Franzosen können Streik: Sturm auf die Rentenreform
Rekord-Mobilisierung: Weit über eine Million auf der Straße, neuartige Bündnisse: Gewerkschaften, Umwelt- und Klimaschutzverbände und Frauen-Aktivistinnen. Aber zu spät?
Es war die größte Mobilisierung dieses Jahres, auf Aufruf der französischen Gewerkschaften hin, gerichtet gegen die am 10. Januar dieses Jahres verkündete "Rentenreform".
Gleichwohl, ob man nun die – gewöhnlich niedrigeren – Zahlen des Innenministeriums, in diesem Fall lauten sie: "1,28 Millionen" oder die wie üblich höheren Angaben der Gewerkschaften "3,5 Millionen" heranzieht: Am gestrigen Dienstag wurde beim sechsten "Aktionstag" in Folge seit Januar dieses Jahres ein Mobilisierungsrekord erreicht.
Neuartige Bündnisse
An 270 verschiedenen Orten in Frankreich gingen mehr Menschen denn je zuvor in diesem Jahr auf die Straße. Zu den Stärken der Mobilisierung zählen auch neuartige Bündnisse. So gingen in Paris Umwelt- und Klimaschutzverbände in einem gemeinsamen Block mit Gewerkschaften zur Demo.
Demonstration, Paris, 07.03.2023 (4 Bilder)
Ähnelt dieses Bündnis dem zwischen Verdi und Fridays for future bei den Streiks in deutschen Städten in der zurückliegenden Woche, wurde es in Frankreich durch die gemeinsame Erklärung unter anderem der CGT, von Greenpeace und anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Jahr 2020 nach dem ersten Lockdown – "So nicht weiter", nach dem Wiederanfahren – vorweggenommen.
Auch die Mobilisierung für Frauenrechte am heutigen 08. März fließt mit der Streikbewegung zusammen, zumal Frauen, die durch Kindererziehungszeiten eine gebrochene Erwerbsbiographie aufweisen, zu den stärksten Verliererinnen der geplanten Anhebung des Renteneintrittsalters und der Zahl abgeforderter Beitragsjahre zählen.
Die bislang stärkste Mobilisierung war am 31. Januar erreicht worden, damals zählten das französische Innenministerium "1,27 Millionen" und die Gewerkschaften "2,8 Millionen" Menschen in den Protestzügen.
Hinzu kamen am gestrigen Tag Streiks, unter anderem bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben der RATP, wo jeweils zahlreiche Züge ausfielen, sowie im Energiesektor. In mehreren Wasser- und Atomkraftwerken wurde die Leistung heruntergefahren, ohne Konsequenzen für die Haushalte, jedoch für den Stromexport im europäischen Netzverbund.
Streiks und Streikrecht
Die Streiks werden an den meisten Orten fortgesetzt. In allen Raffinerien in Festlandfrankreich (ohne "Überseegebiete") ist der Treibstoffversand seit Montag unterbrochen. Um es infolgedessen zum Beginn einer ernsthaften Kraftstoffkrise an den Tankstellen kommen zu lassen, bräuchte es allerdings einen rund zwei Wochen dauernden Arbeitskampf.
Just in diesem Kontext unternahm übrigens die konservative Senatsfraktion, die der Partei Les Républicains – diese hat im "Oberhaus" des französischen Parlaments eine Mehrheit inne, während ihre Fraktion in der Nationalversammlung, dem "Unterhaus", seit den Wahlen vom Juni 2022 auf ein Zehntel der Sitze zusammenschrumpfte – einen Vorstoß gegen das Streikrecht, jedenfalls im Petrochemie-Sektor.
Dort sollen abhängig Beschäftigte, geht es nach ihrem Antrag, künftig nur noch "einmal pro Woche, und für eine Dauer von maximal drei Tagen" von ihrem Streikrecht Gebrauch machen dürfen. Am Mittwochvormittag gegen 09.30 Uhr reagierte ein Mitglied der Regierungsfraktion in der NAtionalversammlung, der elsässische Abgeordnete Charles Sitzenstuhl von Emmanuels Macron Präsidentenpartei Renaissance (vormals La République en marche), in einer Antwort auf den konservativen Senator Stéphane Le Rudulier: "Warum nicht?"
Pakt zwischen Regierung und Opposition zeichnet sich ab
Nicht nur dort zeichnet sich ein eventueller Pakt zwischen dem wirtschaftsliberalen Regierungslager und einem Teil der Rechtsopposition ab. Auch bei der Verabschiedung der derzeit debattierten Rentenreform selbst deutet sich an, dass die bürgerlich-konservative Opposition mit ihrer Mehrheit im Senat dem Regierungslager zu Hilfe eilen könnte.
Dabei dürfte das "Oberhaus", wo die Debatte derzeit andauert, allerdings eine andere Textfassung verabschieden als die Nationalversammlung in erster Lesung. Dies kommt dem Regierungslager allerdings zupass. Nehmen nämlich beide Kammern unterschiedliche Versionen des Gesetzestextes an, dann wird ein Vermittlungsausschuss eingesetzt.
Einigt sich dieser auf eine gemeinsame Vorlage, dann dürfen beide Kammern nur über diese "doppelt legitimierte" Version abstimmen, und das Antragsrecht der Oppositionsfraktionen ist blockiert: Nur mit Zustimmung der Regierung dürfen dann noch Änderungen am Text vorgeschlagen und debattiert werden.
Statt, wie geplant, am 26. März könnte die Parlamentsdebatte deswegen, wie es in manchen Leitartikeln inzwischen anklingt, im Falle einer Einigung bereits am 16. März abgesetzt werden.
Zu spät?
Dann würden die Streikbewegungen herausgefordert, die unbefristet erst am gestrigen 07. März ausgerufen wurden, jedoch noch nicht genügend Folgen entfaltet haben, um zur vollen Wirkung zu kommen und die Verabschiedung zu verhindern.
Ist der Text einmal angenommen, könnte die Streikfront bröckeln. Trifft dies jedoch zu, dann würde sich rächen, dass ein Teil der Gewerkschaften so lange warten wollte. Bereits Ende Januar waren unbefristete Streiks im Gespräch, doch der so genannt "moderatere" Teil der Gewerkschaften wie die CFDT wollte damals die – im Laufe des Februar, in drei regionalen Zonen von Nord nach Süd, angesetzten – vierzehntägigen Schulferien nicht gefährden.
Allerdings verreist nur eine klare Minderheit der Franzosen in diesen Winterferien, schon aus finanziellen Gründen. Eventuell hat der offiziell gehegte Wunsch, Streiks nicht unpopulär werden zu lassen – im Falle der rechtssozialdemokratisch geführten CFDT verbirgt er allerdings unschwer eine Strategie, die Verhandlungen mit dem Regierungslager oder der LR-Fraktion hinter den Kulissen für wichtiger hielt als den Aufbau eines sozialen Kräfteverhältnisses – hier der Streikbewegung ein Bein gestellt haben.