Frankreich: "Lieber ein Votum, das stinkt, als ein Votum, das tötet"
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Demonstrationen in Paris – eine Woche vor der Stichwahl Macron gegen Le Pen
"Lieber ein Votum, das stinkt, als ein Votum, das tötet": Auf diesen Punkt brachte ein Demonstrant am diesjährigen Ostersamstag in Paris die Alternative, die sich acht Tage später in den Wahlbüros aus seiner Sicht bietet. Im Französischen reimt sich dies: "Un vote qui pue, plutôt qu’un vote qui tue."
Zusammen mit rund zwanzigtausend Menschen in der französischen Hauptstadt (und einigen Tausend anderen Protestierenden in circa dreißig weiteren Städten) ging der junge Mann gegen die Aussicht, dass die Rechtsextreme Marie Le Pen am darauffolgenden Sonntag ins Amt der französischen Staatspräsidentin gewählt werden könnte, auf die Straße.
Le Pen: Echte Aussichten auf einen Wahlsieg
Die Chefin des Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung", vor Juni 2018: Front National) hat erstmals echte Aussichten darauf, Wahlsiegerin zu werden. Im Laufe der zurückliegenden Woche, die auf den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl vom 10. April folgte, schienen ihre Chancen leicht zu sinken: Prognostizierten Umfragen ihr zu Wochenbeginn im Durchschnitt 48 Prozent, so waren es in der zweiten Wochenhälfte eher 44 bis 46 Prozent.
Doch noch ist das Rennen nicht gelaufen – zumal Umfragen, die den wirtschaftsliberalen Amtsinhaber Emmanuel Macron relativ deutlich als Wahlsieger erkennen lassen, zu einem Sinken der Stimmbeteiligung vor allem unter den Rechtsextremen feindlich gesonnenen, doch Macron nicht unterstützenden Wählerinnen und Wählern führen könnten.
Wäscheklammern auf der Nase
Die Idee, eine übelriechende, aber doch das kleinere Übel repräsentierende Stimme abzugeben, ist in diesem Zusammenhang nicht neu. Als erstmals Marine Le Pens Vater, der mittlerweile in Kürze 94-jährige Jean-Marie Le Pen, im April 2002 – damals überraschend – in die Stichwahl um die Präsidentschaft einzog, gingen viele Stimmberechtigte demonstrativ mit Wäscheklammern (zum Zukneifen der Nase) und Gummihandschuhen bewaffnet auf den Weg zum Wahlbüro.
"Wählt den Betrüger", also den damals bereits von zahlreichen Skandalen um illegale Politikfinanzierung betroffenen – später deswegen zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilten – Amtsinhaber Jacques Chirac, "statt den Faschisten", forderten damals zahlreiche Beobachter.
Die Mobilisierung, um Jean-Marie Le Pen zu stoppen, fiel damals auf den Straßen und Plätzen französischer Städte ungleich stärker aus als heute – obwohl der Mann, der 1972 die damals noch Front National heißende Partei gegründet hatte, zu jener Zeit kaum wirkliche Chancen hatte, gewählt zu werden (in der Stichwahl erhielt er schlussendlich gut 17 Prozent und schnitt ähnlich hoch ab wie in der ersten Runde).
Zu tief saß damals jedoch der Schock darüber, dass sich die Auswahl in der entscheidenden zweiten Runde auf eine zwischen einem allzu notorisch korrupten Konservativen einerseits und einem prominenten Neofaschisten, welcher nachweislich in Frankreich Algerienkrieg persönlich an Folterungen teilgenommen hatte, andererseits verengte.
Dies kam damals nahezu völlig unerwartet und war auf einen wahlpolitischen "Unfall" zurückzuführen, nämlich darauf, dass die linke Wählerschaft dem sozialdemokratischen Premierminister und vermeintlichen Wahlfavoriten Lionel Jospin zum Gutteil ihre Stimme versagt hatte.
Das galt als Quittung für dessen Politik in fünf Jahren Amtszeiten als parlamentarischer Regierungschef (unter Staatsoberhaupt Chirac), die nicht in Übereinstimmung mit den ursprünglichen Versprechungen und Erwartungen stand.
Die Einschläge rücken näher
Heute rücken die Einschläge näher, doch fällt der Protest nicht dermaßen durchschlagend aus wie vor quasi genau zwanzig Jahren. Damals nahm der Verfasser dieser Zeilen an der 1. Mai-Demonstration in Paris (die im Jahr 2002 zwischen den beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl, damals am 21. Mai und 07. Mai jenes Jahres, zu liegen kam) teil, mit einem Riesenstapel Flugblätter in der Hand.
Und konnte sich sechs Stunden lang, den Bordstein vor sich und eine Laterne hinter sich, buchstäblich nicht vom Fleck bewegen: keinen halben Meter nach vorne und keinen halben Meter hinter sich. Die halbe Million wurde damals in Paris mindestens überschritten, landesweit reichte die weitgehend spontane Protestbeteiligung an die zwei Millionen heran.
Am gestrigen Ostersamstag waren es in Paris laut Zahlen des französischen Innenministeriums – die wie meistens untertrieben waren – 9.600 Menschen, frankreichweit gut 22.000. Auch wenn es real fünfzigtausend waren, lässt sich doch festhalten: Gut, dass dies stattgefunden hat, aber ein Erdbeben war es bislang nicht.
Man scheint sich eben in Vieles hinein zu gewöhnen – ein wenig ähnlich den Menschen derzeit im Kriegsgebiet im Osten des Kontinents, von denen man in Fernsehreportagen vernimmt, sie gingen nicht mehr in die Unterschlüpfe, wenn schon wieder einmal Bombenalarm in Kiew ertönt. Nun soll damit keineswegs das Leid der Menschen in einem sehr realen und brutalen Krieg relativiert werden. Doch das Beispiel zeigt, wie Gewöhnung zu funktioniert scheint.
Noch ist die Wahl nicht gelaufen, und sollte Marine Le Pen doch gewinnen, dann dürfte noch mit stärkeren Protesten zu rechnen sein - hinterher. Einiges dürfte dabei auch von dem Debattenduell abhängen, das sich Emmanuel Macron und Marine Le Pen am kommenden Mittwochabend im Fernsehen liefern werden.
Bei ihrer letzten Stichwahldebatte am 03. Mai 2017 ging Marine Le Pen als klare Verliererin hervor, unter anderem aufgrund von Ahnungslosigkeit bei einigen andiskutierten wirtschaftlichen Themen. Diese Blamage dürfte sich so nicht wiederholen, immerhin hatte sie jetzt fünf Jahre Zeit, um zu arbeiten.
Viel wird auch vom Verhalten der in der ersten Wahlrunde ausgeschiedenen politischen Kräfte abhängen.
Einige Kandidatinnen und Kandidaten, die aber unter die schwächeren Ergebnisse fielen, riefen noch am Abend des ersten Wahlgangs vor einer Woche zur Wahl Macrons gegen die Rechtsextreme Le Pen auf – die Sozialdemokratin Anne Hidalgo, der Grüne Yannick Jadot und der KP-Kandidat Fabien Roussel, doch ihrer aller Ergebnisse waren durch das starke Abschneiden des Linksozialdemokraten und Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon erheblich nach unten gedrückt worden.
Umgekehrt riefen ihr rechtsextremer Konkurrent Eric Zemmour, er blieb mit 7,07 Prozent der abgegebenen Stimmen erheblich hinter seinen Erwartungen zurück, sowie der Nationalkonserative und Impfkritiker Nicolas Dupont-Aignan sogleich explizit zur Wahl von Frau Le Pen gegen Herrn Macron auf.