Fakestorm
Eine Social-Media-Geschichte
Ich war selbst schuld. Ich war der Grund, warum die Welt so funktionierte, wie sie funktionierte. Ich hatte es ermöglicht. Ich war stolz drauf. Ich war selbst schuld.
Aber der Reihe nach.
Es war im zweiten Jahr meines Informatikstudiums. Künstliche Intelligenz war gerade hoch angesagt, galt, wie viele andere Technologien auch als heißer Scheiß. Entsprechend setzte sich jeder damit auf irgendeine Art und Weise auseinander. Eigentlich niemandem ging es um bahnbrechende, wissenschaftliche Leistungen und Erkenntnisse, wie sie im universitären Umfeld vor Jahrzehnten noch erwartet wurden.
Warum auch? Wegen der Anerkennung? Pah. Von Anerkennung allein kann niemand leben. Die Social-Media-Imposter waren der lebende, virale, widerliche Beweis. Erst eine Schar Jünger um sich herum versammeln, danach die Bekanntheit steigern und dann so viel Kohle scheffeln, wie irgend möglich.
Moral? Nicht existent. Sie melkten die Industrie wie eine Kuh, quetschten ihre Jünger aus wie eine Zitrone. Sie unterschieden sich nicht von Sekten und Gurus, wie es sie schon Jahrzehnte zuvor gegeben hat. Nur ihre Plattform hatte sich geändert. Damit allerdings auch die Reichweite und die wahnwitzige Menge Geld. Aber ich schweife ab.
Die meisten meiner Mitstudierenden jagten einfach irgendwelche Daten durch künstliche neuronale Netzwerke, trainierten zahllose Modelle, suchten bislang unangetastete Märkte und Nischen, in der Hoffnung, dort das nächste, das einzige, das letzte Einhorn zu erschaffen. Ein paar Ergebnisse waren nicht schlecht. Im Gegenteil. Einigen wenige waren richtig gut.
Ihre Schöpfer scheiterten in aller Regel aber an der dauerhaften Finanzierung. Ihnen gelang einfach der finanzielle Durchbruch nicht. Und anstelle eines lukrativen Verkaufs samt High-Society-Lebens besannen sich fast alle auf das Bodenständige. Sie wechselten in die Industrie, verdingten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie anderen ihre Arbeits- und Schaffenskraft in Rechnung stellten.
Ich ging einen anderen Weg. Anstatt das Neue, das Bahnbrechende zu erschaffen, nahm ich einfach das, was vorhanden war. Ich kombinierte es zu einer Gesamtlösung. Ich machte kein großes Aufsehen darum, bot es stattdessen als bequeme, online bestellbare, jederzeit abrufbare Dienstleistung an: Fakestorm.
Fakestorm war natürlich nicht der offizielle Name. Das war mein Spitzname dafür. Ich hatte mir für den Markt eine weniger reißerische Bezeichnung zurechtgelegt, die weder anrüchig noch provokant klang: Metafluensia.
Metafluensia hatte mich innerhalb von wenigen Monaten in die inoffizielle Top 30 der reichsten Menschen gehoben. Ich hatte für den Rest meines Lebens und das meiner potenziellen Kinder und Kindeskinder ausgesorgt. Ich hätte, wie Bill Gates und andere, locker 99 Prozent meines Vermögens spenden und immer noch sorgenfrei leben können.
Was aber ist Metafluensia? Es ist eine Propagandamaschinerie. Es ist Propaganda-as-a-Service. Es ist lächerlich einfach zu bedienen. Es funktioniert wortwörtlich mit wenigen Klicks. Die Kunden wählen eine oder mehrere Personen aus. Dann entscheiden sie sich für ein Thema. Und die Propagandamaschine läuft los.
Zuerst startet die Recherche. Metafluensia durchwühlt dazu die sozialen Netzwerke, greift sowohl auf öffentliche als auch privat zugängliche Daten zu. Es ordnet einzelne Personen sowie kleine, mittlere und große virtuelle und reelle Gruppen zu attribuierten Meinungsblasen. Ich nenne sie liebevoll Chargen.
Chargen reagieren auf bestimmte Themen besonders intensiv. Dabei reicht es aus, einen Begriff nur zu erwähnen, ihn in eine rhetorische Frage zu verpacken, einen Zweifel an der Wahrheit zu äußern. Und schon ist die gesamte Charge mobilisiert, streut die Information, rennt auf die Straße, campiert vor Häusern.
Der nächste Schritt: Fake it. Zuerst nutzte ich GPT-3, ein Sprachmodell, um Texte zu generieren, die so klingen, als hätte ein echter Mensch sie formuliert. Dabei ging es nicht um Poesie oder Aufsätze, Roboterjournalismus oder Content-Produktion. Ich ließ schlicht kurze Phrasen generieren, die aus einer Handvoll Sätzen bestand. Der Clou: Egal wie verschwurbelt oder wie klar die Phrasen waren, sie funktionierten innerhalb der Chargen immer. Wirklich immer.
Jetzt folgte die Visualisierung. Dazu griff ich ein Modell auf, das die Stimmen beliebiger Personen analysieren und reproduzieren konnte. Je bekannter die Person, desto mehr Datenfetzen lagen zum Training der reproduzierten Stimme vor. Von der reproduzierten Stimme ließ ich dann die Phrasen aufsagen. Hier ein wenig Hintergrundrauschen dazu, dort die Geräusche einer lauten Versammlung drübergelegt. Fertig. Schon konnte niemand mehr heraushören, ob das Gesprochene echt oder generiert war.
Allerdings reichte Ton nicht aus. Selbst mit Bildmaterial kombiniert reichte es nicht. Es musste Bewegtbild sein. Es musste Video sein. Keine langen Videos. Die Aufmerksamkeitsspanne der Chargen war ohnehin kurz. Je kürzer ein Video, desto schneller verbreitete es sich, desto viraler ging es ab.
Dankbarerweise hatten große Technologiehersteller bereits gezeigt, wie einfach es ist, in Echtzeit Gesichter in Videos zu fälschen. Und wieder dasselbe Prinzip: Hier einen einfachen Videofilter drüberlegen, dort einen anderen Hintergrund einbauen. Fertig ist der Fake. Wenn das nicht ausreichte, dann lief eben die Renderfarm an. Sie war in der Lage, Personen in beliebigen Situationen lebensecht zu rendern. Diese ließ ich dann die Phrasen sprechen. Die Illusion war perfekt.
Ja, klar, einer forensischen Analyse und einem Faktencheck hätten diese Fakes niemals standgehalten. Aber für Forensik und Fakten interessierte sich in den Chargen niemand. Lief der Shitstorm, dann ergoss er sich. Flaute er ab, kippte ich gegen Bezahlung ein paar weitere Kübel Dreck hinterher und ließ die Chargen damit wieder aufkochen.
Ich konstruierte Lügen. Ich vernichtete Wahrheiten. Ich zerstörte Existenzen. Das lief so gut, dass ich zahlreiche Nachrichtenwebseiten, Fernsehsender und Filterblasen auf der gesamten Welt etablierte. Sogar eigene asoziale Netzwerke hob ich aus der Taufe, nutzte dazu Gruppenfunktionen von Messengern. Die Social-Media-Stars auf den neuesten Plattformen? Alles Fake, von mir erschaffen. Viele existierten nicht als reale Person, waren vollständig virtuelle Kreationen von mir.
Ich war selbst schuld. Eigentlich gab es einen Verifizierungsschritt. Jeder Fakestorm musste von einem meiner engsten Mitarbeitenden – ich nannte sie Generals und Lieutenants – freigegeben werden. Aber mein kleingeistiger, geldgieriger Ehemann hinterging mich. Er bestellte einen Fakestorm gegen mich, bezirzte einen General den Fakestorm freizugeben, um mich loszuwerden.
Nun stieg ich gerade ins Fahrzeug von Interpol ein. Auf Handschellen hatten sie verzichtet. Die nächsten Tage und Wochen würde ich in Untersuchungshaft verbringen. Bei meinem Kontostand vermutlich ausreichend luxuriös. Es würde einen Prozess geben. Den ich gewinnen würde. Meinen kleingeistigen, erbärmlichen Mann würde es den Kopf kosten. Denn der Idiot hatte nicht begriffen, dass ich Metafluensia noch effizienter würde einsetzen können als er.
Ich hatte mich für solche Fälle gewappnet, einen Fakestorm vorbereit. Dieser löst automatisch aus, sollte ich ihn nicht innerhalb einer bestimmten Frist stoppen.
Zehn Tage. Länger wird es nicht dauern, bis die Anklage fallen gelassen und niemand mehr über MICH spricht wird.