Flexibel Wohnen: Ein praxisfremder Architektenidealismus?

Screenshots "Brilliant designs to fit more people in every city"

Möglichkeiten und Grenzen der gebauten Variabilität

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Dass Alexander Mitscherlich die "Unwirtlichkeit unserer Städte" anprangerte, ist gemeinhin bekannt. Dass er unserer Gesellschaft auch einen "Wohnfetischismus" attestierte, allerdings weniger. Gemeint hat er damit ein Verhalten, dass zuerst auf ‘Sauberkeit und Ordnung’ und erst dann auf die Bedürfnisse der Menschen und ihre Beziehungen zueinander ausgerichtet ist. Und das schätzte er als Hindernis für ein bedürfnisgerechtes Wohnen fast ebenso hoch ein wie die Sterilität mancher Großsiedlung.

Wobei das mit den Wohnbedürfnissen so eine Sache ist. Nicht nur ausreichend groß, bezahlbar und kommod, auch flexibel soll es sein, das eigene Heim. Sich in stärkerem Maße an sich verändernde Lebenssituationen anzupassen, ist als wohnungsbaupolitisches Desiderat seit langem erkannt und benannt. Die nicht determinierten Räume von Gründerzeitwohnungen mit ihren mehrfachen Erschließungen bieten hier fraglos mehr als die - auf die vermeintlichen Gebrauchsmuster der Kleinfamilie abzielenden - Grundrisse des modernen Wohnungsbaus.

Auch die Popularität, der sich Lofts bei einem bestimmten, meist freiberuflichem Klientel erfreuen, spricht diesbezüglich Bände. Trotzdem muss man konstatieren, dass sich im Wohnungsbau fast nur im "gehobenen" Marktsegment etwas bewegt - und dann eher im Service-Bereich mit Doorman- oder in Boarding-House-Konzepten als bei der Realisierung flexibler Wohnformen.

Natürlich kann man sagen, dass jene Utopie, die die Mach- und Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen - nicht zuletzt durch eine Ästhetik des Funktionalen - suggerierte, sich heute keineswegs mehr großer Beliebtheit erfreut. Wohl zurecht. Aber: Ist damit bereits alles, was seinerzeit die Köpfe bewegte, auf den Abfallhaufen der Geschichte zu werfen? Der Mensch hat in jeder Epoche stets neu versucht, den Stand der naturwissenschaftlich-technischen Kenntnis der Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse dienstbar zu machen, wobei in wohl kaum einen Bereich Form und Technik so unmittelbar mit dem Menschen verwoben ist wie im Wohnungsbau.

Deswegen ploppt das Thema ja immer wieder neu auf. So hat Kent Larson vom MIT vor einiger Zeit eine Idee entwickelt, die er "Brilliant designs to fit more people in every city" nannte. Larson ist der Meinung, dass es keine intelligenten Wohnungen gebe. Man müsse, sagt er, vielmehr dumme Wohnungen bauen und sie mit intelligenten Dingen einrichten.

Wohin das raumtechnisch führt, zeigt seine Animation eines wandelbaren Apartments. Wir sehen eine Anordnung sich permanent verändernder Räume. Wie von Geisterhand fahren Wände hin und her, mal klappt ein Bett aus ihnen heraus, mal ein Laufband, je nachdem, ob der Bewohner lieber schlafen oder trainieren möchte. Wir sehen multifunktionale Tische, die für zwei Personen ebenso geeignet sind wie für zehn, und Couchlandschaften, die plötzlich verschwunden sind. Wohin, bleibt unklar. In Larsons Hightech-Behausungen definiert die Funktionalität den Wert eines Möbelstücks. Je ausgefeilter die Technik, desto besser.

Es bleibt freilich dahingestellt, ob solche Entwürfe, ein Lebensgefühl optimal zu materialisieren und immer neue, temporäre Hüllen für das bewegliche Ich zu entwerfen, wünschenswert oder auch nur realistisch sind. Allerdings lohnt es, einen frischen Blick auf einige Bauten der jüngere Vergangenheit zu werfen.

Flexible Innenräume

Vor rund 18 Jahren ist im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg eine exemplarisch gemeinte Variation des Themas fertiggestellt worden: Das vollflächig verglaste Estradenhaus des Berliner Architekten Wolfram Popp in der Choriner Straße. Das bestimmende, namensgebende Element sind die Estraden, womit man im Französischen einen erhöhten Teil des Fußbodens bezeichnet (in einer Höhe von 40 cm und einer Tiefe von 1,80 m verlaufen sie durchgehend vor den Fassaden). Je Etage befinden sich eine 80 und eine 100 qm große Wohnung, die komplett frei von Innenwänden sind; auch Küchen und Sanitärzellen sind weitgehend offen an die Treppenhauswand gestellt. Einzig raumbildendes Element stellt die sogenannte "Kiemenwand" dar, eine Eigenkonstruktion aus 12 Holzplatten, die sich, jede separat, sowohl schieben als auch drehen lassen, damit Raumkompartimente entstehen. Sicherlich braucht es ein gewisses Bewusstsein, sich auf das Leben in einem "Einraum" einzulassen - und soweit es sich feststellen lässt, verfügen die Mieter darüber.

Der siebengeschossige Bau fällt zwar gestalterisch aus der Reihe, seine vollständige Offenheit, Transparenz und Variabilität aber sieht man ihm von außen kaum an. Balkone, deren Brüstung aus feinmaschigem Metallgewebe besteht, verlaufen über die ganze Hausbreite und betonen die horizontale Fassadengestaltung. Die wiederum evoziert ein bekanntes Bild und lässt an ein Bürogebäude oder Ähnliches denken. Weit davon entfernt, sich architektonisch zu entsagen, merkt man doch, dass das Ziel der inneren Flexibilität zu einer, sagen wir mal, unsentimentalen Wiederholung der Fassadenstruktur zwingen kann.

Es ist die alte Geschichte: Wenn die Begrüßung der "industriellen Massenkultur" zu den Gründungsakten der Moderne gehört, so dürften die Signaturen des Technischen wichtiger als der tatsächliche Effekt gewesen sein. Nur so lässt sich jenes unentschlossene Lavieren zwischen elementierter Rationalität und ganzheitlicher Ästhetik verstehen, das das Bauen seit nunmehr acht Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt hat.

Modelle für eine Flexibilisierung der Architektur

Gelungene Versuche, beides unter einen Hut zu bringen, sind eher selten. Am Schleswiger Ufer in Berlin-Tiergarten indes, unweit des Hansaviertels und des Geländes der Interbau von 1957, zeigt sich dem Ortskundigen ein Objekt, das diesem Anspruch - auch im Sinne der Architektur - genügen möchte. Obgleich nach über zwanzig Jahren noch authentisch präsent, macht es den Anschein, als müsse es beizeiten aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst werden, in den ihn der postmoderne Zeitgeist der 80er Jahre gewiegt hatte.

Zur Vorgeschichte: 1965 wurde von der europäischen Montan-Union ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, der die Konzeption eines industriell zu fertigenden Wohnhauses aus Stahl zum Gegenstand hatte. Den 1. Preis errang der Göttinger Architekt Jochen Brandi. Seine Vision eines langgestreckten, puebloartigen Wohnwalls wurde zwar ein Jahr später auf der Weltausstellung in Montreal stolz einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert (noch größer allerdings dürfte das Staunen über Moshe Safdies Raumstruktur dortselbst gewesen sein), aber der nächste Schritt ließ auf sich warten.

Als erstes Demonstrativprojekt tatsächlich ausgeführt wurde dann ab 1973 ein fünfgeschossiges Terrassenhaus. Was sich hier, unmittelbar an der Spree in Cityrandlage niedergelassen hat, ähnelt einem schwarzen kubischen Ufo. Gleichsam über den Boden schwebend tritt er als bloßer Solitär in Erscheinung, weitgehend ohne städtebauliche Einbindung und irgendwie ortlos, wiewohl er den Anspruch einer weit über sich selbst hinausgreifenden "Struktur" erhebt. Nun gut, schließlich handelt es sich um einen Experimentalbau.

Und um ein Symbol. Die Sprache des Elementierten, Variablen, Sachlich-Stählernen versucht, den Glauben an Zukunft, den Sieg der Rationalität, Mindestwohlstand für alle und kulturelle Emanzipation durch die Technik werdenden Menschen zu vermitteln. Monotonie - die immanente Gefahr einer gleichgestalteten Baukastenreihe - sollte mittels frei platzierbarer Fassadenelemente, die leicht austauschbar sind, verhindert werden. Der Versuchsbau, in drei Bauabschnitten realisiert, ist nicht eben visionär, aber gekonnt durchdacht und -komponiert.

Die Idee der hängenden Gärten ließ sich, durch die Aufschüttung der Terrassen mit Kieseln und Gräsern, durch Bodentexturen mit Holzlattenrosten, so einfach wie eindrucksvoll verwirklichen. Während ein etwa zeitgleiches Bauvorhaben mit durchaus ähnlicher konzeptioneller und konstruktiver Haltung - die Rostlaube der FU - vehemente Kritik auf sich zog, fand der Versuchsbau Brandis ein durchweg positives Echo.

Umso mehr wundert man sich, dass er anscheinend dem Vergessen anheimgefallen ist. Das mag seiner mangelnden Spektakularität und seiner Unaufgeregtheit geschuldet sein. Und neuartig ist die Bauform nur insofern, als der Rhythmus ihrer Primärstruktur und das freie Maßwerk ihres Ausbaus jene Funktionen übernehmen können, die seinerzeit das Denkmodell des Fachwerks erfüllt hat: Nämlich ein zeittypisches, allgemein verständliches und akzeptiertes Ordnungsprinzip darzustellen, dass den Rahmen und Maßstab individueller Selbstverwirklichung bildet.

In seiner Darstellung indes wirkt der Bau heute etwas indifferent: Stringent und doch ein bisschen zerklüftet, frappant modern und doch etwa antiquiert. Leicht und filigran, dabei etwas einschüchternd durch die schwarze Beschichtung der Fassadenpaneele; akzentuiert durch gelbe und rote Elemente, abgehängte Stahlblechlamellen, Markisen sowie weiße Pergolastäbe, die zusammen‘gesteckt’ den Baukastengedanken bildhaft machen (und an Kindheitstage mit "Fischer-Technik" oder "Lego" erinnern).

An ein Regal, das zu füllen dem Nutzer zwar nicht ganz freigestellt, aber doch ermöglicht wird, erinnert ein ganz anderes Gebäude, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss. Eine variable Struktur und frei disponible Wohnungsgrundrisse waren es, die beim vielbeachteten Wohnregal von Kjell Nylund, Christof Puttfarken und Peter Stürzebecher in Kreuzberg im Rahmen der IBA 1984-86 verwirklicht werden sollten. Das in der Fachwelt viel beachtete experimentelle Projekt fügt sich fast nahtlos ein seine Umgebung, indem es - bekrönt von einer mittigen Zinne in Form einer Dachterrasse - mit seinen sieben Geschossen eine Baulücke in der Admiralstraße schließt.

Das Gebäude zerfällt zeitlich und konstruktiv in zwei Teile: Zunächst errichtete man ein weitmaschiges Gerüst aus Stahlbetonfertigteilen, das Dach, Treppenhaus sowie Ver- und Entsorgungseinheiten, beinhaltetet. Der nackten Regale bemächtigten sich sodann die künftigen Mieter, um in Selbstbauweise, aber in Zusammenarbeit mit den Architekten, jeweils zweigeschossige, individuelle geschnittene Wohnungen in Holzskelettbauweise einzupassen. Noch heute, nach dreißigjähriger Nutzung, findet dieser Anspruch einen architektonisch zurückhaltenden, wiewohl überraschend vitalen Ausdruck.

Bei allen drei Bauvorhaben - beim einen mehr, beim anderen weniger - gingen die Ambitionen durchaus ins Grundsätzliche, wobei das Spiel immer auf der Möglichkeit vielfältiger Verwendungen weniger gleichförmiger Elemente beruht: Dass aus industriell standardisierten Einzelteilen nicht zwangsläufig jene normierten Bauwerke resultieren müssen, die allerorts beklagt werden; dass der Innenausbau nicht von einzelnen Fachleuten oder fabrikmäßig vorgegeben ist, sondern eine vielfältig variable Raumbildung durch die Bewohner und Benutzer selbst zulässt. Es ging, kurz gesagt, um das permanente Angebot des flexiblen Ausbaus, um die Umstellung auf eine variable Wohnweise und ihre sozialpsychologischen Auswirkungen.

Inwieweit freilich die Alltagswirklichkeit mit der Theorie Schritt halten konnte, ist eine offene Frage. Erprobt werden sollte ein Wohnungsprogramm, das seine Maßordnung in den Bedürfnissen des Menschen findet; ein Raumreservoir, das, im Interesse des Benutzers, zur Veränderung freisteht, das verlockt zu eigenen Einfällen, freien Entscheidungen und bewusster Selbstbestimmung. Doch die Bewohner, einmal eingezogen und heimisch geworden, haben die Wände und Ausbauelemente letztlich nicht mehr verändert. Sie haben sich, am Schleswiger Ufer und in der Admiralstraße, mit der ersten Setzung auf ebensolche Weise arrangiert und Alternativen kaum in Anspruch genommen, wie in der Choriner Straße anhand eines loftartigen Einraums eine großstädtische Lebensweise stilisiert wird.

Vielleicht ist für ein bedürfnisgerechtes Wohnen weniger die Variabilität des Grundrisses, als vielmehr die Anzahl unterschiedlicher Angebote innerhalb des innerhalb des Hauses oder der Nachbarschaft ausschlaggebend. Und wer weiß, ob nicht unsere Trägheit und Vorgefasstheit stärker als alle finanziellen Restriktionen und alles konzeptionelles Ungenügen ursächlich dafür sind, wie das Wohnungsangebot aussieht und wie es genutzt wird.