Fernab der Wissenschaft

Seite 2: Warum Snyder noch radikaler ist als Ernst Nolte

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Snyder mit seinem Buch Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin, welches in mehreren Ländern – darunter Deutschland – zum Bestseller wurde.

Dafür wählte der US-Historiker eine grenzüberschreitende Perspektive für Ostmittel- und Osteuropa für die Zeit von 1933 bis 1945 ein. Abgesehen von diesem kreativen Ansatz konnte die deutsche Leserschaft in dem Buch jedoch wieder viel lesen, was sie schon kannte: So soll Stalin Hitler erst zum Judenmord animiert haben.

Eine These, die vom Historiker Ernst Nolte in den 1980ern aufgeworfen, zum Historikerstreit führte und Nolte zunächst isolierte und danach immer weiter nach rechts abdriften ließ. Der Yale-Professor, ein intellektueller "Sohn Noltes", ging aber noch weiter als sein Vorgänger – mit viel "extremeren Aussagen" als der deutsche Historiker.

Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten: Snyders Narrativ in Bloodlands entsprach nicht dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung über den Holocaust, schrieb Jürgen Zarusky, ein anerkannter Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Ebenso wie Applebaums Buch erhielt Snyder viel Gegenwind in der Forschung.

Während Bloodlands noch steile Thesen mit einer Tendenz zum Geschichtsrevisionismus enthielt, steigerte sich Snyder in seinem Folgewerk Black Earth: The Holocaust as History and Warning (auf Deutsch Black Earth: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann) in offene Verschwörungsmythen.

Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden sei demnach aus einem ökologischen Denken Hitlers und dessen Einsicht in begrenzte Ernährungsressourcen entstanden, schrieb Snyder. Der Diktator sei "kein deutscher Nationalist", sondern ein "zoologischer Anarchist" gewesen.

Diese Thesen widersprachen den Erkenntnissen von mehreren Jahrzehnten der internationalen Holocaust-Forschung. "Den Holocaust stutzt Snyder als ein Verbrechen zurecht, das in einem Zeitalter der Globalisierung aus der Vorstellung begrenzter Ressourcen entsprungen sei", schrieb dazu sogar die FAZ. Doch das war noch nicht alles.

Ohne einen guten Ruf, den man verlieren könnte, driftete Snyder noch weiter ab. Sein Folgebuch The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America (zu Deutsch: Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika) "strotzt vor Falschzitaten" hieß es auf dem geschichtswissenschaftlichen Rezensionsportal H-Soz-Kult. Lorenz Erren von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz urteilte über das Buch vernichtend, dass "die Historikerzunft ihre eigene Reputation [riskiert], wenn sie dreiste Köpenickiaden nicht als solche erkennt und benennt. Kein seriöser Verlag hätte diesen Text veröffentlichen dürfen." Deutlicher hätte der Rezensent seine Kritik nicht ausdrücken können.

Doch der Gegenwind aus der Forschung dürfte den Professor der Yale-Universität wenig interessieren. Bereits seit über einem Jahrzehnt positioniert sich Snyder lieber politisch und widmet sich immer weniger der Forschung. Das Buch Bloodlands "katapultierte" ihn dabei in die "Top-Ränge der Pundits", also der gerngesehenen Interview-Gäste in Talkshows und Kolumnisten in den großen Zeitungen.

Zeitgeschichte auf "große Männer" reduziert

Nach dem Beginn der Ukraine-Krise im Jahr 2014 forcierte Snyder das und erscheint mittlerweile regelmäßig in deutschen und US-amerikanischen Medien, wie zuletzt beispielsweise im Magazin Der Spiegel.

Die Aussagen zur aktuellen Politik von Applebaum und Snyder stehen in einer gewissen Kontinuität zu ihren Arbeiten zur Geschichte. Politik heute wie damals stellen sie als Erzählung von "großen Männern" dar, bei denen es so gut wie keine soziologischen, politökonomischen oder andere Faktoren zu bedenken gibt. In der Geschichtswissenschaft bewegte man sich von diesem Denken ab den 1970er und 1980er-Jahren weg – nicht so die beiden US-Amerikaner.

Oft teilen sie dabei die Welt in Gut und Böse und es mangelt stets an Differenzierungen. So ist bei Applebaum die Geschichte der Ukraine ein tausendjähriger Kampf um Freiheit, dem sich nur sehr oft die Deutschen und Russen bzw. Sowjetrussen entgegenstellten. Snyder wiederum glorifizierte in Bloodlands die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, AK), spielte den Antisemitismus in deren Reihen runter und ignorierte Massentötungen von Belarussen und Litauern durch AK-Kämpfer – die Heimatarmee spielt in seinem Buch hauptsächlich eine Rolle als Opfer von sowjetischer Repression.

Darstellungen jenseits von Schwarz und Weiß finden dabei keinen Platz. Mangelnde Differenzierungen und das Weglassen von unliebsamen Quellen und Arbeiten brachten Applebaum und Snyder in der Wissenschaft viel Kritik ein – in den Medien sind die beiden jedoch weiterhin gerne gesehen, da ihre Anwesenheit beispielsweise in Talkshow-Runden verspricht, dass es nicht langweilig wird.

Applebaum und Snyder sind organische Intellektuelle einer transatlantischen Szene – und zwar des Flügels der Transatlantiker, der sich dem liberalen Internationalismus verschrieben hat. Am Neoliberalismus war in ihren Augen nichts falsch – und am schottischen Unabhängigkeitsreferendum, der Wahl Donald Trumps oder der Brexit-Abstimmung einfach immer Russland schuld, wenn man Snyder glaubt.

Was eine ideale Politik in ihren Augen ist, zeigte Applebaum in ihrem jüngsten Buch Twilight of Democracy: The Failure of Politics and the Parting of Friends, in welcher sie von der Ära von US-Präsident William Clinton und dem britischen Premier Tony Blair schwärmte.

Wie eine deutsche Außenpolitik gegenüber der Ukraine und Russland aussieht, in welcher Blair und Clinton die Helden und "die Russen" die Schurken sind, kann man sich vorstellen. Mit ihrem Ignorieren der Forschungsstände, mangelnden Differenzierungen, Erzählungen von übermächtigen "großen Männern" und dem Ignorieren von unliebsamen Fakten tragen Anne Applebaum und Timothy Snyder nicht zu einem besseren Verständnis Osteuropas bei, sondern arbeiten lediglich ihre aus der Zeit gefallene politische Agenda ab.