Frankreich: Sicherheitsstaat Nummer 1
Polizei schlägt Schwarzen krankenhausreif. Anlass für die Entladung aufgestauter Aggressionen war, dass der Musikproduzent ohne Gesichtsmaske auf der Straße unterwegs war. Dass es Filmaufnahmen gibt, ist seine Rettung vor weiterem Unglück
Was ging in den Köpfen dieser Polizisten vor? Sie haben am vergangenen Samstag in einem Haus in Paris einen schwarzen Musikproduzenten krankenhausreif geschlagen. Dokumentiert wird dies von einer Überwachungskamera, die sie bei ihrer schier unfassbaren Eskalation der Gewalt filmte.
Ein neunminütiges Video zeigt, wie zwei Polizisten in Uniform und einer in Zivil mit einem Mann am Eingang bei noch geöffneter Tür ringen, um anschließend, bei geschlossener Tür, mit Fäusten, Füßen, Knien und einem Schlagstock mehrere Minuten auf ihn einzudreschen und ihn zu würgen. Der Mann trug schwerere Verletzungen u.a. am Schädel davon.
Immer wieder geht es darum, dass die Tür geöffnet oder verschlossen wird. Einer der Polizisten betätigt sein Telefon oder Funkgerät. Schließlich kommen andere Personen aus einer anderen Tür hinzu, der Musikproduzent wird von den Polizisten nach draußen gezerrt; man sieht mehrere Personen, mehrere Explosionen, Fluchtbewegungen und Nebel.
Was die Überwachungskamera des Aufnahmestudios an Fragen offen lässt, wird in einem zweiten Video des "Loopsider"-Journalisten David Perrotin erklärt. Demnach wurde der Musikproduzent der Black Gold Studios im Verlauf von 20 Minuten von den Polizisten schwer misshandelt und beleidigt (mehrfach "dreckiger Neger") wie auch andere Personen, Musiker, die in anderen Räumen des Studios tätig waren und dem Produzenten zu Hilfe kamen, nachdem dieser mehrmals um Hilfe gerufen hatte.
Auch sie bekamen im Verlauf der Polizeiaktion Aggressionen zu spüren. Die Explosionen im ersten Video stammen von Polizei-Tränengas-Granaten (Nachtrag: Anscheinend war es nur eine). Die Musiker steuerten noch andere Aufnahmen der "Nahkämpfe" bei, die im zweiten Video, dem des Loopsider-Journalisten, zu sehen sind.
Angst um sein Leben
In diesem zweiten Video sind auch Aufnahmen von Bewohnern enthalten, die weitere Gewaltszenen auf der Straße dokumentieren und damit die Version der Abläufe, wie sie das Opfer der Polizeigewalt berichtet, unterstützen. Geht es nach den Polizisten, so soll der Mann versucht haben, ihre Waffen zu entwenden. Wegen "Widerstands gegen die Staatsgewalt" (i.O. "outrage et rebellion") wird der Mann später aufs Revier mitgenommen, wo er 48 Stunden in Polizeigewahrsam bleibt.
Die Version, die der Musikproduzent erzählt, erklärt das Gerangel an der Tür. Er sei am Samstagabend gegen 19 Uhr 40 auf dem Weg zu seinem Studio gewesen, ohne eine Nasen- und Mundschutzmaske zu tragen, wie sie vorgeschrieben ist, und dabei an einem Polizeiauto vorbeigekommen, weswegen er sich beeilt habe, ins Haus zu kommen, wo sich sein Studio befindet. Die Polizisten seien ausgestiegen und seien ihm bis zum Eingang des Studios gefolgt, wo das Gerangel begann. Das Betreten der Polizei von Privaträumen ohne Durchsuchungsbescheid ist bekanntlich verboten.
Als er sagte, dass er nicht rausgehen wolle, schließlich sei er hier in seinen Räumen, hätten sie angefangen, ihn zu schlagen. Er rief um Hilfe. Im weiteren Verlauf kommt Polizeiverstärkung, die Situation eskaliert, auch die Musiker bekommen Schläge ab, es werden Granaten geworfen. Laut Aussage des Musikproduzenten habe er sehr darauf geachtet, dass er keinerlei Gesten mache, die missverständlich als offensiv ausgelegt werden könnten. Er hatte Angst um sein Leben.
Die herbeigerufene Verstärkung versuchte die Tür zu sprengen, damit sie ihn erneut aus dem Studio zwangen. Als er sich entschloss nach unten zu gehen, wurde er von bewaffneten Polizisten, die auch eine Waffe auf ihn richteten empfangen. Danach hagelte es erneut Schläge und Prügel - auch für die Musiker, darunter auch ein Minderjähriger. Nach ihren Aussagen wussten weder sie noch die Polizeikräfte, worum es im Grunde überhaupt ging.
Ein Innenminister in Verlegenheit
In diesem zweiten Video kommt auch die Anwältin des Mannes zu Wort, die schwere Vorwürfe gegen die Polizei richtet. Sie hätten gelogen. Nicht er habe die Polizisten in sein Studio gezogen, sondern sie ihn dort hineingedrückt. Sämtliche Aggressionen gingen von ihnen aus, wie es die Aufnahmen klar zeigen. Das Video wurde heute Vormittag im französischen Twitter schnell bekannt, der in Frankreich bekannte Analyst des liberalen Magazins L'Opinion, Jean-Dominique Merchet (kein Linker) tweetete es heute Vormittag weiter. Bislang wurde es 3,9 Millionen mal gesehen.
So kam es auch Innenminister Darmanin vor Augen. Der reagierte kurze Zeit später und "begrüßte die Tatsache, dass die Polizeiaufsichtsbehörde IGPN die Sache schon am Dienstag eingeschaltet wurde". Die Polizisten seien vom Dienst suspendiert.
Wie der oben erwähnte Journalist Perrotin in seiner Reaktion darauf präzisierte, sei das nur geschehen, weil die Anwältin die Videos präsentiert hatte. Infolgedessen erst wurde die "Polizei der Polizei" von der Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Die Anklage gegen den Musikproduzenten wurde fallengelassen.
Hätte es die Aufnahmen der Überwachungskamera nicht gegeben, so hätte es das Opfer der Polizeigewalt sehr schwer gehabt, seine Aussage gegen die drei Polizisten zu behaupten. Er wäre wahrscheinlich ins Gefängnis gekommen, so seine Befürchtung. Und hätte es die filmenden Nachbarn nicht gegeben, dann hätten die zur Verstärkung gerufenen Polizisten mit ihrer Gewalt gegen den Mann und andere Personen vor dem Haus nicht aufgehört. Erst als es hieß, dass sie gefilmt werden, stoppten die Polizisten ihre Aktionen und verließen den Schauplatz.
Nummer 1 in der EU
Dies passierte, nachdem am Tag zuvor der Entwurf zum Gesetz "Security Globale" bei der ersten Lesung eine Mehrheit im Parlament Assemblée Nationale bekommen hatte. Mittlerweile wurde der leicht veränderte Gesetzesentwurf durch eine weitere Abstimmung bekräftigt, im Januar kommt er vor die zweite Kammer, dem Senat. Der Artikel 24 des Gesetzes wird künftig die Verbreitung solcher Aufnahmen von Polizisten weitgehend unter saftige Strafe stellen.
Der außerparlamentarische Widerstand gegen das Gesetz ist groß und hat auch schon Institutionen erreicht, auch die EU kritisierte ihn. Der Jurist Yves Jeanclos fasste die Lage kürzlich bei Le Monde so zusammen: Frankreich ist nun "Sicherheitsstaat Nummer 1 in der EU".
In dem Gesetz zur "Security Globale" geht es nicht nur um den Straftatbestand der Verbreitung von Bildern von Polizisten (Filmen und Fotografieren von Polizisten sind in Frankreich gesetzlich erlaubt) und die Erlaubnis für die Polizei, Demonstrationen künftig von Drohnen überwachen zu lassen, sondern auch um eine Neuordnung der Sicherheitskräfte. Das hat zum Ergebnis, das Frankreich künftig über eine beachtliche Stärke staatlicher und privater "Ordnungskräfte" verfügt: "30.000 städtische Polizisten, 150.000 Beamte der police nationale, 170.000 Angestellte privater Sicherheitsunternehmen (…) dazu 99.000 Miltärs der gendarmerie nationale", so Jeanclos.
Die Gesetzgeber und die Exekutive seien mit der Verpolizeilichung ("Policisation") der Gesellschaft weit vorangekommen, so der Jura-Professor.