Frankreich: Die Gelben Westen an der Schwelle zur politischen Bewegung
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Der vierte Akt der Protestbewegung: Die Sicherheitskräfte können die Gewalt etwas eindämmen und fallen wieder mit eigener Gewaltanwendung auf. Politisch hoffen nun einige auf das Zusammengehen der Proteste mit Klimaschützern
Macron unterbrach gestern kurz die Vorbereitungen zu seiner wichtigen Rede, um den Sicherheitskräften für ihre Arbeit zu danken. Sie hätten Mut bewiesen und einen außergewöhnlichen Professionalismus, schrieb er auf Twitter.
Das Schlimmste wurde verhindert, lautet eine Einschätzung zum gestrigen Protesttag der gelben Westen in Paris, die aus den großen Zeitungen herauszulesen ist - "dieses Mal hat das Chaos nicht triumphiert" (Le Parisien), "es gab Gewaltszenen, aber verhältnismäßig weniger als vor einer Woche" (Le Monde). Erleichterung war auch in den Expertenrunden zu spüren, die im öffentlich-rechtlichen Radiosender France Info den ganzen sehr speziellen Tag bis weit in die Nacht hinein begleiteten.
Angst
Es war der "vierte Akt" der Protestbewegung, der von allerlei Dramatisierung angeheizt worden war und vor dem viele, ganz besonders in Paris, Angst hatten. Die Läden auf den Prachtstraßen war verbarrikadiert, so viele Gegenstände wie möglich, die zum Wurf verwendet werden können, wurden bei den Vorbereitungen von den Straßen und Bürgersteigen entfernt; ein Teil der Bewohner flüchtete aus der Stadt, auch Geschäftsinhaber.
An der Antwort auf die Frage, ob die Geschäftsinhaber und Bewohner kritischer Zonen bei einem eventuellen "fünften Akt" am nächsten Samstag diesmal in der Stadt bleiben würden, könnte man ablesen, wie groß der "Erfolg" des Einsatzes der Sicherheitskräfte tatsächlich war.
Einschüchterung
10.000 waren allein in Paris eingesetzt, 89.000 in ganz Frankreich, auch gepanzerte Wagen der Gendarmerie waren in Innenstädten, nicht nur in Paris aufgefahren - präventive Einschüchterung spielte eine wesentliche Rolle bei der "neuen Vorgehensweise" der Polizei, die Regierungschef Philippe und Innenminister Castaner später lobten und die den Anlass zum Dank des Staatschefs Macron gab.
Trotz der Angst und der Einschüchterung, die auch bei den Teilnehmern der Gelben Westen-Proteste eine Rolle spielte, mobilisierte die Bewegung 136.000 Personen, wie der Innenminister am Sonntagmorgen bilanzierte.
Festnahmen
Auffallend ist die Zahl der Festnahmen am gestrigen Tag: 1.723 in ganz Frankreich ("Rekord" schreibt Le Parisien) und 1.082 allein in Paris. Eine Woche zuvor, am 1. Dezember, waren es 412 "Interpellations". Das ist ein enormer Unterschied, der mit der neuen Taktik zu tun hat.
Die "Interpellations" können ein kurzzeitiges Festhalten zur Aufnahme der Personalie und eine Durchsuchung bedeuten - letztere kann auf sehr unangenehme Weise durchgeführt werden -, oder länger dauern, wenn es in den Polizeiwagen oder aufs Polizeirevier geht. Daher ist die Zahl derjenigen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, relevant. Dies widerfuhr 1.220 Personen in ganz Frankreich und 900 Personen in Paris. Am heutigen Morgen wurden knapp 400 in Paris wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Gewaltfrage
Nun könnte man sich darüber streiten, ob nicht allein der Ausdruck "widerfuhr" schon die Täter- und Opferrolle so akzentuiert, dass die Ordnungskräfte schlecht wegkommen. Immerhin hatten sie Befehl, ein Chaos zu vermeiden, wie es vor einer Woche passierte, somit sollten die "Casseurs" (Randalierer) möglichst aus dem Verkehr gezogen werden.
Wie Gewalt eingesetzt wurde, welcher Art sie ist, von welcher Seite sie kam und wie sie begründet wird, ist wichtig nicht nur für das Klima der Auseinandersetzung zwischen der Protestbewegung und der Staatsmacht, sondern für die politischen Resultate.
Immerhin habe Macron die Treibstoff-Steuererhöhung zurückgenommen, das sei auf Druck der Ereignisse am 1. Dezember passiert - der Satz "ohne Gewalt gibt es keine Ergebnisse" wurde gestern mehrfach vonseiten der Sympathisanten der Protestbewegung geäußert.
Enorme Schäden
Eine Ortsbesichtigung der Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, zeigt allerdings, dass es dem Protest auch beim vierten Akt nicht an Gewalt und Zerstörung fehlte. Auch sie bedankte sich bei der Polizei - und den vielen Kräften, die dabei halfen, den Schaden zu reparieren. Sie spricht von enormen Schäden und das ist in eine nüchterne Bilanz mithineinzunehmen.
Es findet keine Revolution statt, auch wenn sie Verklärer der Protestbewegung und kriegsverblendete Franzosen im fernen Syrien ausrufen wollen.
Die Institutionen der Republik seien nicht in Gefahr, sie funktionieren, wurde gestern häufig in der Expertenrunde bei France Info betont. Den Sicherheitskräften sei es am Sonntag zudem gelungen, die Gewalttäter von den zivilen Protestierenden besser zu trennen. Es käme nun ganz auf den politischen Prozess an.
Fies abgezielte Polizeihärte
Dazu ist anzumerken, dass die Polizei mit großer, fieser Härte vorging. Der Spott über Erdogans billigen und durchschaubaren Versuch, politische Vorteile einzuheimsen (Erdogan rügt "exzessive Gewalt" gegen Demonstranten), ist ebenfalls billig, wie sich anhand einiger Bilder zeigt, die dokumentieren, dass auch die Aussage "Die Sicherheitskräfte sind präsent, um weh zu tun" zutrifft.
Die wahrscheinlich größte Aufmerksamkeit zieht ein Video auf sich, auf dem ein unbewaffneter Demonstrant, der sich mit ausgebreiteten Armen und in gebührender Distanz vor eine Formation von Polizisten stellte und zur Antwort ein Gummigeschoss in den Bauch bekam. Ein polizeilicher Anschauungsunterricht darüber, dass die "flashballs" kein Spaß sind?
Gemacht wurde die Aufnahme von der unabhängigen Reporterin Stéphanie Roy. Sie veröffentlicht auf Twitter mehrere hässliche Aktionen der CRS, die offensichtlich bemüht waren, ihren seit Jahrzehnten aufgebauten Ruf bestätigten, besonders brutal auch gegen Unschuldige vorzugehen, wenn sie sie sich am falschen Ort befinden. Auch andere Beobachter bestätigen, dass Gummigeschosse, die den Kopf treffen, keine Kleinigkeit sind (siehe auch hier).
"Schande über die, die hier beschönigen", könnte man in Anlehnung an Macrons Rede zur Gewalt der Protestierer, die er am Rande des G20-Gipfels hielt, sagen. Der Einsatz der Polizeigewalt erfolgte zielgerichtet. Und Bilder von blutenden Köpfen zeigen, das hier großes Risiko miteinkalkuliert wird. Le Monde nicht gerade ein subversives, anarchistisches Medium berichtete davon, dass Polizisten mit ihren Gummigeschoss-Waffen unverkennbar direkt auf Köpfe von Journalisten zielten.
Dass der latent dauernd präsente Vorwurf, kritische Journalisten würden nur einseitig vorgehen, nicht zutrifft, sieht man bei der erwähnten Reporterin Stéphanie Roy, die auch zeigt, wie die Proteste für Plünderungen ausgenutzt werden und Gewalt mit Gewalt beantwortet wird.