt das aber natürlich auch, dass in diesem Verhandlungsprozess die Arbeitnehmer mehr Verhandlungsmacht haben (…)
Isabel Schnabel, EZB
Das ist für ihr Urteil über die Reaktion der Arbeitnehmer auf die derzeitigen temporären Preissteigerungen mehr als problematisch. Herrscht im gesamten Direktorium der EZB diese (vollkommen falsche) Auffassung, erklärt das die Fehleinschätzung der EZB hinsichtlich der Dauer und der Gefahr der temporären Preissteigerungen.
Nun hat die EZB sogar erneut die Zinsen angehoben, obwohl die Gefahr des Entstehens einer wirklichen Inflation inzwischen weitgehend gebannt ist (wie hier zuletzt gezeigt).
Die Klage über den Fachkräftemangel
Die EZB ist mit diesem Fehlurteil aber keineswegs allein. Immer wieder hört man insbesondere in Deutschland, es gebe derzeit einen besonders großen Fachkräftemangel und selbst solche Stellen, die nur eine geringe Qualifikation verlangten, seien kaum zu besetzen.
Das mag in den Augen von Unternehmen so sein, die es gewohnt waren, vom Arbeitsamt immer sehr schnell die Qualifikationen "geliefert" zu bekommen, die sie gerade brauchen. In den Augen eines Unternehmers, der die 1970er-Jahre miterlebt hat, ist die Aussage, es gebe heutzutage einen Arbeitskräftemangel, ein schlechter Witz.
Arbeitsmarkt: Der elementare Unterschied zu den 1970ern
Vor der ersten Ölpreisexplosion im Jahre 1973 hatten Deutschland und die halbe Welt 20 Jahre eines Superbooms hinter sich, der, wie das Statistische Bundesamt gerade in einer historischen Statistik für Deutschland gezeigt hat (Abbildung), zu Beginn der 1970er-Jahre noch einmal Fahrt aufnahm.
Die Lage am Arbeitsmarkt war sehr übersichtlich. In Deutschland gab es etwa 100.000 Arbeitslose und etwa eine Million offener Stellen, also ein Verhältnis von eins zu zehn. Es war praktisch keine Arbeitskraft zu finden, weil der Großteil der 100.000 Personen, die überhaupt arbeitslos gemeldet waren, beim Arbeitsamt nur kurz vor der Aufnahme einer neuen Stelle registriert war.
Heute gibt es etwa 2,5 Millionen offiziell gezählte Arbeitslose und rund 800 000 (ebenfalls offiziell gezählte) offene Stellen. Das ist ein Verhältnis von drei zu eins. Wer ein Verhältnis von eins zu zehn mit einem Verhältnis von drei zu eins vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, im zweiten Fall herrsche eine "historische" Arbeitskräfteknappheit und die Arbeitnehmer hätten deswegen heute mehr Verhandlungsmacht, liegt fundamental falsch.
Furcht vor einer Lohn-Preis-Spirale wird geschürt
Auf der Basis dieser Fehldiagnose kommt die EZB offenbar dazu, die Furcht vor einer Lohn-Preis-Spirale zu schüren, die völlig unbegründet ist. Nicht nur wegen des umgekehrten Verhältnisses von offenen Stellen zu Arbeitslosen, sondern auch wegen vieler bewusster politischer Aktionen während der Jahrzehnte des Neoliberalismus ist die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in ganz Europa massiv geschwächt.
Nicht zuletzt unter Rot-Grün wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts mit der Hartz-IV-Gesetzgebung der Gewerkschaftsbewegung und der Fähigkeit der Gewerkschaften, ihre Mitglieder für Streiks zu mobilisieren, im größten Land der Währungsunion ein schwerer Schlag versetzt (dazu hier ein Text aus dem Jahre 2004).
Ist das alles an Isabel Schnabel vorbeigegangen? Wenn ja, hat sie an der Stelle, an der sie sitzt, nichts verloren.
Man fragt sich allerdings, wie die Wirtschaft zu Beginn der Siebzigerjahre überhaupt kräftig wachsen konnte, wo es doch im Vergleich zu heute keine Möglichkeit gab, von außen Arbeitskräfte zu rekrutieren.
Die Antwort ist einfach.