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Frau Merkel, wir haben ein Problem

Flashmob gegen gewaltsame Übergriffe am 9. Januar 2016. Foto: Elke Wetzig / CC BY-SA 4.0

Die Aufnahme von Flüchtlingen ist alternativlos - "Augen zu und durch" als Antwort auf damit verbundene Konflikte allerdings die falsche Strategie. Ein Jahresrückblick

"Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!", versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende August 2015 auf ihrer Sommerpressekonferenz [1]. Der Satz war auf den Umgang mit Flüchtlingen gemünzt. Ein paar Tage später sollten die Mengen von Neuankömmlingen dramatisch zunehmen, als die Kanzlerin die deutsche Grenze zu Österreich für die Flüchtlingsströme aus Ungarn öffnete und hunderttausende Menschen ins Land kamen.

Begrüßt von der Bundeskanzlerin, die sich in der Folgezeit gern medial in der Dankbarkeit der Aufgenommenen sonnte. Beklatscht von denjenigen, die in den kommenden Monaten beherzt sehr viel Tee kochen und Kuchen backen, trösten, Tränen trocknen, kleinere und größere Wunden versorgen, Übernachtungsmöglichkeiten organisieren, Verpflegung besorgen und Fahrkarten für die Weiterreise in skandinavische Länder finanzieren würden.

Denn leider vergaß die Kanzlerin vor lauter Freude über die ihr selbst in entlegensten Regionen Europas via Pappschilder entgegengebrachte Dankbarkeit, die entsprechenden Maßnahmen zu treffen, damit nicht nur das Ankommen, sondern vor allem das Dableiben möglich wird.

Die Zeche zahlen die, die sowieso nichts haben

In einer Gesellschaft, in der immer größere Teile marginalisiert werden, immer mehr Menschen in immer schlechter bezahlte Jobs oder ganz vom Arbeitsmarkt gedrängt werden, immer mehr Menschen Angst vor bitterer Armut im Alter haben, immer mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, weil sie sich die Mieten nicht leisten können, in der Sanktionsmaschinerie der Jobcenter zerrieben werden und die Folgen des Zwei-Klassen-Gesundheitssystems zu spüren bekommen, nützt es nichts, mit markigen Worten von Integration zu sprechen. Es muss etwas dafür getan werden.

Und zwar für alle: Für die, die schon immer hier waren, für die, die schon lange hier sind, für die, die seit kurzem hier sind, und für die, die noch kommen werden.

Keine pauschalen Verurteilungen

Sehr schnell wurde ein weiteres Problem sichtbar, auf das beide Seiten - die Bundesregierung und die Linke - mit simplen Antworten reagierte: (sexuelle) Gewalt und Terror durch Flüchtlinge oder Personen, die offiziell als Flüchtlinge eingereist sind.

Die Bundeskanzlerin will sich damit behelfen, die Probleme wegzuflöten. Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt freut sich, dass "wir wieder religiöser werden". Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) hält Abschiebung für ein probates Mittel. Schnelle Abschiebung von Vielen, damit Einige bleiben können und deren Dableiben auch machbar ist, forderten auch die Linken-Politiker Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch [2]. Innenminister de Maizière (CDU) sieht im Überwachungsstaat die Patentlösung. Und die Linke setzt auf Ignoranz.

Im Windschatten all dessen erfreuten sich rechtspopulistische Strömungen wie PEGIDA oder die AfD über regen Zulauf und wachsende Popularität, und erlangten politische Relevanz. Rechtspopulisten und Neonazis nehmen jeden Vorfall zum Anlass, um pauschal gegen Flüchtlinge zu hetzen. Es geht aber nicht um pauschale Verurteilungen und Selbstjustiz in Form von rassistischen Anschlägen, sondern um wirksame politische Lösungen für ein drängendes gesellschaftliches Problem.

Selbstverständlich geht nicht von allen Flüchtlingen und Migranten Gefahr aus. Sondern von einem Teil - allerdings einem nicht ganz unerheblichen Teil. Deren Gewalt richtet sich in erster Linie gegen andere Flüchtlinge, insbesondere gegen Frauen auf der Flucht und in den Asylunterkünften.

Dieser Teil übt indes auch in diesem Land (sexuelle) Gewalt gegen Frauen und Mädchen, männliche Jugendliche und sehr junge Männer, "Ungläubige", Homosexuelle oder Ausgegrenzte wie z.B. Obdachlose aus. Das heißt allerdings nicht, dass Flüchtlinge und Migranten (sexuelle) Gewalt importiert oder das Patent darauf haben.

881 Sexualdelikte in einer einzigen Nacht

Der große Schock kam an Silvester: In nur einer Nacht, der Nacht vom 31.12.2015 auf den 1.1.2016, übten laut Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) ca. 2.000 Männer Straftaten aus [3]:

Laut BKA gab es in dieser Nacht bundesweit 881 registrierte Sexualdelikte mit mehr als 1.200 weiblichen Opfern. Darunter 5 Strafanzeigen wegen vollendeter und 16 wegen versuchter Vergewaltigung allein in Köln. Außerdem waren die Städte Bielefeld, Frankfurt/Main, Hamburg, Nürnberg und Stuttgart betroffen. Die Süddeutsche fasst zusammen [4]:

Bei einigen dieser Straftaten sind mehrere Frauen betroffen gewesen. So kommt das BKA auf eine Zahl von insgesamt etwa 1.200 Opfern sexueller Übergriffe: etwa 650 in Köln, mehr als 400 in Hamburg sowie weitere in Stuttgart, Düsseldorf und an anderen Orten.

SZ [5]

Von diesen 2.000 vermutlich involvierten Männern haben schätzungsweise mehr als 90% einen Migrationshintergrund (von den bislang ermittelten Beschuldigten haben keine 10% einen deutschen Pass), davon knapp die Hälfte wurde als Asylsuchende registriert, die größtenteils im Sommer 2015 eingereist sind, und die andere knappe Hälfte hielt sich mit ungeklärtem Status in Deutschland auf. Der Kriminologe und ehemaliger niedersächsischer Justizminister, Christian Pfeiffer, bezeichnete die Silvesternacht als "Alarmsignal" [6].

1.200 Einzelschicksale

1.200 weibliche Opfer in einer einzigen Nacht. Ein Ausmaß an sexueller Gewalt, das in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig ist (vgl. Köln: "Völlig neue Dimension der Gewalt" [7]).Was die Frauen konkret erlitten haben, schildert Claudia Vosen u.a. in dem Buch "Der Schock - Die Silvesternacht von Köln" von Alice Schwarzer.

"23.57 Uhr. Claudia Vosen steigt zusammen mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Kindern, eine 15-jährige Tochter und ein 13-jähriger Sohn, aus der Linie 18. Die Familie will ans Rheinufer, denn: "Der Kölner guckt Silvester ja das Feuerwerk am Rhein." Die vier nehmen die Rolltreppe die innerhalb der Bahnhofshalle endet, ganz in der Nähe zum Bahnhofsvorplatz.

"Da fiel uns auf, dass sehr viele Männer in der Bahnhofshalle waren. Plötzlich detonierte eine Silvesterrakete mitten in der Halle. Und dann ging der Tumult los. Das war wie ein Startschuss. Von draußen drängten massenhaft Männer in die Halle. Schreie, Rufe, Gedränge. Mein Mann wurde von uns weggerissen. Er verschwand in der Menge, die uns wie eine Mauer umgab. Ich hatte um meinen Sohn vor mir einen Arm gelegt und griff mit der anderen Hand nach hinten nach meiner Tochter. Die hatte sich an meinen Rücken geklammert ...", zitiert Schwarzer Claudia Vosen.

Es war der Beginn eines Infernos, das Mutter und Tochter bis heute Albträume beschert. "Plötzlich hatten wir Hände am ganzen Körper. Sie fassten uns an die Brüste, griffen uns brutal zwischen die Beine, zerrten an Reißverschlüssen, Finger pulten nach Öffnungen … Die haben sich sogar gebückt, um uns besser zwischen die Beine fassen zu können ..."

In der darauffolgenden Auseinandersetzung interessierte sich allerdings kaum jemand für die Opfer dieses Infernos. Ob sie entsprechende psychologische Betreuung erhalten haben, oder ob sie einen entwürdigenden Kampf mit ihren Krankenkassen um ein paar zusätzliche Therapiestunden führen müssen, ob sie nachts von Albträumen gequält werden, wie junge Mädchen wie die 15jährige Tochter von Claudia Vosen die Erlebnisse verarbeiten - niemand weiß es. Und (fast) niemand fragt danach.

Seitdem bekannt wurde, dass die Opfer ihre Peiniger größtenteils als "Nordafrikaner" oder "aus dem nordafrikanischen Raum" kommend beschrieben haben [8], sind sie Zielscheibe geballten Hasses geworden. Aus den Opfern wurden Täterinnen, denen angelastet wurde, durch die Beschreibung ihrer Beobachtungen pauschal alle Flüchtlinge der Gefahr rassistischer Anschläge ausgesetzt zu haben. Die Täter wurden umgehend mit dem Verweis auf das Oktoberfest, wo ja alles genauso schlimm, wenn nicht schlimmer sei, entlastet.

Auch Claudia Vosen machte die Erfahrung, plötzlich im Fadenkreuz zu stehen. Sie erlebte eine Täter-Opfer-Umkehr, die bis heute anhält.

Der Wahnsinn hat Methode

Den ganzen Sommer 2016 über gab es Berichte von derartigen Vorfällen - allerdings in viel kleineren Rahmen - wie in der Silvesternacht. Egal ob in einer Großstadt wie Bremen oder einem kleinen Kaff wie Ahrensburg in Schleswig-Holstein, viele Stadtfeste boten den Rahmen für diese Art der (sexuellen) Gewalt.

Diese Art des kollektiv verübten Diebstahls war als "Antanz-Delikt" bekannt. Auch in Köln, an jenem Platz, wo sich in der Silvesternacht die Gewaltorgie ereignete, vor der die Polizei schlicht kapitulierte. Inzwischen ist klar, dass es genau umgekehrt war.

Ziel war die sexuelle Erniedrigung, die Diebstähle waren Nebensache. Erniedrigung der betroffenen Frauen, die damit für ihren freizügigen Lebensstil abgestraft wurden. Aber auch der Männer der Mehrheitsgesellschaft (egal, ob mit oder ohne deutschen Pass), als deren Besitz die Frauen gelten und die mit dem Angriff auf diesen "Besitz" empfindlich getroffen werden sollten.

Inzwischen geht das BKA davon aus, dass in Köln das in arabischen Staaten bekannte "taharrush gamea" praktiziert wurde. "Taharrush" bedeutet Belästigung, "gamea" gemeinschaftlich. Als Merkmale wurde die gemeinschaftliche Begehung von sexuellen Belästigungen von Frauen bis hin zu Vergewaltigungen durch Gruppen meist junger Männer in der Öffentlichkeit, meist in größeren Menschenansammlungen, genannt [9].

Völlig aus dem Ruder gelaufen

Die Antwort auf die Frage, was genau in der Silvesternacht und in deren Folge eigentlich schief lief, lautet: Alles!

In der ARD-Dokumentation Der Silvester-Schock [10], in der u.a. auch Claudia Vosen zu Wort kommt, wird deutlich: Schon am späten Silvesterabend und in der Nacht gingen beim Notruf der Kölner Polizei Hunderte Anrufe ein, die alle beim leitenden Beamten gebündelt wurden, und die alle dieselben Vorfälle beschrieben.

Menschen wurden von größeren Männer-Gruppen bedrängt. Dabei wurden Wertsachen gestohlen (Männern und Frauen) und Frauen und Mädchen sexuell belästigt. In vielen Beschreibungen ist von Händen im Hosenbund, in einigen von Fingern in der Vagina die Rede.

Auch die Täter werden im Wesentlichen immer gleich beschrieben: junge Männer, deren Wurzeln vermutlich im nordafrikanischen Raum zu finden sind. Der Leiter der Notrufzentrale beschrieb die Nacht in einer internen Mitteilung abschließend als "friedlich", und die Stimmung als "ausgelassen". Genauso wurde das dann am Neujahrsmorgen in einer Pressemitteilung kommuniziert [11].

Die Hinweise auf die Herkunft der Täter ließ er unter den Tisch fallen. Das sei ihm zu heikel erschienen, sagte er später. Noch etwas wird deutlich: Schon sehr viel früher zeichnete sich eine klare Gefahrenlage ab. Nämlich so gegen 18 Uhr 30, als im Dom die Messe stattfand.

Dass nicht sein kann, was nicht sein darf

Das Problem sexueller Belästigung bis hin zu Gewalt äußert sich auf der Flucht, in den Asylunterkünften und darüber hinaus. In Freiburg z. B. kamen im Januar 2016 mehrere Discotheken überein, (vorerst) keine Flüchtlinge mehr einzulassen. Darunter auch der Szene-Club "White Rabbit", in dem u.a. Solidaritätspartys für Flüchtlinge stattfinden. Auf ihrer Facebook-Seite gaben die Betreiber eine Erklärung [12] dazu ab, und listeten auch die Vorfälle auf, die sie zu dem Schritt bewogen hatten.

Freiburgs grüner Oberbürgermeister Dieter Salomon versuchte das Problem kleinzureden.

Salomon sagte, er wolle die Vorfälle nicht verharmlosen. Der grüne Politiker weist aber darauf hin, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern höchstwahrscheinlich um junge Männer aus den Maghreb-Staaten handelt. "Das sind junge Männer, die in ihren Heimatländern Gewalterfahrungen gemacht haben, die kampfbereit und bewaffnet sind. Es handelt sich um eine schwierige Klientel. Mit Flüchtlingen aus Syrien hat das wenig zu tun".

SZ [13]

Diese Verharmlosung, diese Relativierung und das schlicht Nicht-wahrhaben-Wollen, dass Flüchtlinge auch nur Menschen sind, Männer zu einem großen Teil, in vielen Fällen Männer mit einer "problematischen Prägung", wie Pfeiffer sagt [14], begleitete uns durch das ganze Jahr.

War es Silvester, das Oktoberfest, das als Vergleich herangezogen wurde, war es an anderer Stelle die Statistik der untergetauchten verurteilten Neonazis, die mit dem Hinweis, vor der eigenen Tür zu kehren, in die Runde geschmissen wurde, die Statistik der Verkehrstoten nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt oder die Auflistung der 28 von Nazis ermordeten Obdachlosen, nachdem eine Horde junger Flüchtlinge in einem Berliner U-Bahnhof einen schlafenden Obdachlosen in Brand gesetzt hatten. Egal was, irgendeine Statistik, die vermeintlich Schlimmeres, vor allem aber "eigenes" Ungemach belegte, fand sich immer.

Damit werden die Täter nicht nur entschuldet, sondern auch ausgegrenzt. Denn Gewalt wird eingeteilt in "unsere" Gewalt, die schlimm ist, und um die wir uns kümmern müssen, und in "deren" Gewalt, die offenbar nicht so schlimm ist und die wir deswegen zu akzeptieren haben, solange wir "unsere" Gewalt nicht in den Griff kriegen.

Multikulturalismus und Kulturrelativismus

Woher aber kommt dieses Bedürfnis, Gewalttaten - und viele davon waren keine Kleinigkeit - zu bagatellisieren, nur weil sie von Flüchtlingen begangen werden? U.a. mit dieser Frage beschäftigen sich die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und der Historiker Heiko Heinisch in ihrem Buch "Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?"

1964 entwarfen die beiden Kanadier, der Soziologe Charles W. Hobart und der Historiker Paul Yuzyk, "die Utopie einer Gesellschaft, in der Menschen verschiedenster Sprachen, Konfessionen, Herkunft und kultureller Traditionen ohne Diskriminierung zusammenleben, sich nicht assimilieren, aber auch nicht segregieren, und sich gegenseitig respektieren und achten sollen ... Die jeweiligen Kulturen haben nach dieser Vorstellung Anspruch auf rechtliche Anerkennung und, falls gewünscht, auf Sonderrechte, ..." Diese Utopie nannten die beiden "Multikulturalismus".

Doch Akzeptanz kann nicht ohne Aufgabe eigener Wertvorstellungen erfolgen. Schwierig wird es, wenn davon grundlegende Prinzipien, wie z. B. universelle Menschenrechte, oder schwer erkämpfte Rechte wie z.B. sexuelle Selbstbestimmung oder Recht auf körperliche Unversehrtheit, berührt sind - und geopfert werden. Für Scholz und Heinisch,Verfasser des Buches "Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?", ist die Theorie des Multikulturalismus "in seiner Tendenz kulturrelativistisch".

Die kulturrelativistische Position fordert das Recht auf kulturelle Differenz und betont dabei die Unvergleichbarkeit verschiedener Kulturen, deren moralisch-ethische Prinzipien jeweils die gleiche Gültigkeit beanspruchen könnten. Sie seien daher in ihrer Vielfalt und in ihrem Status Quo zu erhalten.

Nina Scholz und Heiko Heinisch

Das bedeutet auf die aktuelle Situation übertragen: Kinder-Ehe, Burka, Ehrenmord, Beschneidung, Hand abhacken und Steinigung haben dieselbe Daseinsberechtigung wie das Wahlrecht für Frauen, sexuelle Selbstbestimmung, Bewegungsfreiheit, das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes oder dass Frauen Auto fahren dürfen. Für jede kulturelle Gruppe gelten die entsprechenden Normen, Werte und Traditionen.

Mit Ausnahme der eigenen. Denn: "Der Multikulturalismus gibt sich zumeist radikal antiwestlich", so Scholz und Heinisch. Auch die allgemeinen Menschenrechte würden nicht als universalisierbar betrachtet, da sie Produkt der westlichen Kulturen seien.

Das wiederum nennt sich Kulturrelativismus, und es fiele "Kulturrelativisten naturgemäß schwer, heikle, beziehungsweise verstörende Aspekte einer Kultur (außerhalb der westlichen) zur Kenntnis zu nehmen und zu bewerten".

Mut zur schmerzhaften Wahrheit

Der unbestreitbar vorhandene Rassismus trüge ebenfalls dazu bei, erläuterte Heinisch gegenüber Telepolis:

Dem von Rechtspopulisten kolportierten Bild der muslimischen Horden glauben weite Teile der Linken damit begegnen zu müssen, dass sie einerseits die Ankommenden glorifizieren und andererseits die negativen Eigenschaften der Mehrheitsgesellschaft hervorheben. Zu den Kölner Silvesterereignissen heißt es dann abseits aller Fakten, das sei beim Oktoberfest auch nicht anders.

Heiko Heinisch

Mit dieser Relativierungsstrategie tappten Linke aber ihrerseits in die Rassismusfalle:

Statt sich mit den Menschen, die da kommen, und mit den Gesellschaften, aus denen sie kommen und in denen sie sozialisiert wurden, zu beschäftigen, halten sie ihre vermeintlich schützende Hand über sie. Sie interessieren sich nicht genauer für diese Menschen, sondern machen sie zum Objekt ihrer Politik.

Heiko Heinisch

Um Probleme zu bewältigen, müssten diese zunächst beim Namen genannt werden, so Heinisch:

Menschen, die aus mehrheitlich muslimischen Staaten nach Europa kommen, kommen aus konservativen, extrem patriarchalen Gesellschaften, aus Gesellschaften, in denen weitgehende Geschlechtertrennung herrscht, die sehr autoritär strukturiert sind, eine hohe Affinität zu Gewalt aufweisen und die sehr stark religiös durchdrungen sind - und zwar von einem zum Fundamentalismus neigenden Islam.

Das muss man zur Kenntnis und ernst nehmen, denn Menschen geben ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und Vorurteile nicht an der Grenze ab, und somit darf es nicht verwundern, dass sich unter den Flüchtlingen viele befinden, die ein Geschlechter-, Frauen- und Gesellschaftsbild in sich tragen, das mit unseren Vorstellungen kollidiert, die einem konservativen bis fundamentalistischen Islam anhängen, beziehungsweise von diesem geprägt sind und die europäischen Gesellschaften verachten.

Heiko Heinisch

Was tun?

Zu allererst hieße es, wachsam sein, so Hélie-Lucas: "Die erste Stufe sind Angriffe auf die legalen Rechte der Frauen (Forderung eines besonderen 'muslimischen' Familienrechts; Geschlechtertrennung in Krankenhäusern, Schwimmbädern, etc.), verbunden mit partikularistischen Forderungen im Schulbereich (das Recht auf Kopftuch für Lehrerinnen, nicht laizistische Bildungsgänge etc.). Die zweite Stufe sind gezielte Angriffe gegen Zuwiderhandelnde (Steinigung von Frauen und Homosexuellen etc.) und gegen alle Laizisten, …, Journalistinnen, Schauspielerinnen, Musiker, Karikaturisten … Die dritte Stufe sind wahlloses Angriffe gegen jedes Verhalten, das nicht dem islamischen Ideal entspricht."

Auch der algerische Schriftsteller Kamel Daoud sieht die "Prägung" als grundlegendes Problem, "dass der Flüchtling aus einer Kultur-Falle kommt, die vor allem von seinem Verhältnis zu Gott und zur Frau bestimmt wird", schreibt er in dem Buch "Der Schock".

Die Aufnahme der vor dem Islamischen Staat Flüchtenden, der Asylbewerber, wird im Westen von einer Überdosis Naivität genährt: Man erkennt im Flüchtling nur seinen Status, nicht aber seine Kultur; er ist das Opfer, das eine Projektion oder ein Gefühl von menschlicher Pflicht oder ein Schuldgefühl beim westlichen Menschen hervorruft … Es reicht nicht, Papiere auszustellen, und Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünfte unterzubringen, um der Sache gerecht zu werden. Man muss dem Körper Asyl bieten, aber auch die Seele davon überzeugen, sich zu ändern … Auf der anderen Seite versteht man noch nicht, dass Asyl nicht nur bedeuten kann, 'Papiere' zu bekommen, sondern auch die gesellschaftliche Übereinkunft der Moderne zu akzeptieren.

Kamel Daoud

Höchste Zeit also, die Bundesregierung nachhaltig an ihre Pflichten zu erinnern. Und darauf zu pochen, dass in Menschen investiert wird, statt in Millionen Euro teure Überwachungsanlagen, die in diesem Jahr am Kölner Hauptbahnhof anlässlich des Jahreswechsels installiert werden.

Literatur
Alice Schwarzer (Hrsg), "Der Schock - Die Silvesternacht von Köln", Kiepenheuer und Witsch, Köln

Heiko Heinisch, Nina Scholz, Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?, Passagen Verlag, Wien


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[1] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html
[2] http://www.unsere-zeit.de/de/4752/innenpolitik/1521/Widerspr%C3%BCchliche-Fl%C3%BCchtlingspolitik-von-Bodo-Ramelow.htm
[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/uebergriffe-in-koeln-frauen-wurden-opfer-von-silvester-gewalt-1.3072064
[4] http://www.sueddeutsche.de/politik/uebergriffe-in-koeln-frauen-wurden-opfer-von-silvester-gewalt-1.3072064
[5] http://www.sueddeutsche.de/politik/uebergriffe-in-koeln-frauen-wurden-opfer-von-silvester-gewalt-1.3072064
[6] http://www.derwesten.de/region/rhein-und-ruhr/kriminologe-christian-pfeiffer-koeln-ist-ein-alarmsignal-id11439465.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Koeln-Voellig-neue-Dimension-der-Gewalt-3377551.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Koeln-Polizei-tappt-im-Dunkeln-3377571.html
[9] http://www.focus.de/politik/deutschland/gemeinschaftliche-begangene-sexuelle-belaestigung-nach-koelner-sex-angriffen-bka-will-das-phaenomen-taharrush-gamea-bekaempfen_id_5200218.html
[10] http://mediathek.daserste.de/Reportage-Dokumentation/Die-Story-im-Ersten-Der-Silvester-Schoc/Video?bcastId=799280&documentId=39572686
[11] http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/12415/3214905
[12] https://www.facebook.com/White.Rabbit.Club/posts/1086243324729028
[13] http://www.sueddeutsche.de/panorama/fluechtlinge-freiburger-ob-fordert-harte-linie-gegen-kriminelle-fluechtlinge-1.2831435
[14] http://www1.wdr.de/nachrichten/interview-pfeiffer-auslaender-kriminalitaet-100.html