Fiktionale Identitäten im Text- und Datenraum
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Die weibliche Wissenschaft
Scripting Communication Environments
Ada Lovelace leistete, und das ist nicht zu leugnen, ihren Beitrag zur Entwicklung von Computersprachen. Heute arbeiten Frauen professionell im Wissenschaftsbereich. Erfahrungen werden in wissenschaftliche Texte eingewoben. Weiblich ausgerichtete Forschung wird in verschiedenen Kategorien praktiziert. Und oftmals findet eine Erweiterung des mathematisch-wissenschaftlichen Schreibens statt. Wie steht es also um die "literarische Kritik" an den Programm-Skripts zur Schaffung von Online-Kommunikationsumgebungen? Neben bekannteren akademischen Vertreterinnen wie Sherry Turkle (MIT) und Lynn Cherny (Stanford) hat sich in unseren Breiten vor allem Barbara Becker (GMD) mit der Erforschung der Online Persona aus weiblicher Sicht beschäftigt, und kommt dabei zu teilweise anderen Ergebnissen als ihre Koleginnen in den USA.
Fiktionale Identitäten im Cyberspace: VR_IDs
Das Annehmen multipler Persönlichkeiten und Geschlechter wird allgemein als eine Besonderheit virtueller Identität beschrieben. VR- IDs werden etwa von Sherry Turkle durch Begriffe wie Multiplizität, Fluidität und Fragmentierung beschrieben. Das sind aber ganz allgemein Termini zur Beschreibung postmoderner Subjektivitätsvorstellungen. Barbara Becker spricht darum auch nicht einfach von virtueller Identität, sondern von verschiedensten "Inszenierungen", Formen der Konstruktion von Identität in virtuellen Räumen. Textkörper sind klassische Repräsentationssysteme, die insbesondere von Frauen in Online Räumen erprobt werden. Ein Beispiel für eine solche Art von Skripting sind MOO -Räume (z.B.: Gashgirl), die radikal und sexuell aggressiv sind. (siehe auch das Pop~Feature žber Gashgirl;)
Imagination, Texte, Körper
Anders als Sherry Turkle oder Howard Rheingold glaubt Becker nicht an die psycho-hygienische Funktion der Online Kommunikation (vgl. elektronische Rollenspiele). Die Online-Multiple-Identity wird aber gerne als "technonatürliche" Umsetzung von philosophischen Strömungen der 60er Jahre, von strukturalistischen und sprachzentrierten Sichtweisen der Selbstschaffung im (heute: online?)Text gesehen. Elektronische Kommunikations-Umgebungen, MOOs, setzen eine Entkörperung voraus. Hier setzt Becker mit ihrer Kritik zu den entstehenden "Datenkörpern" an. Zusätzlich zu den Grenzen der Sprache, also des Systems innerhalb dessen Selbstkonstruktionen stattfindet, treten in elektronischen Umgebungen technologische Beschränkungen auf.
Die technologischen Grenzen
Protokollgebundenheit gibt es im technischen und soziologischen Sinne. Sie hat Reduziertheit der Information zur Identitätsbeschreibung im Netz zur Folge. Zu diesem naheliegenden Schluss kam auch schon Lynn Cherny mit ihren Feldforschungsarbeiten zu geschlechtsspezifischem Verhalten in MOOs. Mediale Formen der Selbstinszenierung, Selbst/technologien, sind bestimmt durch technologische Restriktionen. Diese gibt es nicht nur in Form von Programmen, sondern auch als Regeln und Sprachcodes. Um an der Kommunikation teilnehmen zu dürfen, muss man/frau diese im Normalfall übernehmen.
Leerstellen der Nicht-Information
Ein IRCer, der eine Online Partnerin trifft, beschreibt den berühmten Real Life Shock:
"Oh, No - Real life gave me 2 much information."
Das Online-Gegenüber erscheint auf Grund der Projektion eigener Wunschvorstellungen als der bessere Kommunikationspartner.
Beckers Meinung nach liegt die Faszination an der MOO -Kommunikation und an Online-IDs vor allem an den durch die Beschränkung der Technologie entstehenden Leerstellen. Diese können von der Phantasie der Kommunikationspartner aufgefüllt werden. In der Phantasie erfordernden Rezeptionsleistung wiedererkennt Becker eines der Prinzipien künstlerischen Schaffens und vergleicht Online IDs deshalb mit literarischen fiktionalen IDs. Die sogenannte "virtuelle Identitätsbildung" in der Netzkommunikation ähneln den fiktionalen Identitäten in analogen Sprachkonstrukten, literarischen Texten.
Als Vergleich können historische Maskeraden dienen, die auch in der deutschen Romantik hochmodern waren. Dies ging einher mit Textproduktion in Briefwechseln und "privater" Literatur, sowie der eigenen Bibliothek. Letztere wurde als Raum der Konstruktion eigener Identität angesehen. Die gleichzeitige zunehmende staatliche Kontrolle und Restriktion der öffentlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums ist auffällig. Es stellt sich die Frage, ob wir nicht auch in der Netzwelt mit zunehmender Kontrolle, panoptischer Überwachung und Limitierung, konfrontiert werden und deshalb die Flucht in private Online-Kommunikationsräume antreten.
Speed: Die Beschleunigung des Feedbacks
Das Feedback und oft auch das Biofeedback wird im Netz enorm beschleunigt. Durch die sichere Distanz und wegen der frei besetzbaren Leerstellen der Identität des Gegenübers entstehen scheinbare persönliche Nähe und Vertrautheit, auch erotische Beziehungen im offenen IRC (Internet Relais Chat) Fenster ungleich schneller als im Real Life (RL). Hier steht der reale Körper dem fiktionalen im Weg.
Gerade damit stellt Becker aber fest, dass, auch wenn die Körperlichkeit stark durch kulturelle Beschreibungen und Diskurse definiert wird, der Körper nicht nur auf Narratives reduziert werden kann.
Technologien des Selbst
The life practice of Windows is that of a de-centered self, ... a laboratory for the self... trying the self beyond the real self.... creating sub-personalities, which will be limited by an inner lawyer to a whole self... a psycho-therapeutic milieu for self repair.
Sherry Turkle in ihrem Buch, "Life on the Screen"
Zahlreiche Termini Technici sind zu Metaphern der Selbstkonstruktion geworden. Turkle etwa spricht von Multiple Distributed Systems als einer der Techniken des Selbst. Windows, die gleichzeitig unter verschiedenen Namen geöffneten Fenster auf einem Bildschirm, werden zur Metapher für die Verwirklichung des elektronischen multiplen Selbst. Der elektronische Raum erscheint als Trainingsraum zur Reifung eines inneren Persönlichkeitskerns.
Netzkommunikation wird im amerikanischen Diskurs oft als Selbsttherapie verstanden. Der multiplen Online ID werden psychologische Reinigungs- und Klärungsfunktionen zugeordnet. Becker attakiert solche Positionen, die z.B. bei Veranstaltungen wie der 6thCyberconf in Oslo unter dem Motto "Are Virtual Subjects on the Road?" formuliert wurden. Hinter diesen Auslegungen steht die Annahme, dass klassische Selbstkonzepte bestehen können, die von einem authentischen, kohärenten, inneren Kern ausgehen.
Die kathartische Dimension des Auslebens von multiplen Online-Identitäten kann aber dennoch nicht geleugnet werden. Verschiedene Formen des Selbst können als reine Textkonstruktion erlebt werden. Man/Frau nimmt das Selbst als Prozess im Be-Schreiben wahr, das, wenn es Ge-schrieben ist, aber wieder zerfällt.
Als Konsequenz schlägt Barbara Becker eine medienevolutionäre Perspektive vor. Dazu ist es aber unablässig, Formate und Prozesse des Selbstentwurfes in fiktionalen Hyper-Texten zu betrachten.
Text-Körper-Gesichter
Die Frage, ob neue semiotische Mischformen durch Zeichen, Kürzel im Text, bereits eine neue digitale Ikonologie entstehen lassen, verneint Becker. Ihr erscheinen die Formen der elektronischen Textkommunikation zu standardisiert. Sie sind auf minimale Symbolik reduziert wie die bekannten Smileys ;-). Gruppenspezifische Repräsentationsformen müssen deshalb doch in erweiterten technologischen Umgebungen erprobt werden. Versuche körperliche Dimensionen der Individualität, wie etwa die Handschrift im Austausch von Briefen, in Online Umgebungen zu bringen, stehen noch an.
Körper, Gesten und Mimik folgen auch in der grafischen Avatar-Darstellung extremen Schönheits- und Rollen-Stereotypen. Die Tendenz den Körper auszublenden, um das eigene Selbst konstruieren zu können, ist dabei eine typisch westliche Tradition. Auf der anderen Seite bleibt der Körper aber dennoch die letzte Garantie für die Einheit der Persönlichkeit. Diese Gegenpole, Körperkult und Körperverneinung, werden in die digitale Kultur übertragen. Auch im physischen Körperkult ist die Kontrolle über den Körper, das Design einer Körperform im Fitnessstudio, ein Projekt der Selbstkonstruktion nach sozialen Vorstellungen und Medienbildern.
Requisiten des Selbst
Requisiten der elektronischen Selbstkonstruktion sind z.B. fiktionale Login-Namen, unter denen mit anderen virtuellen Personen in Kontakt getreten wird. Das dem Namen entsprechende fiktionale Selbst entwickelt sich erst im Prozess des unmittelbaren Online-Feedbacks.
Das soziale User-Umfeld kann bei der Online-Kommunikation leicht ausgeblendet werden. Eine Spezialität dabei ist es, verschiedene Rollen gleichzeitig in unterschiedlichen Fenstern anzunehmen. Das führt zum Gefühl über die freie Wahl der sozialen Identität in der elektronischen Kommunikationsumgebung. Identitäten erscheinen als pure Imagination, an denen nach Belieben selbst gebastelt werden kann.
Die Antwort
Die eigentümliche Vermischung postmoderner Subjektivitätskritik mit traditionellen Vorstellungen verlangt nach einer möglichen anderen Interpretation der Vorgänge in den MOOs . Die meisten Interpretationsangebote gehen von einem virtuellen und einem realen Subjekt, bzw. einem wahren Selbst und variablen Masken aus.
Becker bietet also eine andere Skizze:
"Ex-Zentrität , in seiner beständigen Umformung und Neudeutung, darin gleichermaßen abhängig von ... institutionellen und kulturellen Sprachregelungen und Technologien. Subjektivität ist stets Produkt individueller wie kollektiver Einbildungskraft und damit ein Prozeß unaufhörlicher Transformationen. Das Subjekt erweist sich so als symbolisch-mediales Konstrukt und die Grenze zwischen einem virtuellen und einem realen Subjekt wird fließend."
Letztendlich ist electronic writing eine Herausforderung an den kreativen Missbrauch von Technologie in Hyper Fiction und Computer Poetry, um neue Räume der Imagination hinter technischer Authorität zu öffnen. Eine grosse Anzahl von fe-male Online Umgebungen sind im Entstehen und bieten neue Möglichkeiten zur Konstruktion von Identitäten.