Frankreich: Rechte Partei Rassemblent National auf dem Weg zur Macht
Das Demokratielabor im Nachbarland. Proteste in Paris und landesweit – Hunderttausende auf den Straßen. Worum es geht.
Vorne läuft ein "schwarzer Block", der jedoch den ganzen Tag über friedlich bleibt. Dahinter folgen die Heißluftballons der französischen Gewerkschaften, hinter denen Tausende Menschen hergehen.
Am Schluss läuft ein Riesenpulk von Menschen, die buchstäblich aus der viel beschworenen "Zivilgesellschaft" kommen, bei keiner Partei oder Gewerkschaft organisiert sind und mit selbstgebastelten Plakaten und Schildern ihrer Besorgnis über die politische Entwicklung in Frankreich – konkret, die Perspektive eines Machtantritts der 1972 als Teil des Nachkriegsfaschismus gegründeten rechtsextremen Partei Rassemblement national (le RN, "Nationale Sammlung") – Ausdruck verleihen.
Rund 150.000 Menschen nach realistischen Schätzungen (die aufrufende Gewerkschaft CGT spricht von 250.000, das Innenministerium von 75.000) demonstrierten am vergangenen Samstag allein in Paris gegen diese Bedrohung.
In unterschiedlichen Städten in Frankreich waren es zeitgleich rund 400.000, auch hier liegen die Veranstalterangaben darüber und die Polizeizahlen darunter. Die stärksten Kontingente unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Protestzüge stellten die Gewerkschaften, was wichtig ist, weil diese über den Einsatz des Streikrechts verfügen können: sowohl bei Arbeitskämpfen als auch, erforderlichenfalls, bei der Verteidigung der Demokratie.
Aber auch zahllose Unorganisierte demonstrierten mit. Allerdings blieb der Protest noch erheblich unterhalb der Dimensionen, die er am 1. Mai 2002 einnahm – damals war Jean-Marie Le Pen am 21. April jenes Jahres überraschend in die vierzehn Tage später stattfindende Stichwahl um die französische Präsidentschaft eingezogen, wobei er im Unterschied zu heute keinerlei realistische Chance hatte, auch wirklich die politische Macht zu übernehmen.
An jenem 1. Mai vor 22 Jahren waren anderthalb bis zwei Millionen Menschen unterwegs. Die für fast alle überraschend kommende Nachricht vom Einzug von Le Pen senior in die Stichwahl hatte damals aufrüttelnde Wirkung gezeitigt.
Heute kommt die rechte Gefahr weniger überraschend, vielleicht deswegen auch einschläfernder. Wenn sich der rechtsextreme Wahlerfolg bei den jüngsten Europaparlamentswahlen in Frankreich aber bei den am 30. Juni und 07. Juli stattfindenden Nationalparlamentswahlen wirklich umsetzt, dann könnten noch einige Protestkräfte aufwachen.
Unterdessen speckt der RN bereits bei einigen seiner zuvor vollmundig getätigten sozialen oder pseudo-sozialen Wahlversprechen ab, um den Realitätsschock geringer zu halten, wenn sich in Kürze herausstellen sollte, dass daraus nun aber gar nichts wird.
Abgerückt ist der RN so in den letzten Tagen, im Hinblick auf die Parlamentswahl, von der noch am Tag nach der Europaparlamentswahl vertretenen Perspektive einer Rücknahme der 2023 unter Emmanuel Macron gegen massive soziale Widerstände 2023 durchgesetzten Rentenreform – einer Verlängerung der Lebensarbeitzeit um zwei Jahre.
Auch das Versprechen einer Befreiung aller unter 30-jährigen von der Einkommenssteuer wurde eingestampft. Dieses war allerdings ohnehin fragwürdig, da es den Millionärserben ebenso wie die junge Geringverdienerin begünstigt hätte.
Festhalten will der RN-Anwärter auf den Premierministerposten, Jordan Bardella, dagegen am Versprechen einer Absenkung der Mehrwertsteuer auf Treibstoffpreise (Benzin und Diesel). Auch dieses, sozial unspezifische steuerpolitische Versprechen kann ebenso den umweltschädigenden SUV-Besitzer wie die prekär arbeitende Pendlerin betreffen.
Das vorige Woche geschlossene Linksbündnis "nouveau front populaire", das in Umfragen bis zum Wochenende aufholte, aber auch von inneren Dissonanzen durchzogen wird, kündigt seinerseits als zentrale Punkte an, die Rentenreform von 2023, die geplante Reform der Arbeitslosenversicherung und das zum Jahreswechsel 2023/24 durch ein Stimmbündnis zwischen Macron-Anhängern, Konservativen und Rechtsextremen im Parlament verschärfte neue Ausländergesetz abzuschaffen.
Der gesetzliche Mindestlohn SMIC, er liegt derzeit bei 1.398 Euro netto, soll dem gemeinsamen Wahlprogramm zufolge auf 1.600 Euro netto angehoben werden.
Eine Reihe von Berufsgruppen bereitet sich unterdessen auf die erwarteten spezifischen Auswirkungen einer rechtsextremen Regierungsübernahme oder -beteiligung in ihren Berufsfeldern vor.
Stark hinter ihren Gewerkschaften mobilisiert waren am Samstag etwa die abhängig Beschäftigten bei öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten. Deren Privatisierung hat der RN in seinem Wahlprogramm angekündigt, Spitzenkandidat Jordan Bardella hat es bestätigt.
Dabei ginge es vor allem darum, die bereits bestehenden privaten Medienmonopole, deren Eigentümer in mehreren Fällen der extremen Rechten offen zuarbeiten, zu stärken.
Das gilt insbesondere für Vincent Bolloré, einen bretonischen Milliardär, der seit 2015 massiv ins Mediengeschäft einstieg – sein früheres Tätigkeitsfeld war der postkoloniale Rohstoffhandel im französischsprachigen Afrika, den er mittlerweile weitgehend abgestoßen hat – und von der Einrichtung einer Art französischen Äquivalents zum reaktionären Sender Fox News in den USA träumt.
Der durch Bolloré betriebene französische Fernsehkanal CNews hat vor kurzem unter den sogenannten chaînes d’info – den Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensendern – den ersten Platz erobert und den liberalen Privatsender BFM TV überholt.
Der Sender CNews, der früher auch den rechtsextremen Ex-Präsidentschaftskandidaten (2022) Eric Zemmour als Kommentator beschäftigt, erhielt mehrmals Geldstrafen wegen hetzerischer Sprüche aufgebrummt.
Bolloré wurde durch Macron vor seinem Beschluss zur Parlamentsauflösung vorab informiert – und er wurde durch den konservativen Parteichef Eric Ciotti am Montag, den 10. Juni, konsultiert, bevor jener am 11. Juni überraschend sein Wahlbündnis mit der extremen Rechten offiziell ankündigt.
Eine solche Allianz wird durch Bollorés Sender seit Längerem propagiert. Ihre Hetze könnte künftig regierenden Rechtsextremen als Instrument zur Beeinflussung der Massen dienen.
Auch im Bildungswesen bereiten sich Beschäftigte auf intensiven Widerstand gegen eine rechtsextrem geführte Regierung vor. Vierzig Führungskräfte im Bereich des Bildungsministeriums haben bereits ihren "Ungehorsam" für einen solchen Fall angekündigt.
Außer ihrer Dauerforderung nach Einführung von Schuluniformen, zu denen noch das Versprechen der "Wiederherstellung von Autorität und Respekt" hinzukommt, hat der Rassemblement national (RN) bislang zu Bildungspolitik schlicht nichts zu sagen.
Zu den Totalausfällen des rechtsextremen Programms kommen ferner Umwelt- und Klimaschutz – die den RN schlicht nicht interessieren – und, in weiten Teilen, Gesundheitspolitik hinzu.