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Frankreich: Run auf Tankstellen

Bild: Hugo Clément/unsplash

Es wird eng nicht nur bei der Kraftstoffversorgung; die neue Austeritätspolitik, der drastische Ausbau der Atomenergie bis in die 2040er-Jahre und die Frage: "Was kostet das?" Möglicherweise eine politische Wende.

Nein, in diesem Falle kann Putin wirklich nichts dafür – unabhängig von ihm und seinem Agieren bangen derzeit viele Französinnen und Franzosen um die Kraftstoffversorgung in den kommenden Tagen. Am Sonntag lagen dreißig Prozent der Tankstellen im Land trocken, Tendenz: steigend [1].

In Nordostfrankreich, im Raum um Lille, Calais und Arras, waren es am Montag bereits die Hälfte der Tankstellen [2]. Vielerorts bilden sich nächtlich lange Warteschlangen, an den Pariser Stadtausgängen waren es am Sonntagabend bis zu drei Stunden; an einigen Stellen wurden erste Auseinandersetzungen wegen des Platzes in der Schlange gemeldet.

Kein Mangel, aber Streiks

An Krieg, Embargo und ähnlichem liegt es nicht, denn jedenfalls bislang mangelt es Frankreichs Industrie nicht an Rohöl und -gas, um diese in den insgesamt acht Raffinerien des Landes zu Derivaten weiterzuverarbeiten. Doch in diesen Raffinerien wird gestreikt. Zwei von acht hatten bis Ende voriger Wochen, unter dem Druck von Aktionen der abhängig Beschäftigten, ihren Betrieb eingestellt.

Was fordern die Lohnabhängigen dort? Einen Lohnzuschlag in Höhe von zehn Prozent. Das ist in diesen Zeiten nicht so außerordentlich, beträgt doch die jährliche Inflationsrate derzeit rund sieben Prozent – eine Lohnsteigerung darunter bedeutet also einen Verlust an Realeinkommen –, vor allem angesichts dessen, was derzeit in Frankreich unter der Bezeichnung "Superprofite" eifrig diskutiert wird.

Auch wenn der wirtschaftsliberale Wirtschaftsminister Bruno Le Maire behauptet, diesen Begriff "nicht zu kennen" [3] (nicht, weil er schlecht informiert wäre, sondern weil er schlicht nichts dazu unternehmen will), ist er derzeit in nahezu aller Munde.

Frankreichs führende Unternehmen verteilten im zweiten Quartal dieses Jahres 44,3 Milliarden Euro an ihre Aktionäre [4], allein der Mineralölkonzern Total (ausgeschrieben inzwischen seit kurzem "Total Energies") kündigte am 26. September eine Sonder-Ausschüttung in Höhe von 2,6 Milliarden an.

"Kriegsgewinnler" Total

Sogar so revolutionäre Kräfte wie die britischen Konservativen dachten vor ähnlichem Hintergrund bereits an eine "Übergewinnsteuer", doch für Le Maire kommt eine solche nicht in Betracht, erklärt er doch, auf Steuererhöhungen reagiere er generell allergisch.

Total zählt in gewissem Sinne zu den Kriegsgewinnlern, denn die weltweit gestiegenen Rohstoffpreise – zwischen Ukrainekrieg und Produktionsdrosselung durch die OPEC – lassen auch bei ihm die Kassen sprudeln.

Tritt der französische Konzern doch, anders als andere Tankstellenbetreiber, nicht nur als Verteiler, sondern auch selbst als Produzent (also Förderer) von Rohöl auf und sitzt damit selbst an der Quelle.

Um einer Steuererhöhung, wie Links- und Rechtsopposition im französischen Parlament sie Anfang August vergeblich forderten, zu entgehen, führte Total vom 1. September bis zum 1. November dieses Jahres eine - auf zwei Monate befristete - freiwillige Preissenkung von zwanzig Cent pro Liter Benzin ein.

Die Regierung unter Emmanuel Macron und Le Maire pries die Selbstverpflichtung (auf kurze Zeit) als willkommene Alternative zu einer Steuererhöhung an. Es kam, wie es kommen musste: Total gewann sprunghaft Marktanteile hinzu, lässt also in Wirklichkeit seine Konkurrenten für die Preissenkung bezahlen, doch seine Tankstellen wurden überlaufen und drohten schon vor Ausbruch des Streiks unter einer Blechlawine zu ersticken.

Seit Beginn des Arbeitskampfs in den Raffinerien und mit der Verknappung des Angebots wächst sich der Run auf die Total-Tankstellen aus und wird zum Würgegriff.

Arbeitskampf: Was nötig wäre

Abhängig Beschäftigte möchten auch einen Teil vom Kuchen abbekommen. Regierung und Leitmedien üben entsprechend Druck auf die im Petrochemiesektor streikenden Gewerkschaften aus – vor allem die CGT und Force Ouvrière, während die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT (als theoretisch stärkster Gewerkschaftsdachverband) den Ausstand boykottiert und denunziert, da sich ja noch schön ordentlich verhandeln ließe [5] - und posaunen hinaus, ja klar verstünde man in Zeiten fortschreitender Inflation solche Forderungen wie die ihren, nur, vernünftig möge man doch bitte bleiben ... also von gar zu wirksamen Aktivitäten absehen.

Und über strafbewehrte Dienstverpflichtungen in einem "strategischen" Sektor ließe sich doch mal nachdenken, tönt es etwa aus Talkshows beim tendenziell wirtschaftsliberalen Rund-um-die-Uhr-Sender BFM TV.

Die CGT, als traditionell in der Petrochemie stark verankerter Gewerkschaftsbund (früher einmal als der Französischen kommunistischen Partei nahe stehend geltend, doch diese ist ja nur noch ein Schatten ihrer selbst), knickte an einem wichtigen Punkt bereits ein.

Sie gab "qualitative" Forderungen zugunsten einer rein "quantitativ" orientierten Verhandlungsstrategie auf, was darauf hinausläuft, nur noch über Lohnprozente zu reden. Anfänglich dagegen hatte sie auch "qualitative" Verlangen formuliert, vor allem nach Personaleinstellungen und Investitionen.

Diese wären selbstredend unerlässlich, um einen Konzern, der in seiner bisherigen Funktionsweise zu den wichtigsten Schädigern des Planeten zählt [6], vielleicht doch noch zu einem Akteur erneuerbarer Energien und der Verringerung des fossilen Desasters umzuwandeln.

Zittern im Lager der Etablierten

Die Kapitalseite ist derzeit zwar durchaus daran interessiert, an erneuerbaren Energiequellen ein wenig mitzuverdienen, an einem Umbau von Energieversorgung und Produktionslogik jedoch gewiss nicht. Nun lenkt auch die CGT jedenfalls derzeit darin ein, lediglich über Geldprozente im gegebenen Rahmen reden zu wollen.

Nichtsdestotrotz hat dieser Arbeitskampf einen Vorbildcharakter, da im Lager der Etablierten viele zittern, er könne vielleicht eine Art Signalwirkung entfalten und die Methode könnte sich ausbreiten [7].

Das fürchten Regierende und Kapitalseite umso dringlicher, als sie derzeit größere Vorhaben wälzen. Eines davon heißt "Rentenreform" und hat einen gewissen Déjà-vu-Charakter.

Rente: Ohne weitere Diskussion

Das nennt man eine gelungene Illustration zum Thema Freud’scher Versprecher: Am Montag, dem 26. September 22 erklärte die seit Mitte Mai amtierende französische Premierministerin Elisabeth Borne im Frühstücksinterview bei den Fernsehsendern RMC und BFM TV: "Der Dialog wird nicht von uns ausgehen."

Den Versprecher wahrnehmend, korrigierte sie lächelnd: "Die Blockade des Dialogs wird nicht von uns ausgehen."

Borne hatte sich verbal verstolpert, doch wie so oft in solchen Fällen ließ der Fauxpas das durchblicken, was sie sorgfältig zu verbergen suchte. In den Minuten zuvor hatte sie in anderer Hinsicht zur Hälfte verkündet, was nun durchgesetzt werden soll, sei es mit List oder Zwang.

Denn so hat es ihr Vorgesetzter, Staatspräsident Emmanuel Macron beschlossen, auch wenn Borne selbst bisher beim Thema Zweifel nachgesagt wurden: Die in jüngerer Zeit mehrfach angekündigte, doch seit 2020 auch von Regierungsseite als inopportun eingestufte und mehrfach aufgeschobene "Rentenreform" soll nun definitiv kommen.

Notfalls – diesbezüglich jedenfalls legte die Regierungschefin in demselben Interview, gewissermaßen die Karten auf den Tisch – werde man auf den mittlerweile berühmten Verfassungsartikel 49, Absatz 3 zurückgreifen.

Dieser Passus in der Verfassung der 1958 verabschiedeten französischen Fünften Republik erlaubt es, die Diskussion im Parlament zu einem Gesetzestext auszusetzen und stattdessen die Vertrauensfrage für die Regierung zu stellen.

Wird diese nicht im Anschluss durch ein Misstrauensvotum der Parlamentsmehrheit gestützt, gilt der Text dann automatisch und ohne weitere Diskussion als angenommen. Und basta. Der unter Charles de Gaulle ersonnene Mechanismus dient also hauptsächlich dazu, die Sachdebatte zu einem Thema abzuwürgen.

Er darf (lt. Verfassung) einmal pro Jahr zu einem Gesetzesverfahren eingesetzt werden, dann aber auf jeder Stufe, also in jeder von drei Lesungen. Zuletzt nutzten ihn der rechtssozialdemokratische Premierminister Manuel Valls im Frühjahr 2016 zur Durchsetzung der rabiat regressiven Arbeitsrechtsreform sowie Bornes unmittelbarer Amtsvorgänger, Macrons von den Konservativen kommender Ex-Premier Edouard Philippe, just im letzten Anlauf zur Durchsetzung der geplanten Rentenreform.

Die Regierung sollte, so kündigte Philippe es anlässlich einer Sondersitzung des Kabinetts am 29. Februar 2020 an, im März jenes Jahres den "49-3" zum Einsatz bringen und die Vorlage durch das Parlament boxen.

Die Pandemie als Pausengong

Dieser Episode gingen mehrwöchige Streiks in den öffentlichen Verkehrsbetrieben, wo sie Anfang Dezember 2019 begonnen hatten und ab circa 20. Januar 2020 abebbten, aber auch etwa unter Anwält:inn und Justizbediensteten oder in manchen privaten Industrieunternehmen voraus. Doch dann kam die Pandemie.

Insofern "rettete der Pausengong" (wie es manche linke Beobachterinnen und Beobachter formulierten) quasi die Protestierenden bzw. ihr Anliegen im Zweikampf mit dem Regierungslager; die Wahrheit gebietet es jedoch, hinzuzufügen, dass Letzteres ansonsten wohl gewonnen und sich durchgesetzt hätte, denn vor dem Beginn der pandemiebedingten Zwangspause hatten sich die Proteste und insbesondere die Streiks objektiv bereits totgelaufen.

Am Abend jenes Samstag, den 29. Februar 20, an dem der (damals allgemein seit mehreren Tagen erwartete) Beschluss zum Einsatz des "49-3" zwecks Durchdrückens der "Reform" offiziell verkündet wurden, protestierten rund 500 Menschen vor der, natürlich großräumig polizeilich abgesperrten, Nationalversammlung in Paris.

Großspurig war zuvor auf manchen Kanälen ein flammender Protest am "Tag X" angekündigt worden. Objektiv wäre der Ausgang wohl ziemlich klar vorgezeichnet gewesen. Dann kam Corona.

Ab der zweiten Märzwoche 2020 hatte das Parlament deswegen dringendere Themen zu behandeln, und nach Inkrafttreten des "Gesetzes zum gesundheitlichen Notstand" wechselte die Regierung insofern den Kurs, als einige Monate lang ihre wirtschaftsliberale Strategie einer eher keynesianisch wirkenden Staatsausgabenpolitik wich. Auch die Rentenreform erschien dem Regierungslager in jenen Tagen vorübergehend inopportun, da Konflikte schürend.

"Was es auch kosten möge"

Da in Frankreich während der ersten Welle der Pandemie weite Teile des Wirtschaftslebens eingefroren und bis zu zehn Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden – um Entlassungen zu vermeiden -, rief Macron damals die Devise aus: Quoi qu’il en coûte!, also: "Was es auch kosten möge!" [8]. Das war nun wirklich nicht besonders neoliberal, sollte allerdings auch nicht von Dauer bleiben.

Im Laufe der vergangene Monate erklärte sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire wiederholt, diese Devise sei nun überholt. Erstmals rief er ihr Ende im August 2021 [9] aus. Im Februar 2022 erläuterte er, es wäre damals (2020) dem bürgerlichen Staat schlicht teurer gekommen, hätte er die Arbeitslosigkeit im Zuge der ersten Welle der Pandemie unkontrolliert anwachsen lassen [10].

Um dann im Laufe des Vorfrühlings 2022 zu erklären, trotz des Ukrainekriegs, damit verbundener Lieferengpässe und anziehender Inflation werde es auf jeden Fall "kein zweites Quoi qu’il en coûte" geben [11]. Auch während der Wahlkämpfe im Frühjahr dieses Jahres stand die Ansage klar im Raum, dass das Regierungslager (im Falle seiner Wiederwahl, die dann erfolgte) diese Politik nicht neu auflegen würde.

Die neue Parole: "Was kostet das?"

In einem Interview im Juli 2022 – die Wahlkämpfe waren nunmehr vorüber – brachte der frühere Regierungssprecher und jetzige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Gabriel Attal, es dann dergestalt auf den Punkt, die neue Parole anstelle der alten laute nunmehr vielmehr: Qu’est-ce que ça coûte? Also: "Was kostet das?" [12].

Staats- und andere Sozialausgaben, etwa die von den – paritätisch durch Arbeitgeber und Gewerkschaftsverbände verwalteten – Sozialkassen getätigten, sollen nun gleichermaßen auf den Prüfstand.

Und die im ersten Jahr der Pandemie tatsächlich um mehrere Hundert Milliarden gestiegene Staatsverschuldung soll nun als Rechtfertigung für eine Form neuer Austeritätspolitik herhalten, die auch frühere soziale Errungenschaft unter Beschluss nimmt.

Ausbau der Atomenergie bis in die 2040er-Jahre

In einem Interview, das Emmanuel Macron am 22. September im Flugzeug zwischen Paris und New York auf dem Rückweg von der UN-Vollversammlung gab, kündigte er an, die Ausgaben für das Rentensystem müssten sinken [13], da man Geld benötige, um die "transition énergétique" – den Umbau der Energieversorgung – zu finanzieren.

Dies klingt zunächst freundlich und nach Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Diese sind allerdings kaum gemeint, auch wenn Macron vorige Woche auch ein neues Offshore-Windkraftanlagenfeld auf dem Atlantik in der Nähe von Nantes einweihte.

Überwiegend geht es allerdings um einen drastischen Ausbau der Atomenergie bis in die 2040er-Jahre, und dieser benötigt gigantische Mittel.

Gewerkschaftsvorständler wie Philippe Martinez von der CGT erklären bereits erzürnt, hier werde geplant, beitragsfinanzierte - und nicht etwa aus staatlichen, also Steuermitteln alimentierte - Sozialkassen finanziell auszutrocknen, um mehr Geld in den allgemeinen Staatshaushalt zu holen.

Dies wiederum wäre nur auf dem Umweg über eine Senkung der Unternehmensbeiträge zu den Sozialkassen, dadurch erweitere finanzielle Spielräume der Firmen, und eventuell dann auf die zuvor finanziell entlasteten Betriebe zu erhebende Steuern möglich.

Mit der Rente bezahlen

Insofern hat sich auch der Regierungsdiskurs spürbar verändert; denn beim letzten Anlauf zur regressiven Reform der Renten vor zwei Jahren ging es jedenfalls offiziell noch darum, das umlagenfinanzierte Rentensystem selbst "zu retten", indem es auf Jahrzehnte hinaus besser finanziert werde.

Damals ging es unter anderem darum, das Mindesteintrittsalter in die Rente – derzeit gesetzlich 62, wobei eine Umfrage des Instituts Elabe für den Sender BFM TV in der vorletzten Septemberwoche ergab, die befragten Französinnen und Franzosen hielten durchschnittlich 61 für ein angemessenes Alter – anzuheben. 2020 sollte aber auch die Berechnung der Rente verändert werden.

Bis zur ersten Welle von Rentenreformen, die 1995 infolge von Massenstreiks abgebrochen werden musste, aber 2003 und 2010 durch die Regierungen stückweise wieder aufgenommen wurde, wurde die Altersrente nach dem Lohn oder Gehalt der besten zehn Jahre eines Berufslebens berechnet.

Danach wurde die Berechnungsgrundlage auf 25 Jahre ausgedehnt, was natürlich den als Bemessungsgrundlage herangenommenen mittleren Lohn absenkte. Nun sollte der Berechnungsmodus gar auf das ganze Arbeitsleben ausgeweitet werden, was eine weitere drastische Senkung zur Folge hätte.

Was derzeit geplant ist, ist noch nicht einmal genau bekannt, auch wenn es bereits im kommenden Januar verabschiedungsreif sein soll. So blieb bislang noch unbekannt, ob das gesetzliche Renten-Mindestalter auf 64 oder 65 angehoben werden soll, und ob es neben einer höheren Altersgrenze auch weitere, so genannte strukturelle Maßnahmen – wie etwa neue Anrechnungsmodalitäten – geben solle.

Laut Erläuterungen des Regierungssprechers (und früheren Gesundheitsministers) Olivier Véran bei einer Pressekonferenz am Donnerstag, dem 29.09.2022 soll "bis 2031" das gesetzliche Mindestalter für den Renteneintritt dann, infolge sukzessiver Anhebung, bei "65" ankommen [14].

Andere Politiker aus dem Regierungsalter debattieren derzeit eher schon einmal über die Zahl "67", um es daraufhin zu dementieren [15]. Na, einen Versuchsballon darf man doch mal steigen lassen ...

Opposition: "Gegen das teure Leben"

Unterdessen läuft sich auch die Opposition zu Protesten warm. Die Gewerkschaften demonstrierten am 29. September für Löhne und Inflationsausgleich, daran nahmen frankreichweit circa 150.000 bis 200.000 Personen teil.

Am kommenden Sonntag – die Wetterprognose kündigt allerdings strömenden Regen an – soll ein anderer Aktionstag unter dem Motto "Gegen das teure Leben und klimapolitische Untätigkeit" stattfinden.

Den Begriff vom "teuren Leben" zur Beschreibung schwer zu tragender Kosten für den Lebensunterhalt übernahmen die Organisatorinnen und Organisatoren aus dem französischsprachigen Afrika, wo es im Zuge der Krise 2008/2009 breite Protestbündnisse unter dem Namen "Koalition gegen das teure Leben" (Coalition contre la vie chère) gab.

Ihn hat die linkspopulistische, zwischen linker Sozialdemokratie und Linkspatriotismus oder Linksnationalismus oszillierende Wahlplattform La France insoumise (LFI) angesetzt.

An diesem Sonntag wollen die Gewerkschaftsvereinigungen jedoch ausdrücklich nicht mitziehen, jedenfalls nicht als Veranstalter, da ihre Vorstände die Auffassung vertreten, es obliege nicht einer politischen Partei, den sozialen Protest zu organisieren. Diese Position vertritt etwa auch die CGT [16].

Wie bereits in vorausgegangenen Konflikten zwischen beiden, anlässlich mehrerer Demonstrationen im Jahr 2017, drohen sich Linkspartei und Gewerkschaftsapparate dabei Konkurrenz zu machen und in die Quere zu kommen. LFI taumelte jedoch seit dem Wochenende des 17./18. September in eine schwere Krise, nachdem Vorwürfe häuslicher Gewalt gegen ihren jungen Abgeordneten Adrien Quattenens laut wurden.

Er nahm als "Koordinator" der Wahlbewegung LFI seinen Hut, doch ihr Chef Jean-Luc Mélenchon veröffentlichten eine Nachricht über Twitter, die als Unterstützung für den bis dato als möglichen Nachfolger gehandelten Quattenens ausgelegt wurde. LFI steht seitdem in der öffentlichen Meinung eher erkennbar in der Defensive und wird von inneren Konflikten geschüttelt [17].

Die Figur des Chefs in Frage zu stellen, könnte auch innerhalb von LFI nicht schaden. Gleichzeitig könnte es allerdings auch die anstehenden sozialen Mobilisierungen nachhaltig schwächen. Und eine andere Opposition, die ganz andere Absichten hegt, wartet auf ihre Stunde.

Während viele Französinnen und Franzosen derzeit finden, LFI trete allgemein zu polternd auf, konnte sich die extreme Rechte mit einem relativ smarten Auftreten in ihrer Parlamentsarbeit seit den Wahlen vom Juni dieses Jahres einen Reputationsgewinn zulegen [18].

Scheitert die soziale Protestmobilisierung, dann bleibt ja immer noch der gemütliche Faschismus als Alternative.


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[1] https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/penurie-de-carburants/penurie-de-carburant-pres-de-30-des-stations-service-touchees-dimanche-par-des-difficultes-d-approvisionnement_5075698.html
[2] https://www.tf1info.fr/economie/video-penurie-de-carburants-pourquoi-le-nord-est-il-le-plus-touche-2234774.html
[3] https://www.liberation.fr/checknews/les-superprofits-cest-quoi-20220901_2NTVAV73YBHP5DPRU7O7M4425Q/
[4] https://www.liberation.fr/economie/les-entreprises-francaises-versent-443-milliards-deuros-a-leurs-actionnaires-20220824_ISEMCLE22BE6BKPJAKCBBVIPCI
[5] https://www.nouvelobs.com/social/20221008.OBS64305/laurent-berger-desapprouve-la-greve-dans-les-raffineries-lancee-par-la-cgt.html
[6] https://www.novethic.fr/actualite/environnement/climat/isr-rse/en-ouganda-totalenergies-poursuit-le-lancement-d-un-des-plus-gros-projets-petroliers-du-monde-150543.html
[7] https://www.liberation.fr/economie/transports/dans-les-raffineries-une-greve-qui-pourrait-faire-tache-dhuile-20221009_6XXDR7XWONCUZKCPZTBDCOYCVQ
[8] https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/la-bulle-economique/quoi-qu-il-en-coute-a-qui-combien-et-quand-5841390
[9] https://www.europe1.fr/economie/bruno-le-maire-devant-les-patrons-le-quoi-quil-en-coute-cest-fini-4063497
[10] https://www.bfmtv.com/economie/bruno-le-maire-sans-le-quoi-qu-il-en-coute-nous-aurions-126-de-dette-au-lieu-de-115_AN-202202010155.html#:~:text=Critiqu%C3%A9%20pour%20avoir%20fortement%20endett%C3%A9,ch%C3%B4mage%20en%20forte%20baisse.
[11] https://www.latribune.fr/economie/france/face-a-l-inflation-galopante-pas-de-2eme-quoi-qu-il-en-coute-previent-bruno-le-maire-905774.html
[12] https://rmc.bfmtv.com/actualites/economie/gabriel-attal-nous-sommes-passes-du-quoi-qu-il-en-coute-au-combien-ca-coute_AN-202207100100.html
[13] https://www.bfmtv.com/replay-emissions/90-minutes-aurelie-casse/macron-sur-bfmtv-l-interview-exclusive-22-09_VN-202209220772.html
[14] https://www.bfmtv.com/politique/le-projet-de-loi-sera-adopte-a-l-ete-2023-olivier-veran-precise-le-calendrier-de-la-reforme-des-retraites_AV-202209290715.html
[15] https://www.francetvinfo.fr/economie/retraite/reforme-des-retraites/reforme-des-retraites-francois-bayrou-se-dit-persuade-que-l-idee-d-emmanuel-macron-n-est-pas-de-porter-l-age-legal-de-depart-a-67-ans_5407102.html
[16] https://www.humanite.fr/politique/salaires-remunerations/pourquoi-la-cgt-passe-son-tour-pour-la-marche-du-16-octobre-764784
[17] https://www.francetvinfo.fr/politique/nupes/nupes-jean-luc-melenchon-de-plus-en-plus-conteste-meme-dans-son-propre-camp_5407459.html
[18] https://fr.style.yahoo.com/sondage-rn-s-installe-parti-182212550.html?guccounter=1&guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmZyLw&guce_referrer_sig=AQAAAGiCzwbeV5dlbJGqECZbI6gP8yMShQaerjEi7P6LdYZEq9bB0VaC4u4mow8VaXtlskOFOoIZqLFfDn_BRSseBz3fzECXigR2dIhyE4EBIGHN2HD6uVFIQY0sIHbcdEWZzuzgXcC9VfJwAzrtUGqPXuQhBDqE-lusewJGfFK6FPcA