Frankreich: Beinahe-Diktator Macron
Proteste gegen Rentenreform. Präsident: "Der Mob hat keine Legitimität gegenüber dem Volk." Dabei lehnt sich die Gesellschaft gegen ihn auf.
Man weiß nicht, worüber die beiden Gäste des Café in Paris bei einem Glas Wein reden. Auffällig ist ihre Contentance, immerhin brennt ein paar Meter von ihrem Tisch entfernt ein Barrikaden-Feuer, wenn auch nicht einschüchternd überdimensioniert. Eine Frau nimmt in aller Ruhe am Nebentisch Platz, Passanten gehen gelassen vorbei.
Frankreich ist gegenwärtig ein interessantes Gelände, wenn es um den Zustand der Demokratie geht. Morgen steht der nächste Protesttag gegen die Rentenreform an. Staatspräsident Macron deutete an, dass er mit Gewerkschaftsvertretern reden wolle, aber keinesfalls in der Sache zurückweichen werde.
"Das Klima der Gewaltausschreitungen (i.O. "violences") erhöht von Stunde zu Stunde den Druck auf einen Präsidenten, der nicht nachgibt", kommentiert Le Monde.
Gewalt
Man beachte den Plural. Die Zeitung ist weniger einseitig als der Präsident. Sie verurteilt keinen gewalttätigen Mob, der auf der Place de la République und anderswo Protestfeuer legt und den Polizisten Feuerwerkskörper und anderes entgegenschleudert. Sie dokumentiert, wie viele andere Medien auch, die erschreckende Polizeigewalt in einem der Herzländer der regelbasierten Demokratien des Westens.
Für deren brutalen Einsatz gegen Demonstranten gibt es viel Belegmaterial. Auch von öffentlich-rechtlichen Sendern wird dies als Skandalon behandelt.
Laut einer Odoxa-Umfrage vom 23. März waren 30 Prozent der Befragten der Meinung, die Regierung habe die Ausschreitungen und die Gewalt provoziert. Laut einer Elabe-Umfrage halten sie sogar 44 Prozent der Befragten für akzeptabel und vertretbar.
Entnommen ist dies einem Bericht des Fernsehsenders TF1. Dort werden noch andere Ergebnisse präsentiert, die lediglich 20 Prozent Zustimmungsraten ermitteln, wobei hinzugefügt wird, dass die Gelbwesten auf 15 Prozent kamen. Die höchsten Zustimmungsraten gab es bei Anhängern der Linksaußen-Partei La France insoumis (30 Prozent) und der Rechtsaußen-Partei Rassemblement national (29 Prozent).
Von einer Querfront, wie es manche in Deutschland in Gesprächen anspielen, ist nicht zu reden.
Die Gegnerschaft zur Rentenreform geht durch alle politischen und gesellschaftlichen Schichten, sie beträgt je nach Umfrage mindestens zwei Drittel, bei manchen noch mehr. 68 Prozent Ablehnung hatte etwa das Umfrage-Institut Ifop Ende Januar ermittelt.
Von dort ist aktuell zu erfahren, dass 79 Prozent der Befragten nicht davon ausgehen, dass Macron angesichts der Proteste seine Reformpläne ändern wird.
Nur die Jüngeren, im Alter zwischen 18 und 24 Jahren, glauben mit einem bemerkenswerten Anteil von 41 Prozent daran, dass die Regierung angesichts der Proteste von ihrer Reform ablässt.
"Leben wir noch in einer Demokratie?"
"Leben wir noch in einer Demokratie?", fragt ein Beitrag des ziemlich jungen Mediums Blast, gegründet von einem ehemaligen Journalisten der Libération, Denis Robert. Dort ist die Rede davon, dass 93 Prozent der Franzosen, die im erwerbsfähigen Alter sind, sich gegen die Heraufsetzung des Rentenalters aussprechen.
Die Kernbehauptung des Beitrages, dass Macron kraft seines Amtes eine solitäre Machtpolitik betreibt, die mindestens im Konflikt, wenn nicht gar im Gegensatz zu Grundlagen der Demokratie steht, wird auch von anderen Medien geteilt.
Als exemplarisch wird die Zuhilfenahme des Verfassungsartikels 43.9 durch die Regierung erwähnt. Trotz mehrfacher Beteuerungen, es diesmal nicht zu tun, griff die Regierung zu diesem Mittel, mittlerweile zum 11. Mal, um eine Abstimmung im Parlament zur Rentenreform zu umgehen.
Das heißt, wie es hierzulande im Verfassungsblog auf den Punkt gebracht wird:
Die Nationalversammlung hat dem Gesetz nie zugestimmt. Es gab und gibt keine Mehrheit in der Volksvertretung für dieses Gesetz.
Maximilian Steinbeis
Noch wird im Conseil constitutionnel, in dieser Angelegenheit dem deutschen Verfassungsgericht ähnlich, über Beschwerden beraten, ob der Artikel 49.3 in der Sache überhaupt von der Regierung herangezogen werden durfte. Ob sie mit Tricks bestimmte Auflagen ausmanövriert hat.
Doch hat Emmanuel Macron bereits durch Aussagen erkennen lassen, dass er ein elitäres Demokratieverständnis pflegt. "Der Mob hat keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter ausdrückt" – im Original: "La foule n’a pas de légitimité face au peuple qui s’exprime à travers ses elus" – sagte Macron vergangene Woche gegenüber den Abgeordneten im Parlament. (Die Proteste verglich Macron bei dem folgenden TV-Auftritt vergangene Woche mit dem Sturm aufs Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 sowie jenem in Brasilia am 8. Januar dieses Jahres.)
"Der Menschenauflauf, die randalierenden Massen auf der Straße" hätten "keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter*innen ausdrückt", übersetzt der Verfassungsblog die Aussagen Macrons vor den Parlamentariern und hält dem entgegen, dass es weder la foule noch le peuple sind, die diesen Zorn artikulieren, sondern la societé, die Gesellschaft.
Macron praktiziere eine "selbstherrliche, technokratische, im Grunde unpolitische Attitüde des Bescheidwissens darüber, was gut ist fürs Land, völlig egal in welchem Verfahren und mit welcher Legitimation". Die ganze hermetisch nach unten abgeschlossene Politik-Verwaltungs-Business-Elite des Landes sei so drauf. Macron aber ist Staatschef. Da geht das nicht.
"Das wird ihm übel genommen, und zwar zu Recht. Ihm und der Verfassung, die ihm das möglich macht", schreibt Maximilian Steinbeis.
Allmächtige Präsidentschaft
Damit steht die deutsche Publikation Verfassungsblog nicht allein. Auch die Financial Times, nicht gerade ein Kampfblatt der antikapitalistischen Linken oder der populistischen Rechten, stellte in ihrer Wochenendausgabe die abgehobene Elite-Politik, mit einem übermächtigen Präsidenten in einem zweiseitigen Artikel heraus. Allerdings mit einer letzten Hoffnung auf Macron:
Frankreich kann so nicht weitermachen. Es ist an der Zeit, die Fünfte Republik mit ihrer allmächtigen Präsidentschaft - die in den Industrieländern einem gewählten Diktator am nächsten kommt - zu beenden und eine weniger autokratische Sechste Republik zu gründen. Macron könnte die Person sein, die das tun kann.
Simon Kuper, Financial Times
Ob Macron dazu bereit ist? Bislang lässt Macron nur gelten, was er für richtig hält. Und bislang hat er nichts gesagt, was daraufhin deutet, dass der "Jupiter-Präsident" vom Konzept der Fünften Republik lassen könnte, die ihm eine derartige Machtfülle einräumt. Sein Motto bleibt: "Reden nur, wenn meine Meinung gilt."
Anstatt als Vermittler zu wirken, heize er die schwere innenpolitische Krise mit seiner "Standfestigkeit" zusätzlich an, befindet sogar die konservative Neue Zürcher Zeitung.