Fakten spielen keine Rolle
Kognitive Dissonanz sorgt dafür, dass wir politische Gegenargumente gar nicht wahrnehmen. Wie ist dann eine offene Debatte möglich?
Meine Großfamilie mütterlicherseits unterhält eine WhatsApp-Gruppe, auf der es gelegentlich lebendig zugeht. Insbesondere dann, wenn wir den Fehler machen, politische Themen nicht zu umkurven. Vor einigen Monaten hatte ich da folgenden Wortwechsel mit einem lieben Onkel.
Was war passiert? Mein Onkel hat eine sehr gefestigte Meinung. Der Telepolis-Artikel, den ich ihm perfide untergejubelt habe, beweist, dass er sich irrt. Das gefällt meinem Onkel nicht, so wenig wie es jedem anderen Menschen gefallen hätte. Die neue Information verursacht demnach einen Zustand, den Psychologen "kognitive Dissonanz" nennen. Und er reagiert darauf wie aus dem Lehrbuch: Die inkompatible Information wird mit einem völlig irrationalen ad hominem-Argument entwertet. Das Weltbild ist gerettet.
Die Trauben sind sauer!
Kognitive Dissonanz tritt bei vielen Gelegenheiten auf. In der einfachsten Form stört sie das Lesen beim Stroop-Test: Farbwörter, die eine andere bedeuten als die Farbe, in der sie gedruckt sind, lesen wir langsamer und mit mehr Fehlern. Doch nicht nur unsere Wahrnehmungen, auch unsere Vorlieben können einen inneren Widerstreit auslösen. Das hat schon Äsop gewusst, als er die Fabel vom Fuchs und den sauren Trauben ersann. Wissenschaftler nennen das Phänomen "choice-induced preference change", also "Entscheidungs-induzierte Änderung der Vorlieben".
Im Experiment lässt man die Versuchspersonen zunächst eine Reihe von Wahlmöglichkeiten in derselben Kategorie beurteilen - also z.B. verschiedene Nahrungsmittel. Wie gerne mögen Sie Sushi, Broccoli, Schokoladenpudding, Kuttelnsuppe? Dann werden sie vor die Wahl gestellt. Manchmal ist die Auswahl einfach, weil die beiden Lebensmittel sehr unterschiedlich bewertet wurden. Mal schwer, weil die Wertung fast gleich war. Aber entscheiden muss man sich.
Etwas zurückzuweisen, was man eigentlich gerne mag - jedenfalls ebenso gerne wie die Alternative - fällt schwer. Es verursacht kognitive Dissonanz: Ich mag es, aber ich will es nicht. Die Folge kann man in der nachfolgenden, erneuten Befragung beobachten: Diejenigen Optionen, die in schwierigen Entscheidungen abgelehnt worden waren, rangieren jetzt deutlich weiter unten in der Präferenz. Wenn ich mich gegen das Thaicurry entschieden habe, dann, so schließt etwas in mir, mag ich es auch gar nicht so gern.
Dieser Effekt ist auch für die sogenannten Neuroökonomen interessant, untergräbt er doch das Ideal vom rational entscheidenden Homo oeconomicus. Dieser sollte seine Entscheidungen nach seinen Vorlieben richten. Tatsächlich aber ist es ebenso auch umgekehrt.
Wie die Wertung geändert wird, das kann man sogar im Gehirn beobachten: Abgelehnte Alternativen aktivieren den Nucleus accumbens, das sogenannte "Belohnungszentrum", später schwächer als vorher. Sie werden also als weniger verlockend bewertet oder wahrgenommen. Dieselbe Studie stellte auch fest, dass Bereiche des Stirnhirns umso aktiver waren, je größer die kognitive Dissonanz. Das galt u.a. für das seitliche Stirnhirn, das mit Selbstkontrolle und moralischen Entscheidungen zu tun hat. Es hat zu arbeiten, um die inneren Rechtfertigungsprozesse wieder gängig zu bekommen.
Politik ist ernst
Trotzdem fahren wir nicht gleich aus der Haut, wenn wir uns zwischen Lasagne und Gado-Gado entscheiden müssen, oder unterstellen dem Koch antisemitische Einstellungen. Essen ist - für die meisten von uns - nicht so wichtig. Ganz anders sieht es aus, wenn es um Politik geht. Ob ich Militäreinsätze befürworte oder die Agenda 2010 ablehne, ist viel tiefer in meinem Selbstbild verankert als meine Haltung zu Trüffelbutter.
Folglich verteidigen wir unsere politischen Überzeugungen auch viel erbitterter als solche, die mit Politik nichts zu tun haben. In einer Studie gaben die Versuchspersonen zunächst den Grad der Zustimmung zu einer Reihe von Aussagen an. Einige davon waren politisch: "Die USA sollten ihren Militärhaushalt verringern", andere nicht: "Der Hauptzweck von Schlaf ist Erholung für Körper und Geist." Während sie in einem Magnetresonanztomographen lagen, wurden ihnen anschließend fünf Gegenargumente präsentiert, woraufhin sie zum Schluss noch einmal ihre Zustimmung zu den Behauptungen beziffern mussten.
Nach der Herausforderung waren die Versuchspersonen im Durchschnitt von allen Aussagen weniger überzeugt als zuvor, aber der Unterschied war bei den unpolitischen Behauptungen viel größer. Politische Überzeugungen gibt man sehr ungern preis. Denn sie sitzen tief im Selbstbild. Das zeigte sich im Gehirn: Während die Gegenargumente zu unpolitischen Glaubenssätzen, ebenso wie die oben erwähnte kulinarische Entscheidung, das seitliche Stirnhirn aktivierten, riefen die Einsprüche gegen politische Überzeugungen rege Tätigkeit im sogenannten Ruhezustandsnetzwerk hervor. Und das ist gerade das Set von Hirnrindengebieten, von dem seit seiner Entdeckung angenommen wird, dass es das "Selbst" konstruiert.
Dass es unangenehm, sogar regelrecht ekelerregend ist, wenn andere dieses Selbstbild angreifen, spiegelte sich ebenfalls in der Gehirnaktivität. Sie war in der Amygdala - dem Furchtzentrum - und in der Inselrinde - die mit innerer Wahrnehmung und Ekel zu tun hat - umso höher, je fester die Versuchspersonen an einer Überzeugung festhielten.
Das ging nach hinten los
Nicht jeder regiert aber gleich wie ein gestochener Tiger, wenn seine politischen Ansichten infrage gestellt werden. Manche Menschen haben eine sehr starre Wirklichkeitskonstruktion, andere eine etwas lockerere. Auch das war in der Studie zu erkennen. Wie bereitwillig eine Versuchsperson ihre Meinung zu politischen Dingen änderte, korrelierte positiv damit, wie leicht sie von den unpolitischen Vorannahmen ließ. Anscheinend handelte es sich hier nicht um eine Eigenschaft der Aussagen, sondern um eine der Testpersonen.
Tatsächlich lassen sich Leute nur dann durch Argumente in ihrer Meinung beeinflussen, wenn diese Meinung nicht sehr stark ist. Eine Studie setzte ihren Versuchspersonen fingierte Zeitungsartikel vor, die z.B. die Behauptung enthielten, Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen besessen, oder (für die "liberalen" Leser), G.W. Bush habe die Stammzellforschung verboten.
Ein Teil der Artikel enthielt eine Richtigstellung. Diese wirkte aber nur bei den Lesern, die politisch ohnehin schon entsprechend eingestellt waren. Wer sich selbst als sehr konservativ bezeichnete, glaubte unverändert weiter an irakische Massenvernichtungswaffen, und sehr linksliberale Teilnehmer hielten daran fest, Bush habe diese Art von Forschung verboten. Und mehr noch: Diese Leute blieben nicht nur dabei - sie stärkten ihre Überzeugung sogar! Die Korrektur ging nach hinten los.
Ähnliches fand kürzlich eine Studie, die Anhänger der Republikaner und der Demokraten jeweils mit Twitter-Nachrichten der Gegenseite versorgen ließ: Nach Ablauf der Intervention waren sie stärker polarisiert als zuvor. Wer sich stark durch seine Ideologie definiert, regiert auf Gegenargumente mit Trotz.
Und selbst im Falle, dass Argumente inhaltlich wirken, versagen sie darin, das Verhalten zu ändern: In einer Folgestudie wurden Eltern nach ihrer Einstellung zur Masern-Mumps-Röteln-Impfung befragt. Anschließend legte man ihnen unterschiedliche Materialien vor, welche sie vom Nutzen und der Harmlosigkeit der Impfung überzeugen sollten. Tatsächlich kam zwar die Botschaft an, dass Impfungen mit Autismus nichts zu tun haben - aber die stärksten Impfgegner sahen sich trotzdem in ihrer Absicht bestätigt, ihre Kinder nicht zu impfen.
Tauben Ohren predigen
Diese Ergebnisse sind ein bitterkalter Guss für das Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft. Wir möchten unsere Meinungsverschiedenheiten gerne friedlich und rational in einer offenen Debatte klären. Es gehört zum Selbstverständnis unserer liberalen, toleranten Gesellschaft, dass wir das tun. Und weil es zum Selbstverständnis gehört, wird die Gesellschaft wohl weiterhin daran glauben. Wahr ist aber: Wir möchten unsere Meinungsverschiedenheiten dann und nur dann rational klären, wenn der Andere danach unsere Meinung übernimmt.
Der Dilbert-Schöpfer Scott Adams führt auch einen Blog (bzw. führte, denn leider ist er auf Podcasts umgestiegen). In den Monaten vor und nach der letzten US-Präsidentschaftswahl lohnte es sich, ihn zu lesen. Adams bemühte sich, die Wirklichkeitswahrnehmungen der beiden großen politischen Lager zu verstehen und verständlich zu machen. Selbst dem Habitus nach ein klassischer liberal, mutierte er aus Ekel vor der Selbstgerechtigkeit der Demokraten zum Trump-Unterstützer.
Trump, so Adams, habe eine fundamentale Einsicht begriffen: "Facts don't matter." Nicht Tatsachen bestimmen eine Entscheidung, sondern Gefühle. (Wie recht Adams hat, kann man an jedem beliebigen Politik-Artikel auf Spiegel Online erkennen. Die PARTEI-Forderung "Inhalte überwinden" ist da vorbildlich umgesetzt.) Ein erfolgreicher Politiker ist für Adams ein "Master Persuader", einer, der von Tatsachen ungestört frei auf der emotionalen Klaviatur seiner Wählerschaft improvisiert. Dass Tatsachen zwar irrelevant sein mögen für die Entscheidungsfindung, nicht unbedingt aber für deren Ergebnis, scheint Adams dabei allerdings zu übersehen.
Nähe statt Debatte
Gewiss ist es besser, Meinungsverschiedenheiten mit Argumenten auszutragen als mit Maschinengewehren. Überzeugend aber wirkt keines von beidem. Stattdessen platzt wieder einmal die Erinnerung an Paul Feyerabend wie ein Teufelchen aus der Kiste. In konsequentem Relativismus warf er die Frage auf, ob unsere humanistische Vorliebe für Gründe vor Granaten nicht nur ein weiteres nicht weiter zu begründendes Werturteil sei. Und zwar das Werturteil derer, die mit Argumenten geschickter zu hantieren wissen als mit Fäusten.
Strebt nicht auch derjenige, der mit scharfen Worten ficht, die Unterwerfung und gesellschaftliche Vernichtung des Gegners an? Ist der Intellektuelle moralisch überlegen, bloß weil er zwar ein Spargel ist, aber klug? "Auf sie mit Gebrüll - und mit guten Argumenten" lautet der verräterische Titel des Buches von Haznain Kazim, das Spiegel Online gerade bewirbt.
Die Lösung in diesem Dilemma liegt dann vielleicht darin, dem Kampf ganz zu entsagen. Er dient letztlich selten dem Zweck, eine vermeintlich gute Sache durchzusetzen, sondern nur der Verhärtung von Fronten und Selbsterhöhung des Kämpfenden. Jedenfalls, solange man in der Familie darüber streitet, ob Regierungen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit entscheiden, oder ob Assad von demokratischen Rebellen bekämpft wird - solange ist es für das Schicksal der Welt komplett irrelevant, wer die Debatte gewinnt oder ob überhaupt jemand. Es geht dann ja nicht darum, die Regierung oder Assad zu stürzen, sondern nur um einen Triumph innerhalb von vier Wänden. Es gibt Wichtigeres.
Wer die Einstellung eines Menschen ändern will, wird mit Argumenten nichts erreichen. Mit Gewalt auch nicht. Was hingegen zu funktionieren scheint, ist die grundlegende Übung, sich in die Lage des Anderen zu versetzen - der Perspektivwechsel. US-Bürger ließen sich dann eher davon überzeugen - und zwar langfristig -, dass Transsexuelle respektiert und gesetzlich geschützt werden sollten, wenn Wahlwerber sie an der Haustür in ein kurzes Gespräch verwickelten und darin aufforderten, sich an eine Gelegenheit zu erinnern, bei der sie selbst herabgewürdigt oder diskriminiert worden waren.
In einer ähnlichen Studie ließen sich mehr Befragte motivieren, dem US-Präsidenten einen Brief zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge zu schreiben, wenn sie sich zuvor in deren Lage versetzt hatten ("Stellen Sie sich vor, Sie müssten wegen eines Krieges Ihre Heimat verlassen? Was würden Sie mitnehmen? Wohin würden Sie fliehen? Was wären die größten Probleme?").
Der Perspektivwechsel wirkt noch besser - oder wird vielleicht auch vereinfacht -, wenn der Gesprächspartner selbst die andere Seite repräsentiert. Werber, die sich als transident outeten, bewirkten eine noch stärkere Unterstützung ihrer Anliegen (wenngleich das Studiendesign anscheinend eine statistische Auswertung verhinderte).
Und zumindest bis ins vergangene Jahr, als die Studie erschien, besserte sich die Einstellung von US-Bürgern gegenüber der Polizei, wenn sie von Beamten daheim aufgesucht und in ein freundliches Gespräch verwickelt wurden. "Schützen wir die Polizei!" sang schon Georg Kreisler. Vielleicht kommt nun auch jemand auf die Idee, Polizisten in ein freundliches Gespräch mit Schwarzen zu verwickeln.
Nicht Argumente, sondern Begegnungen brechen Vorurteile und Feindschaften auf. Dass der Kontakt mit Mitgliedern anderer Gruppen Vorurteile schrumpft, ist seit Jahrzehnten gut belegt. Wer täglich mit Menschen anderer Hautfarbe und Religion zu tun hat, fürchtet sie nicht. Rassismus hingegen grassiert dort, wo man Ausländer gar nicht kennt. "So einem möchte ich nicht begegnen!" rief eine Nachbarin in Thüringen einst entsetzt aus, als das Gespräch mit meiner Frau auf Türken kam. Dass sie gerade mit einer türkischen Kurdin sprach, hatte sie nicht einmal erkannt. Und eine andere Bekannte schimpfte damals im Gespräch mit meiner Frau unvermittelt: "Die Türken und die Juden sind doch die schlimmsten!" Der einzige Türke, den sie wahrscheinlich kannte, war Murat vom Dönerladen in Apolda, und der hat ihr nichts getan. Wie sie auf Juden kam, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Sie ist mit Sicherheit (Apolda!) nie einem begegnet.
Wir sind nun mal keine rationalen Urteilsmaschinen, sondern Menschen. Das kann man auch positiv sehen: Zusammengehörigkeit, Nähe und menschliche Wärme sind uns - jedenfalls vielen von uns - wichtiger als die Wahrheit, diese unnahbare Eiskönigin. Darum trifft sich unsere Großfamilie regelmäßig. Ich freue mich darauf, meinen Onkel wiederzusehen, diesen charmanten Betonkopf.