Foucault: Philosophie gegen die wertebasierte Weltordnung
Seite 2: Foucaults Ethik der Lebenskunst
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Solche Wahrheiten können nicht universalistisch sein, nicht immer und überall und für alle Geltung beanspruchen.
Zu Ende gedacht ergibt sich anstelle einer wertebasierten Weltordnung, die von einem Weltpolizisten mit Militärgewalt oder Wirtschaftskriegen den Schurkenstaaten aufgezwungen wird, eine Forderung nach Hilfe für alle Unterdrückten und Benachteiligten – im In- und Ausland.
Der Philosoph Thomas Schäfer spricht von einer antitotalitären, antinormativen Machtkritik Foucaults, die nichts mit angeblich antihumanistischem Relativismus zu tun habe, der ihm von manchen unterstellt wurde.
Andere nannten ihn sogar einen "Handlanger Hitlers", der "die Menschenrechte beleidige", man verzeihe ihm seine "Verkündung des Todes des Menschen" nicht, so empörte sich Foucaults postmoderner Mitstreiter Deleuze 1986.1
In seinem berühmten Schlusssatz aus "Die Ordnung der Dinge", der Mensch würde verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, ließ Foucault gewohnt lyrisch-provokativ Nietzsches Übermenschen anklingen.
Er zielte aber auf "den Menschen", auf das Menschenbild der Humanwissenschaften, der von ihm kritisierten Psychologie, Psychiatrie, Kriminologie usw. und die unter deren Ägide konstituierte Subjektformung.
Es sind durchaus keine pöbelnden Twitter-Trolle, die mit aller Gewalt versuchten, Foucault zu diskreditieren, sondern oft angesehene Inhaber von Machtpositionen. 2021 wurden sogar Gerüchte über angeblich pädophile Verfehlungen Foucaults kolportiert, Beweise dafür blieben deren Verbreiter allerdings schuldig.
Die Bio-Macht und der Nationalsozialismus
Wer Machthaber kritisiert, braucht nicht lange auf Stigmatisierung zu warten, auch wenn der angebliche "Handlanger Hitlers" seine tiefgründige Kritik moderner staatlicher Bio-Macht bekanntlich in einer drastischen Verurteilung des Nazismus gipfeln ließ.
Der Nazismus habe die Bio-Macht krampfhaft bis ins mörderisch- selbstmörderische gesteigert, so Foucault. Erkennbar sei das an Hitlers "Telegramm 71", mit dem Führerbefehl, die Lebensgrundlagen auch des deutschen Volkes zu zerstören (Anmerkung der Redaktion: Foucault bezieht sich bei seinen Vorlesungen auf dieses Telegramm, die historische Quelle dazu kann von der Redaktion nicht referiert werden).
Anschließend kritisiert Foucault, wenn auch milder, Sozialismus und Sowjetstaat.1
Solidarität
Solidarität zu üben, war für Foucault Teil der Selbststilisierung, der von ihm proklamierten Ethik der Selbstgestaltung des Subjekts. Foucault stand an der Seite von streikenden Arbeitern und revoltierenden Häftlingen in Paris, er unterstützte die Gewerkschaft Solidarnosch in Warschau gegen das Sowjetregime und aufständische Moslems, die in Teheran gegen die vom Westen installierte Diktatur des Schah kämpften.
Foucaults Ethik als Lebenskunst der Selbstsubjektivierung setzt gegen Normen und Normalisierungen auf die Wahl von (Lebens-) Formen und Transformierungen.1
Andere sehen in neuerer Foucault-Rezeption eine Weichspülung für seine Gesellschaftskritik; die spätere Fixierung auf den Begriff der Gouvernementalität weiche der nietzscheanischen Schärfe seiner Machtanalytik aus.1
Man findet Verständnis für die Regierenden und verweist die Regierten auf Selbststilisierung der Ästhetik ihrer Existenz: "Diese deutsche Lebenskunst tut niemandem weh, schlimmer: Sie will helfen." Geisteswissenschaft degeneriere damit trotz Foucault-Lektüre zum "Dienstleister der Kulturindustrie".1
Fazit
Foucaults nicht-universalistische Ethik lehnt Werte nicht ab, regt aber an, die aus der jeweils eigenen Situation heraus gewählten Werte anderen nicht vorzuschreiben, sondern vorzuleben. Foucaults Diskursanalyse der Philosophie stellt sich in die dadurch zusammengeführten Traditionen von Kant und Nietzsche.
Foucault scheut sich nicht, die Philosophie komplett neu zu denken, um ewigen Wahrheiten, der Metaphysik des Subjekts und universalistischen Werten eine fundierte Absage zu erteilen.
Bleibt die Frage, warum der Meisterdenker der Machtkritik ausgerechnet sein Buch über den Diskurs der Philosophie nicht sofort publizierte, sondern in der Schublade verschwinden ließ.
Der Philosoph und Foucault-Experte Martin Saar spekuliert, das Ergebnis dieses Werkes sei eben gewesen, dass die Philosophie nur ein Diskurs wie viele andere sei – und das Buch damit überflüssig.
Doch das ist wohl sehr unwahrscheinlich, denn Foucault wollte damit ja gegen absolute Wahrheitsansprüche auch gerade der Philosophie argumentieren. Eher wird er, vier Jahre bevor er dann den französischen Olymp akademischer Elite mit seinem Lehrstuhl für Ideengeschichte erklimmen konnte, aus taktischen Gründen Zurückhaltung geübt haben.
Denn ganz so herrschaftsfrei wie von Habermas erhofft sind wohl auch am College de France die philosophische Diskurse nicht.
Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S. Rezension von Thomas Barth.
Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen.
Seine (Ideen–) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk "Sexualität und Wahrheit" sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne.
Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen.
Das Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch "Die Ordnung der Dinge", das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung "Die Archäologie des Wissens".