Frankreich: Die Wut steigt weiter

"Ihr glaubt, dass es aufhört, wenn Ihr gehorcht. Aber wegen eures Gehorsams geht es weiter." Protestplakat vom 11.3.2023. Foto: Bernard Schmid

Nach Macrons TV-Ansprache: Kein Dialogangebot, keine Aussichten auf schnelle Beruhigung der Lage. Proteste gegen Rentenreform weiten sich bei Jüngeren aus. Polizei schreitet repressiv ein. Regierungsprinzip: Augen zu und durch?

Hätte es einer Beruhigung der Lage dienen sollen, dann ging der Effekt gründlich daneben. Infolge der TV-Ansprache von Staatspräsident Emmanuel Macron am gestrigen Mittwoch geben in ersten demoskopischen Erhebungen 61 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen an, seine Äußerungen seien dazu geeignet, "die Wut weiter zu steigern".

70 Prozent derer, die zuschauten, erklärten, trotz guten Zuredens habe das Staatsoberhaupt sie "nicht überzeugen" können. Und nicht alle schauten ihm auch zu, obwohl die Einschaltquote mit zehn Millionen nicht gänzlich geringfügig ausfiel. Doch die soziale Zusammensetzung der Zuschauerschaft dürfte sich aus der Uhrzeit ergeben.

Bereits die Wahl der Uhrzeit ließ erkennen, dass es sich nicht wirklich um ein Dialogangebot an Lohnabhängige und derzeit ebenfalls vermehrt protestierende Studierende handelte: Um 13 Uhr an einem Wochentag hielt Emmanuel Macron die seit Wochenbeginn angekündigte TV-Ansprache in Antwort auf die sich ausweitenden Sozialproteste, die formal die Gestalt eines Interviews annahm.

An einem Wochentag um diese Uhrzeit … Vielfach wurde dies auch in den bürgerlichen Medien als Hinweis darauf gewertet, Macron adressiere sich dabei kaum an abhängig Beschäftigte sowie Schülerinnen, Schüler, Studentinnen und Studenten (die sitzen nämlich zu der Zeit nicht vor dem Fernseher), sondern an die ihm seit 2022 noch verbliebene Kernwählerschaft.

Die treue Wählergruppe: Rentnerinnen und Rentner

Bei der ihm bei der letzten Wahl am treuesten gebliebene Wählergruppe handelt es sich um den wohlhabenden Teil der Rentnerinnen und Rentner. Altersarmut ist derzeit, dank bislang geltender Regeln, in Frankreich nur etwa halb so stark verbreitet wie in Deutschland.

Dies dürfte sich nun künftig ändern, zumal nur mit Strafabzügen pensioniert werden kann, wer mit fehlenden Beitragsjahren vor dem Alter von 67 Jahren in Rente geht – und auch die Zahl der Beitragsjahre steigt, neben dem Mindestalter, das von 62 auf 64 Jahre steigt.

Macron: Vergleiche mit Sturm auf das Kapitol

Inhaltlich sagte Staatspräsident Emmanuel Macron gar nicht viel. Er wolle "nach vorne gehen", erklärte er, ohne die am Montag durch das Scheitern des parlamentarischen Misstrauensvotums – aufgrund des Rückgriffs auf den Sondermechanismus nach Artikel 49 Absatz 3 der französischen Verfassung – ohne weitere Abstimmung angenommene Rentenreform jedoch im Geringsten in Frage zu stellen.

Premierministerin Elisabeth Borne solle ihre Mehrheit künftig "auf eine breitere Grundlage stellen", erklärte Macron. Dies mag freilich eher einen frommen Wunsch darstellen. Vor allem aber sorgte für ein Anfachen des Zorns, dass sich der Staatspräsident herausnahm, Teilnehmer am Sozialprotest – hielten diese sich nach Abschluss der parlamentarischen Prozedur nun nicht zurück – explizit mit dem rechtsextremen Mob auf dem Kapitol von Washington D.C. am 06. Januar 2021 sowie jenem in Brasilia am 08. Januar dieses Jahres zu vergleichen.

"Augen zu und durch"

Das Entscheidende hatte er am Vortag bei einer Sitzung der Regierungsfraktion erklärt: Er werde weder die "Reform" zurückziehen, noch eine Auflösung des Parlaments bekanntgeben, noch die amtierende Premierministerin entlassen. Also Augen zu und durch.

Das "durch seine gewählten Vertreter repräsentierte Volk" sei "legitim, und nicht la foule (die Menge/Masse/Meute)". Die Rentenreform solle bis zum Ende ihres cheminement démocratique (demokratischen Sich-Weg-Bahnens) gehen.

Ein netter Witz, berücksichtigt man, wie unter Ausnutzung aller parlamentarischen Verfahrensmöglichkeiten zur Ausschaltung von Debatten- und Oppositionsrechten die "Reform" durchgedrückt und die Diskussion darum radikal abgekürzt worden ist.

Dabei hatte das Regierungslager eine Kombination aus mehreren Bestimmungen der semi-autoritären französischen Präsidialverfassung aus dem Jahr 1958, welche während der politischen Krisensituation im Algerienkrieg verabschiedet wurde, eingesetzt.

Keine Debatte

Artikel 44 Absatz 3 erlaubte es der Regierung, nachdem der parlamentarische Vermittlungsausschuss zwischen Nationalversammlung und Senat zur umstrittenen Rentenreform getagt hatte, alle Änderungsanträge zum "Kompromisstext" der vierzehnköpfigen Kommission ohne Debatte abzuschmettern; Artikel 47 erlaubte es ihr seit Januar 2023, die Parlamentsdebatte zur Reform, da diese künstlich als Haushalts-Nachtragsgesetz deklariert wurde, auf maximal fünfzig Tage Höchstdauer einzuschränken.

Schon dadurch blieb die Debatte um das Gesetz im Parlament weitgehend aus. Und der mittlerweile berühmte Artikel 49 Absatz 3 erlaubte schlussendlich eine Verabschiedung der Reform im Parlament ohne Abstimmung. Dieser Mechanismus kam am Donnerstag vor einer Woche just zum 100. Mal seit Bestehen der Fünften Republik zum Einsatz; ein Jubiläum, bei dem jedoch niemandem zum Feiern zumute schien.

Proteste weiten sich in der jüngeren Generation aus

Unterdessen weiten sich die Proteste vor allem in der jüngeren Generation aus. Letztere war noch bis circa zur zweiten Märzwoche stark unterdurchschnittlich mobilisiert, zumal für viele ihre Angehörigen ihre eigene Rente in utopischer Ferne zu liegen schien – "sofern wir überhaupt eine haben werden …".

Doch die durch die Regierung gewählte Methode lässt die jüngere Generation gegen die von ihr wahrgenommene Demokratieverweigerung und das autoritäre Durchregieren aufbegehren.

Rund 10.000 Menschen, dieses Mal überwiegend jüngeren Alters, kamen beispielsweise am vergangenen Dienstagabend zur Sonnenuntergangszeit in bester und kämpferischer Stimmung sowie bei Musik auf der Place de la République in Paris zusammen.

Angemeldet hatten sie die führenden Gewerkschaften, doch spontan – innerhalb sehr kurzer Mobilisierungszeit – mobilisiert worden waren vor allem Angehörige der linken Basisgewerkschaften SUD/Solidaires sowie protestierende Jugendliche, junge Erwachsene und Studierende.

Versuche, im Anspruch zur unangemeldeten Demonstration aufzubrechen, wurden auf der Rue du Temple durch die Polizei mitsamt Tränengaseinsatz unterbunden; auch ein Wasserwerfer war in der Nähe aufgefahren worden.

Streikfolgen und Polizeigewalt

Am Vorabend – Montag – waren 171 Menschen meist jüngeren Alters in Paris festgenommen worden; zuvor waren mobile Kleingruppen u.a. durch den Stadtteil rund um den Saint Lazare-Bahnhof, das Opernviertel, die Umgebung des Louvre-Museums sowie über die Place de la Bastille gezogen, ohne Anmeldung einer Demo und mit Koordinierung über Telegramm oder Signal und andere Netzwerke. Dabei brannten einige Mülleimer und -container.

"Das Macronsägen-Massaker : Arbeitslosenkasse, Renten, Krankenhaus, Klimapolitik, Schulwesen ..." Demonstration in Paris, 11. März 2023. Foto: Bernard Schmid

Auch Streikfolgen machen sich zunehmend bemerkbar; frankreichweit mussten bislang (Stand Nacht zum Mittwoch) fünf Prozent der Tankstellen den Verkauf mindestens einiger Erdölprodukte einstellen. Im südostfranzösischen Département Bouches-du-Rhône (Rhonemündung), zu dem Marseille gehört, lag zuletzt jede zweite Tankstelle trocken.

Am Dienstagmittag erzwangen starke Polizeieinheiten den Zugang zur bestreikten Raffinerie im Erdölhafen von Fos-sur-Mer in der Nähe von Marseille, um zumindest einige Tankwagen aufladen zu können (normalerweise werden dort bis zu 800 Tankwagen täglich abgefertigt). Die CGT Bouches-du-Rhône leistete handfesten Widerstand gegen deren Einwand.

Die zahlreichen mobilisierten Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer wurden mit Tränengas eingedeckt und antworteten ihrerseits z.T. mit Steinwürfen; drei Polizisten wurden laut offiziellen Angaben verletzt, von ihnen zwei im Krankenhaus von Martigues behandelt.

In mittleren und kleineren Städten, wie Dijon und Gueugnon in der ostfranzösisichen Region Bourgogne (Burgund), mehren sich Fabrikblockaden.

Polizeigewalt

Auch die Repression eskaliert, in der Nacht vom Donnerstag letzter Woche zum Freitag wurden allein in Paris 292 Festgenommene verzeichnet, in jener vom vergangenen Montag zum Dienstag mindestens 271.

Allem Anschein nach nimmt die Polizei jedoch oft einfach mit, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war. Von den 292 Aufgegriffenen in der Nacht zum vorigen Freitag, den 17. März, kamen 283 ohne Strafverfolgung frei, doch erst nach 15- bis 24-stündigem Gewahrsam.

Auch in den Medien bis hin zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, aber auch zum wirtschaftsliberalen Privatfernsehsender BFM TV – dieser benutzte am Dienstag zur Frühstückszeit auch explizit und ohne die sonst übliche Distanzierung den Begriff von "Polizeigewalt" und zeigte Bilder eines Zusammengeschlagenen am Boden – wächst die Kritik an "willkürlichen Aufgriffen".

Die linkere der drei Richtergewerkschaften, der SM (syndicat de la magistrature), und die Anwältinnengewerkschaft SAF wetterten in Kommuniqués gegen eine "Instrumentalisierung der Justiz zur Repression gegen soziale Bewegungen". Der SAF klärte in einer internen E-Mail die eigenen Mitglieder auf, was im Falle einer unerwarteten Verhaftung zu tun sei.

Überdies kam es auch zu Übergriffen auf Journalisten oder Journalistinnen. Und im westfranzösischen Nantes erstatteten vier jungen Frauen Strafanzeige wegen sexualisierter Gewalt bei einem Polizeieinsatz.

Allzu schnell dürfte sich die Lage kaum beruhigen, das Abwürgen der Abstimmung zur "Reform" sowie der knappe Ausgang der Abstimmung eröffneten eine handfeste innenpolitische Krise.

Am heutigen Donnerstag findet der neunte zentrale, durch die Gewerkschaften aufgerufene Aktionstag seit Ende Januar statt. Ein wesentlich massiverer Ausfall von Verkehrsmitteln als an den vorigen beiden wurde verzeichnet.

Der Tag begann mit Gleisbesetzungen in Bahnhöfen in mehreren südfranzösischen Städten wie Marseille, Montpellier und Toulouse besetzt; zu Wochenanfang war es dazu in Bordeaux und Toulon gekommen.

Im westfranzösischen Saint-Nazaire wurde die Brücke über den Loire-Strom, über die ein wesentlicher Teil des Warenverkehrs vom Atlantik her verläuft, bei Besetzungsaktionen beschädigt.

Während im Raum Paris die Müllabfuhr weiterstreikt, wo nicht Beschäftigte durch "réquisitions" – strafbewehrte Dienstverpflichtungen, bei Zuwiderhandlungen drohen bis zu sechs Monate Haft; eine Kontrollklage vor dem Verwaltungsgericht gegen die Anordnung ist möglich – zum Dienst gezwungen wurden, blockierten Unterstützerinnen und Unterstützer am Morgen mehrere Depots, um die Ausfahrt der Müllwagen zu verhindern. In Aubervilliers bei Paris schafften sie es, die anrückende Polizei zurückzudrängen.

Die Dimensionen der Demonstrationen, u.a. in Paris und in zahlreichen weiteren Städten, werden im Laufe des Tages über die Dynamik des derzeitigen Mobilisierungsstands Auskunft erteilen. Dazu wurden 5.000 Angehörige von Polizei und Gendarmerie allein in der Hauptstadt, 12.000 landesweit mobilisiert.