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Faktencheck: 5 Putin-Thesen bei Tucker Carlson – richtig oder falsch?

Roland Bathon

Wladimier Putin im Interview mit Tucker Carlson. Bild: Screenshot

Putins Überzeugungen schwanken. Manches ist rückwärtsgewandte Mythologie, anderes nachvollziehbare Beschreibungen. Hier die Fakten.

Anders, als von vielen deutschen Medien suggeriert, ist es nicht generell verwerflich, wenn aktuell westliche Journalisten wie Tucker Carlson Interviews mit dem russischen Staatschef Putin machen.

Denn der Ukrainekrieg, in dem täglich viele Menschen sterben, kann nur nach Wiederherstellung der Kommunikation enden. Ein Interview ist ein Schritt in diese Richtung.

Tucker Carlson lässt Putin referieren

Hierbei wäre es jedoch die Aufgabe von Journalisten, in jedem Gespräch mit einem Politiker kritisch nachzufragen und Positionen seines Gegenübers zu hinterfragen, was Carlson weitgehend vermissen ließ.

Über weite Passagen des sehr langen Talks ließ Carlson Putin Gelegenheit zu Referaten über sein Geschichtsbild bis zum Mittelalter, ohne den Redefluss seines Gegenübers zu unterbrechen, wenn dieser schon weit weg von der ursprünglichen Frage war.

Der Kremlchef machte unfreiwillig klar, aus welchen Epochen er die Idealbilder für die Führung Russlands ins 21. Jahrhundert bezieht. Natürlich wurde der rechtskonservative US-Journalist auch von der Präsidialadministration als Interviewer zugelassen, da bei ihm mit einer bequemen Fragestellung zu rechnen war.

1.000 Jahre russische Geschichte

Das ist jedoch eine Eigenart nicht nur von russischen Politikern – auch im Westen vergeben ihre Kollegen am liebsten prominente Interviews an Journalisten, bei denen nicht mit zu kritischen Fragen zu rechnen ist.

Neben Ausflügen in über 1.000 Jahre Geschichte präsentierte Putin russische Sichtweisen, die aus dortiger Sicht durchaus nachvollziehbar sind. Nicht umsonst werden sie in verschiedenen Varianten von anderen Politgrößen Russlands vorgebracht und verfangen in der russischen Bevölkerung.

Fünf zentrale Thesen werden im Folgenden in der Reihenfolge behandelt, in der Putin sie ansprach – es ist somit seine Wahl, dass mit dem für Russland schwächsten Punkt begonnen wird.

Putins These 1: Die Ukraine ist traditionell und rechtmäßig russisches Land

Um diesen Punkt machte Putin die meisten Worte und sie dienen als formelle Rechtfertigung der russischen Ukraine-Invasion im Februar 2022. Putin referierte umfangreich über die Abschnitte der Geschichte, in denen die Ukraine russisch beherrscht war und bemühte sich um den Nachweis, dass die Ukrainer gar kein "natürliches" Volk seien, sondern bis zum 19. und 20. Jahrhundert als Teil der "Russischen Welt" zu sehen sind.

Doch gerade bei diesem Thema ist die Argumentation des russischen Staatenlenkers am dünnsten und soll davon ablenken, dass die Invasion vor allem einen militärstrategischen Hintergrund hatte.

Der Begriff, wann ein Volk ein Volk ist und nicht nur Teil eines anderen, ist wissenschaftlich nicht klar definiert. Keine Rolle spielt es jedoch, ob ein Volk als solches sich nun seit 1.000 oder nur 100 Jahren als solches sieht.

Oder ob es mit anderen Völkern ganz oder teilweise eine gemeinsame Sprache spricht. Als Beispiel mögen hier gerne einmal die Österreicher dienen.

Dynamische Volksentwicklung: Der Fall Österreich

Noch in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, auch in der NS-Zeit, betrachtete sich Deutsch-Österreich als Teil der deutschen Nation und die Idee einer Vereinigung mit Deutschland war dort populär.

Historische Entwicklungen, hier die brutale NS-Diktatur, haben diese Einstellung bis 1945 radikal geändert. Heute, weniger als 100 Jahre später, würde außerhalb des rechtsextremen Milieus niemand mehr den Österreichern ihre Volkseigenschaft absprechen, sie ist eine Selbstverständlichkeit.

Entscheidend ist hier vor allem der Punkt, dass sich die Österreicher als eigenes Volk begreifen und in einem eigenen Staat leben wollen. Das sind zwei Punkte, die unzweifelhaft ebenso auf die Ukrainer zutreffen.

Selbst im Osten des Landes – außer der Krim – war das Selbstverständnis der örtlichen Bevölkerung weit mehrheitlich ukrainisch. Auch wenn man hier bis zur Invasion wesentlich mehr Wert auf ein gutes Verhältnis zum großen Nachbarvolk legte, als im Westen des Landes.

Putin selbst hat mit seiner Invasion und den Zerstörungen, die sie anrichtete, dazu beigetragen, dass die zuvor gespaltenen Ukrainer als Volk zu einer sehr weitgehenden Einigkeit fanden – gegen Russland.

Das ist auch nachvollziehbar, denn niemand findet die Verwüstung der eigenen Heimat gut und diese findet aktuell in der russischsprachigen Ostukraine statt. Es ist ein normaler Lauf der Geschichte, dass Völker sich teilen, einen, neu gruppieren, auch wenn das für Menschen wie Putin mit einem nur nach hinten gerichteten Weltbild ein schmerzlicher Prozess ist.

Putins These 2: Die USA haben Russland einen Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung versprochen

Als die UdSSR Anfang der 90er-Jahre zusammenbrach, herrschte international ein völlig anderes Klima als in den 2020er-Jahren. Tatsächlich propagierten Vordenker wie der von Putin im Interview namentlich erwähnte SPD-Politiker Egon Bahr mit gutem Grund eine neue europäische Ordnung unter Einbeziehung Russlands und sahen die Nato als reines Militärbündnis für ungeeignet, hierzu eine Basis zu bilden.

Dennoch kam es anders. Auf eigenen Wunsch wurden zahlreiche kleinere Staaten Mittelosteuropas in die Nato aufgenommen, während Vereinigungen, die ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem gewährleisten sollten wie die OSZE, in die Krise gerieten.

Da die Nato einen militärischen Charakter hat, war es klar, dass an ihrer neuen Ostgrenze eine Front ähnlich zum Eisernen Vorhang entstehen würde – wobei der neue Eiserne Vorhang gegenüber Russland vor allem vom Westen und seinen Bündnispartnern ausgeht, anders als der Alte.

Die Nato nahm bewusst den Weg, kleine Bündnispartner zu integrieren und Russland außen vor zu lassen. Nicht umsonst schilderte Putin im Interview sein Gespräch mit Ex-Präsident Clinton, wo es um eine hypothetische Nato-Aufnahme Russlands ging, die der Amerikaner als nicht realisierbar bezeichnete.

Das Versprechen an Gorbatschow

Putin selbst bestätigte im Gespräch, dass es keine schriftliche Zusage an sein Land gegeben habe, dass sich die Nato in Europa nicht nach Osten ausweitet, spricht aber von einer Versicherung in anderer Form.

Tatsächlich war eine Nato-Mitgliedschaft selbst des vereinten Deutschlands für Gorbatschow in der ausgehenden Sowjetunion zunächst ein No-Go. Es war Hans-Dietrich Genscher, der für einen Stimmungswandel in Moskau aussagte [1]:

Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten (…) Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR (…) sondern ganz generell.

Ähnliche Erwartungen erzeugte auch der damalige US-Außenminister James Baker bei einem Besuch in Moskau, um die dortige Zustimmung zur Wiedervereinigung zu erwirken. Somit erinnert sich hier Putin durchaus richtig an mündliche Zusagen, die Anfang der 90er-Jahre gegeben wurden.

Nato war nicht gezwungen, neue Mitglieder aufzunehmen

Was russische Regierungspolitiker in diesem Zug meist nicht erwähnen, ist der Abschluss der Nato-Russland-Grundakte 1997, die von Putins Amtsvorgänger Boris Jelzin in einer Periode der Schwäche Russlands verbindlich unterschrieben wurde. Hier garantiert Russland die Achtung der Souveränität aller Staaten, was natürlich auch die Möglichkeit einschließt, Mitglied in einem Militärbündnis zu werden.

Alle neuen Nato-Staaten kamen freiwillig in dieses Bündnis. Jedoch muss dabei festgestellt werden, dass die Nato nicht gezwungen war, jeden Anwärter aufzunehmen, obwohl klar war, dass das aus russischer Sicht als Heranrücken des Bündnisses an die eigenen Grenzen wirken muss.

Man nahm das aus Machtinteresse in Kauf und trug somit zur angespannten Situation bei, unter der die russische Ukraine-Invasion 2022 erfolgte. Gerechtfertigt werden kann ein solcher Überfall jedoch durch den Hinweis auf gebrochene Versprechen nicht.

Putins These 3: Der Ukraine-Krieg dauert bereits seit 2014

Diese Aussage wird auch russischen Kriegsgegnern gerne entgegengeschleudert, wenn sie sich gegen die blutige eigene Ukraine-Invasion ab Februar 2022 wenden. Interessanterweise ist sie sowohl verbreitet in den Reihen der Unterstützer der Ukraine unter Verweis auf den verdeckten Militäreinsatz Russlands in Krim und Donbass ab 2014 also auch unter den russischen Kriegsbefürwortern unter Hinweis auf die militärische Unterdrückung antimaidanischer Aufstände in der Ostukraine.

Beide wuchsen sich damals zu einem militärischen Konflikt aus. Tatsächlich haben 2014 beide Seiten nicht nach irgendwelchen Regeln gespielt.

Der bis Anfang 2022 festgefahrene Konflikt war nie komplett eingefroren, vereinbarte Waffenstillstände wurden von beiden Seiten gebrochen. Dabei wurden auch beiderseits Zivilisten beschossen, was eine OSZE-Beobachtermission minutiös festgehalten hat.

Dennoch ist die These vom seit zehn Jahren andauernden Ukrainekrieg, die auch von westlichen Fachleuten vertreten wird, nicht so unumstößlich, wie Putin suggeriert.

Wann startete der große Krieg?

Ein Krieg ist eine größere Auseinandersetzung zwischen Völkern mit militärischen Mitteln und vor allem die Größe unterscheidet ihn vom bewaffneten Konflikt. In den Jahren 2016 bis 2021 schwankte die Anzahl der zivilen Opfer im Donbass pro Jahr zwischen 25 und 112, mit abnehmender Tendenz.

Ein vollständiges Einfrieren des Konflikts war eine Hoffnung von vielen Menschen vor Ort, lag scheinbar in der Luft und verzögerte sich immer wieder durch die mangelnde Kompromissbereitschaft beider Seiten.

Erst durch die großangelegte Invasion Russlands in (falscher) Erwartung eines schnellen Sieges gegen Kiew 2022 wuchs der schwelende Konflikt zu einem großen Krieg an. 2022 und 2023 ist die Zahl der zivilen Opfer nie genau erfasst worden, Schätzungen gehen teilweise von mehr als 10.000 pro Jahr aus.

Der Verweis, ein zuvor bereits begonnener Krieg sei hier nur in eine neue Phase getreten, dient der russischen Regierung dazu, diese bewusste Eskalation mit vielen Todesopfern zu kaschieren.

Der Kiewer Regierung dient er dazu, einen langen Abwehrkampf gegen die Moskauer Bedrohung herauszustellen. Von einer neutralen Position ist es dennoch eher richtig zu behaupten, ein echter Krieg findet erst seit Anfang 2022 statt, der einen nie ganz beseitigten, schwelenden Konflikt ablöste.

Putins These 4: Russland war bereit, die Minsker Vereinbarung umzusetzen

Das Minsker Abkommen war die große Hoffnung auf eine Lösung des Ukrainekonflikts ohne den nun ausgebrochenen Krieg. Sie sah einen Waffenstillstand, eine internationale Beobachtung der Front, eine Amnestie, die Auflösung aller bewaffneten Einheiten und eine Autonomie der ostukrainischen Gebiete vor. Daneben sollten andere desskalierende Maßnahmen ergriffen werden.

Das entscheidende Problem war jedoch, dass es weder eine Reihenfolge noch einen Zeitplan für all diese Maßnahmen vorsah. So war es natürlich im Interesse Russlands und der von ihm unterstützten Rebellen, dass zuerst die regionale Autonomie und Amnestie eintrat, während Kiew auf einer vorherigen Auflösung der Rebelleneinheiten beharrte.

Im Klima des gegenseitigen Misstrauens wollte hier keiner den ersten Schritt tun. Auch die "Schutzmächte" des Vertrags Deutschland, Frankreich und Russland sparten nicht mit Kritik an Vertragsverletzungen der Gegenseite, zwangen jedoch die eigenen Akteure nicht zu einem aktiven aufeinander Zugehen.

Auch Deutschland und Frankreich haben nicht alles getan

So kam es zu keinen Fortschritten bei der Umsetzung der an sich von ihren Zielen guten Vereinbarung. In die Geschichte verbannt wurde sie dann am 22. Februar 2022 tatsächlich von Putin selbst, als er die Donbass-Republiken der Rebellen als eigene Staaten anerkannte. Wenn er heute so tut, als hätte man von Moskauer Seite zuvor alles getan, um die Vereinbarung umzusetzen, ist das Augenwischerei.

Es wäre aber ebenso Augenwischerei zu behaupten, Deutschland und Frankreich hätten alles getan, Kiew zu einer Umsetzung des Vertrags zu bewegen.

Es fehlte auf beiden Seiten an einem echten Willen, die Vereinbarung als Basis einer dauerhaften Friedenslösung zu nutzen. Wichtiger war die Unterstützung der eigenen Schachfiguren vor Ort, trotz all der damit verbundenen Gefahren.

Putins These 5: Die Ukraine hat mit westlicher Unterstützung 2022 einen Frieden verhindert

In den ersten Wochen nach Ausbruch des offenen Kriegs zwischen Russland und der Ukraine fanden zwischen beiden Seiten in Istanbul Verhandlungen statt, die Kämpfe wieder zu beenden. Offen nach außen drangen von beiden Seiten vor allem Maximalpositionen, bei denen klar war, dass sie der militärische Gegner nicht akzeptieren würde.

Es gab aber auch Kompromissideen wie eine ukrainische Neutralität unter der Garantie externer Mächte verschiedener politischer Lager.

Putin schildert im Interview, die Räumung des Raums Kiew von russischen Truppen sei quasi eine Bekräftigung des eigenen guten Willens gewesen, die Ukraine habe dennoch siegesgewiss auf Druck des Westens die Verhandlungen abgebrochen.

Tatsächlich erfolgte der Rückzug aus der Region Kiew natürlich, da die zu Beginn zu klein dimensionierten russischen Invasionstruppen ihre dortige militärische Position nicht mehr halten konnten. Gräueltaten der russischen Besatzer wurden aufgedeckt, die die ukrainische Verhandlungsbereitschaft auch ohne westlichen Druck verminderten.

Ukraine beendete Verhandlungen zuerst

Tatsache ist, dass die Waffenstillstandsverhandlungen dann zuerst vonseiten der Ukraine beendet wurden. Dafür, dass andernfalls ein Kompromiss in der Luft lag, gibt es einen wichtigen, neutralen Kronzeugen [2], den damaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, der an Verhandlungen direkt beteiligt war.

Beide Seiten seien nach seiner Auskunft hinter den Kulissen zu erheblichen Zugeständnisse bereit gewesen, um den Krieg zu beenden. Doch vor allem die hinter Kiew stehenden USA und Großbritannien hätten laut Bennett den Friedensprozess gestoppt.

Was damals hinter den Kulissen alles geschah, wird wohl erst die geschichtliche Aufarbeitung ergeben, denn zahlreiche Gesprächsrunden fanden statt, auch solche ohne Bennett. Es ist jedoch klar, dass die Kiewer Beendigung der Verhandlungen ein Kriegsende in weite Ferne rückte, auch wenn sie wegen Kriegsgräueln wie in Butscha nachvollziehbar war.

Jeder zusätzliche Monat des aktiven Kriegs produziert weiteres Leid, tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Gegenseite leben überall im Kriegsgebiet schlecht.

Zusammenfassung

Zusammenfassend muss man feststellten, dass einige der von Putin angebrachten Punkte und Thesen aus russischer Sicht schon nachvollziehbar sind. Nicht nachvollziehbar ist jedoch die Ansicht, ein anderes Volk, das sich als solches definiert, einfach nicht anzuerkennen und deswegen sogar eine "Umerziehung" von Ukrainern ins Auge zu fassen.

Kein historischer Grund und keine gebrochene Zusage kann dies rechtfertigen. Das ist übrigens auch die Meinung vieler Russen, die sich deshalb insgeheim oder unter großer Gefahr offen gegen den Krieg im Nachbarland stellen. Die "Einheit der russischen Völker" wird nur von sehr linientreuen Russen anerkannt.

Dient ein solches Argument als Rechtfertigung einer bewaffneten Invasion wie bei Putin in seinem Interview, schmälert sie die Überzeugungskraft berechtigter russischer Kritik an der westlichen Politik oder abgebrochenen Verhandlungen.

Dennoch gilt: Jede Beendigung des Kriegs wird russische Interessen berücksichtigen müssen und russische Sicht ist nicht per se ein Fake.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9631187

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/zwei-plus-vier-verhandlungen-deutsche-einheit-nato-osterweiterung-putin-100.html
[2] https://www.berliner-zeitung.de/open-source/naftali-bennett-wollte-den-frieden-zwischen-ukraine-und-russland-wer-hat-blockiert-li.314871