Flashmobs und urbane Kissenschlachten
Über Graswurzelbewegungen und die Robustheit einer neuen Stadtaneignung
In den USA erzählt man College-Abgängern mitunter eine Anekdote, um sie auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Sie beginnt folgendermaßen: "Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und sagt: 'Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?' Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen, bis der eine schließlich zum andern hinübersieht und sagt: 'Was zur Hölle ist Wasser?'"
Dass das Selbstverständliche manchem gar nicht (mehr) bewusst ist, mag als Erkenntnis so neu nicht sein. Im Bereich des Urbanismus freilich kann sie gar nicht oft genug wiederholt werden. Denn in kaum einem Metier scheint man so gern zu vergessen - oder zu vernachlässigen -, worin man sich bewegt. Hinzu kommt: Die unaufhörliche Dynamisierung unserer Welt lässt den Planungsbedarf zwar steigen, zugleich aber sinkt die Reichweite des Planbaren.
Augenscheinlich bedarf es immer mehr eines situative Zugangs zu den Erscheinungsformen des Städtischen. Vielerlei Alltagsbeobachtungen zumindest stützen diese These:
Warum nur trägt die Parkuhr neuerdings ein Strickmützchen? Und wozu braucht der dicke Poller einen Ringelschal? Seltsam auch die rote Schaukel, die an der Bushaltestelle hin und her schwingt. Oder die beiden Sessel, aus Paletten gezimmert, die auf der lärmumtosten Verkehrsinsel stehen. Gut möglich, dass sich dort bald ein paar ausgediente Autoreifen niederlassen. Auf dem Bürgersteig gegenüber liegen schon einige, mit Blumenerde gefüllt. Unschuldig wächst der Spitzkohl daraus empor. Man muss sich über all das nicht wundern. Man kann daran vorbeigehen, gedankenlos. Vermutlich sind Sessel und Schaukel am nächsten Tag ohnehin verschwunden, von der Müllabfuhr entsorgt. Fort auch der Pollerschal und das Parkuhrmützchen, die Kohlköpfe abgeerntet. Dann sieht es aus, als wäre nichts gewesen: die Stadt, ein ewig-stoisches Gebilde, viel Stahl und Stein und nichts, so scheint es, rührt sich. Was sollten Gemüsebeete neben dem Bürgersteig, was selbst gebaute Stadtmöbel und all die anderen surrealistisch anmutenden Dreingaben schon bedeuten. Es sind ephemere Erscheinungen, und wohl nur wenige kämen auf die Idee, sie als Zeichen einer großen Verwandlung zu deuten. Das aber sind sie: In ihnen kündigt sich ein Umschwung an, ein urbaner Neuanfang.
Hanno Rautenberg
Dass urplötzlich das Leben in die Stadt zurückgekehrt sei, ist die zentrale These von Hanno Rauterberg. Denn der urbane Raum erweise sich nicht nur als bevorzugtes Terrain für Bürgerproteste von Occupy bis zur Arabellion. Auch die wachsende Individualisierung finde hier ein Forum, die gewandelten Interessen neu auszuhandeln. Er diagnostiziert eine wachsende Sehnsucht nach einem überschaubaren Handlungsraum, in dem sich die Zukunft noch gestalten lässt. Er erzählt von einem "Urbanismus von unten, der die Stadt wiedererweckt". Und er schildert, "wie sich viele Bürger den öffentlichen Raum auf mannigfache Weise aneignen und wie sie ihn verändern". So weiß er von Flashmobs zu berichten, bei denen sich Menschen über das Internet oder per SMS-Mitteilungen zu skurrilen Kurzaktionen verabreden, etwa zum Polkatanzen oder zu Kissenschlachten.
Orte des Nichts werden in öffentliche Orte verwandelt
Die Techno- und die Rapper-Szene, die Jünger von Le Parcours, Aktivisten von Reclaim the streets oder all die Skater und Party-People: Sie suchen sich ihre Räume. Viele dieser Bewegungen reklamieren eine eigene Öffentlichkeit; sie spüren Niemandsländer auf, die semantisch unbelastet sind: Durchgangsräume, Brachen, Autobahnunterführungen, aufgelassene Industrieareale - Orte des Nichts.
Offensichtlich gibt es spezifische Aneignungsformen, die nicht einen öffentlichen Ort besetzt, sondern ein Niemandsland in einen öffentlichen Ort verwandelt (und sei es temporär). Attraktiv sind solche Orte vermutlich, weil sie nichts und niemand repräsentieren, keine Macht und keinen Besitz.
Die neuen medialen Möglichkeiten spielen dabei durchaus eine Rolle. Was freilich nicht heißt, dass die Digitalmoderne eine bis dato ungeahnte demokratische Partizipation befördert. Die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die Eruptionen des Bürgerzorns gegen "Stuttgart 21" entfalteten ihre Kraft durch physische Präsenz.
Das Internet mag enorme Vorzüge als Werkzeug haben; es verbreitet die Kunde von Geschehnissen sehr rasch, senkt die Schwelle, Proteste zu artikulieren, und reduziert die Kosten von Kommunikation und Organisation. Aber politische oder soziale Umwälzungen erfordern ein leibhaftiges Engagement. Wo es ernst wird, reicht das Netz nicht aus. Erst "draußen" bekommt man die Gewalt der Staatsmacht richtig zu spüren, und wichtige Entscheidungen werden nicht im Netz erzwungen, sondern durch Demonstrationen, Straßenblockaden und Urnengänge.
Der öffentliche Raum ist nach wie vor eine Bühne, auf der gesellschaftliche Konflikte artikuliert und vorgetragen werden; er ist aber auch Ort personaler Selbstdarstellung und Inszenierung. Schließlich leben wir einer institutionell hochgradig verregelten Welt, die so mit Vorschriften, Konventionen und Verboten zugestellt ist, dass Straße und Platz die einzigen Orte zu sein scheinen, die jedermann zur Verfügung stehen, um sich (mehr oder weniger) außerhalb dieses Regelwerks zu verhalten und zu äußern, um selbstgewählten und spontanen Handlungen nachzugehen.
Nach wie vor gibt es viele gute Gründe, den öffentlichen Raum als Ort zu sehen, in dem etwa Heranwachsende sich spielerisch an gesellschaftliche Bedingungen herantasten, ihre eigene Wirkung testen und dabei Grenzen ausloten. Andererseits besagen diverse sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass es damit nicht weit her ist: Vielerorts fühlen sich Nutzer des öffentlichen Raums immer mehr durch Menschen und Dinge gestört, die eigentlich dort Platz haben müssten, wenn die Stadt als Ort der Differenz und Diversität gelten soll.
Das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung wird auf der städtischen Bühne neu austariert
Vielerlei Aneignungsformen und Verhaltensweisen mögen den Bedürfnissen der Mittelklasse nach Eigenheim, Einkaufscenter und einem angeblich "naturnahen" Umfeld kaum entgegen kommen. Urbanes Flair genießt man zwar gerne mal. Aber den Unwägbarkeiten des öffentlichen Raums - die Konfrontation mit Fremden, die Anonymität, die Unsicherheit, wie man sich verhalten soll - setzt man sich nur ungern aus.
Also: Wie viel Neben- oder gar Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen im öffentlichen Raum möglich und erwünscht sind, bleibt demzufolge eine offene Frage. Und dennoch! Ob nun Urban Knitting und Zwischennutzer, ob Guerilla Gardening oder Stadtpioniere: In und mit solchen - mitunter anarchischen - Aktionen scheint sich tatsächlich eine Art des gesellschaftlichen Wandel anzukündigen: Das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung wird auf der städtischen Bühne gerade neu austariert.
Selbst die Fachgemeinde der Urbanisten und Planer scheint bereit, einen Gutteil ihrer Aufmerksamkeit dem Unbeständigen und Unbestimmten in den Städten zu widmen. Mal bewundernd, mal verunsichert zeigen sie auf die Lücken und Brüche, die eine spontane und informelle urbane Aneignung ermöglichen. Dahinter steht mitunter affirmative Absicht: Denn angesichts von Krise und Geldknappheit scheint es nötiger denn je, Planungen zu entwickeln, die sich von der "normalen" Logik der Stadtentwicklung abwenden und die bisher üblichen stadtplanerischen Drehbücher zu Immobilien, Baukrediten, Arbeitskräften im Bauwesen und Wohnungsbau neu definieren.
Unter dem Begriff "nomadisch grün" bekommt die Bewegung des Urban Gardening in dieser Argumentation einen prominenten Platz zugewiesen. Tatsächlich kann man ja die Prinzessinnengärten (Berlin) oder die AgroCité (Paris-Colombes) als Aufforderung zu einer neuen Lesart von Stadt sehen. Die in den letzten Jahren vielerorts entstandenen Gemeinschafts-, Kiez-, Nachbarschafts- und Interkulturellen Gärten zielen mit dem Grün als Medium zugleich auf die Stadt als Lebensraum und senden visuelle Vorstellungen von Urbanität, die das Auge zunächst irritieren.
Der Gemüseanbau in ausgedienten Bäckerkisten und umgebauten Europaletten auf dem stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof, an der Hamburger Großen Freiheit in St. Pauli oder unter dem Münchener Olympiaturm hinterfragt - mehr oder weniger subtil - unser Bild von der res publica. Zu den wesentlichen Adressaten gehören dabei die Planer, aber auch die Stadtverwaltung, die man bei der Gestaltung des öffentlichen Raums darauf aufmerksam machen will, dass die Stadt kein Container für noch mehr Autobahnen und Shopping-Malls ist, sondern ein Lebensraum für alle.
Mehr und mehr wird die Produktion von urbanen Räumen durch flexible, dynamische Strategien beeinflusst, die weniger um die Planungen der Kommune kreisen, sondern sich in unübersichtlichen informellen Prozessen aus der Eigeninitiative von zivilgesellschaftlichen Akteuren heraus entwickeln. Diesen Prozessen ist inhärent, dass sie zunächst in einer Gegenposition zur offiziellen Stadtplanung stehen, in Leerräumen und Nischen operieren.
"Warten auf den Fluss" nennt die Gruppe Observatorium ihre 38 Meter lange Brücke im Niemandsland an der Emscher - ein Mittelding zwischen hölzerner Relax-Zone, bewohnbarer Skulptur und Aufwertung eines ehemaligen Industriekanals. Das Gebilde aus Baustellenbrettern versteht sich als eine Art Stoppschild für die arrivierte Stadtplanung: Es wendet sich gegen ein "Weiter so", will stattdessen die Aufmerksamkeit auf die umliegende Ruderalvegetation und deren Aufenthaltsqualität lenken.1
Auch in Norwegen nimmt man auf neue Art den öffentlichen Raum ins Visier: Der Geopark in Stavanger (Helen & Hard) wirkt wie ein überdimensionierter Spielplatz, dessen bunte Elemente und Installationen - den Offshore-Basen und Bohrinseln entliehen und recycelt - einen brachliegenden Uferstreifen zum Hotspot umgestalten. Mit dem partizipatorischen Reformprojekt Die Baupiloten ist die Architektin Susanne Hofmann in Berlin angetreten, um spartanische Flure und genormte Pausenhöfe von Schulen und Kindergärten radikal neu zu denken. Ihr Geschäftsmodell ist so einfach wie erfolgreich: Mit dem gegebenen Etat für eine Umbaumaßnahme so zu haushalten, dass etwas übrig bleibt für unorthodoxe Verschönerungen. Die Basisbewegung Kinetisch Noord schließlich transformierte den alten Hafenspeicher und Teile des Werftgeländes der Firma NDSM in Amsterdam; sie schuf neben preiswerten Ateliers, Wohnungen und Veranstaltungsorten auch eine weltbekannte Skateparkhalle.
Viele Beispiele wirken beredt insofern, als sie veranschaulichen, dass Architektur weder ein bruchloses Anknüpfen an die Tradition ist noch das Ergebnis der Umstände ihrer Entstehung. Vielmehr offenbart sie sich als eine Praxis, die sich erst im Umgang mit Störungen erweist und bewährt. Gleichwohl ist längst nicht ausgemacht, dass das Provisorische eine zukunftsfähige Gestaltungsstrategie darstellt.
Einen ganz anderen - sicherlich traditionelleren, aber möglicherweise konsistenteren - Weg stellt das In-Wert-Setzen überlieferter baulicher Arrangements. Stadträumliche Strukturen, so die These, stellen stabile Qualitäten dar: Sie helfen einerseits, die Anfälligkeit in Krisen und Katastrophen gering zu halten; sie behindern oder verbauen andererseits nicht neue Entwicklungen. Allerdings ist es alles andere als banal, diesen Erfahrungsfundus zu bewahren und zu ertüchtigen. Weder scheint die notwendige Dichte, der sparsame Umgang mit Ressourcen noch die Verständigung auf eine ganzheitlich Stadtbaugestaltung gesellschaftlich gewollt.
Improvisation und Stadtplanung
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob Stadtentwicklung nicht etwas mit der Spieltheorie zu tun hat, der zufolge die Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten des Problems zu kennen, von denen einige bekannt sind, andere zufallsbedingt, wieder andere unbestimmbar. Zumal Urbanität "nicht das Ergebnis bewusster planerischer Entscheidung ist, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, an der eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, Interessen und Initiativen usw. beteiligt sind. In diesem vielschichtigen Prozess entsteht, wenn es gut geht, ein urbaner Ort. Planung behindert solche Prozesse eher, als dass sie diese befördert."2
Doch dieses Verdikt ist weniger vernichtend als es klingt; durch den Kontext wird klar, dass keineswegs die Daseinsberechtigung von Planung in Zweifel gezogen wird. Will sie aber ihre Rolle als steuernde Instanz zurück erlangen, muss die Improvisation - die im Kleinen durchaus Sinn macht - durch ein stabiles Konstrukt gestützt und in eine ganzheitliche Strategie eingebettet werden. Dabei kommt insbesondere der Frage, wie dabei immanente, bisher vielleicht kaum beachtete soziale und situative Qualitäten freigesetzt und für eine nachhaltige Konzeption der Stadt fruchtbar gemacht werden können, eine entscheidende Bedeutung zu.
Stadt braucht eine baulich-räumlichen Verständlichkeit, die korreliert mit Erfahrungen, Nutzungen und Beziehungen im täglichen Leben. Das Wort Kultur stammt schließlich vom Lateinischen cultura: Sorge um etwas. Gestaltung ist nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern Ausdruck des Umstandes, dass man sich kümmert.