Flottierendes Misstrauen

Das erste Fernsehduell der Präsidentschaftskandidaten war ein wichtiges mediales Ereignis, kein Wunder, dass die Anhänger des einen Kandidaten Betrügereien beim jeweils anderen gesehen haben und mit Bildern beweisen wollen

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Es ist die Zeit des Misstrauens. Je mehr Spin, je mehr Inszenierung, je stärker die Präparation für die Medien, desto eher glauben die Menschen, dass sie betrogen werden. Das ist gewissermaßen vernünftig und Skepsis oder Ent-Täuschung war auch schon zu Zeiten der aufkommenden Aufklärung ein Heilmittel, aus dem paradigmatisch aus dem cartesianischen Zweifel der Siegeszug von Rationalität und Wissenschaft hervorging, die heute eben jene Höhlen der Täuschung konstruieren.

Eine neue Rationalität ist noch keineswegs zu erkennen. Dafür aber wachsende Bereitschaft, in allem eine Inszenierung zu sehen und Fallen zu wittern. Paranoia und Verschwörungstheorien werden attraktiv - nicht nur bei denjenigen, die Regierungen misstrauisch beobachten, sondern auch bei Regierungen selbst, die mitunter die Bedrohungen nicht nur verstärken, sondern auch schaffen, vor denen sie angeblich ihre Bürger schützen wollen.

Kein Wunder, dass vor den Präsidentschaftswahlen in den USA auch die überraschungsfrei geplanten Medieninszenierungen hinterfragt werden, die als wesentlich für den Ausgang der Wahl gelten: die Fernsehdebatten der Kandidaten. Sie sind, geregelt durch ein detailliertes Memorandum of Understanding, infotainment pur, schließlich kommt es dabei weniger darauf, was gesagt wird, sondern eher darauf, wie dies getan wird, also wer sich besser, souveräner oder eleganter vor den Kameras und auf den Bildschirmen verhalten kann. Und gerade weil sich die Kandidaten monatelang auf diese Auftritte beim Fernsehduell vorbereiten und die Performance das einzig Ausschlaggebende ist, wird nach Zeichen gefahndet, wo geschummelt wurde.

Nach Meinung vieler Kommentatoren und nach einigen Umfragen scheint im ersten Duell der Herausforderer Kerry gewonnen zu haben. Er wird als souveräner geschildert. Bush-Anhänger wurden dann auch fündig und entdeckten eine im Sinne des MoU verdächtige Szene: "No props, notes, charts, diagrams, or other writings or other tangible things may be brought into the debate by either candidate." Bevor Kerry auf die Bühne trat, fasste er mit einer Hand in eine Brusttasche seiner Jacke und legte womöglich etwas auf das Pult: ein Papier mit Notizen, vermuten Bush-Parteigänger und solche Menschen, die wie Drudge von Skandalen leben. Da wird dann auch mal schnell von Debategate gesprochen.

Hat also Kerry geschummelt, zumindest aber sich nicht an die Regeln gehalten? Als Beweis werden Videos vorgeführt und Standbilder gezeigt. Vielleicht hat er nur ein leeres Papier oder einen Stift hervorgeholt, Schreiben während der Debatte ist erlaubt. Aber ein Verdacht bleibt selten allein. Die Kerry-Anhänger schlagen zurück. Auch Bush habe geschwindelt.

Auffällig sei nämlich gewesen, dass Bush während seiner Äußerungen oft lange Pausen gemacht habe. Besonders verdächtig fiel offenbar auf, als Bush einmal gesagt habe: "Let me finish", obgleich weder Kerry noch Moderator Jim Lehrer ihn unterbrochen hatten oder dies tun wollten. Bekanntlich ist Bush von Karl Rove erfolgreich aufgebaut worden, und er soll noch immer alle Fäden der Wahlkampagne in Händen halten.

Bush, der Vielen als nicht besonders intelligent gilt, wird von Rove an der langen Leine gehalten. Was Bush sagt, ist, was Rove ihm vorgesagt hat. Um keinen Schnitzer zu machen, wurde Bush also auch in dem Fernsehduell an die Leine in Form eines Kopfhörers gelegt, vermuten Manche misstrauisch, so dass Rove die Antworten direkt in das Ohr von Bush einspeisen kann, was eben dazu führt, dass er öfter einmal Pausen machen muss, um zuzuhören. Und als Bestätigung werden ebenfalls Bilder präsentiert, die zeigen, dass Bush an seinem Rücken eine seltsame Ausbuchtung hat: ein Kabel oder ein Empfänger?

Erstaunlich ist, welche Bedeutung Bilder erhalten, auch wenn sie gleichzeitig im Zeitalter ihrer beliebigen technischen Manipulierbarkeit unter Generalverdacht stehen. Immerhin wird aber, was Internetforen ermöglichen, jede Behauptung auch wiederum kritisch hinterfragt - und damit im Internet eine Aufklärung von unten betrieben. Im Fall von Bush könnte die Ausbuchtung möglicherweise von einer Schussweste stammen, wird gesagt. Andere meinen, dass für Kopfhörer am Rücken ein Kabel unsinnig wäre. Wieder andere wollen auch bei Kerry am Rücken eine Ausbuchtung gesehen haben ... Aber wenn Politik vornehmlich Inszenierung und Spin ist, dann muss man sich nicht wundern, wenn überall Manipulationen vermutet werden.