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Freie Räume im goldenen Osten

Wer Freiräume sucht sollte, sie außerhalb von Berlin suchen

In vielen Großstädten dominieren überteuerter Wohnraum, soziale Isolation und massenkonformer Konsum. In den neuen Bundesländern bieten Städte das, was früher die jungen Menschen nach Berlin zog: Freiräume

Früher wohnte ich in Berlin-Pankow. In einem Haus mit 1-Zimmer-Apartments. Im Hof lag Schrott und Müll. Es wurde geschrien und gegen Türen geschlagen. Morgens um 3 weckte mich eine spontane Technoparty des Nachbarn. Vor meinem Fenster wurde berlinert und Bier getrunken. Es roch nach verbranntem Fleisch, Kiff und Hartz-4.

In Pankow ist das alte Berlin noch allgegenwärtig. Zu DDR-Zeiten residierte dort im Norden die SED-Elite und der Stasi-Adel in Villen. Im übrigen Teil wohnte der Mittelstand in den symmetrisch angeordneten Bauten des Sozialismus.

Der kleinbürgerliche Charakter zeigt sich überall. Bei Rot über die Ampel zu gehen, ist eine Sünde. Autos hupen, Fußgänger schimpfen. Die kulinarische Auswahl beschränkt sich auf Currywurst, Döner, Fleischerei und Asiaküche mit einer Extraportion Glutamat. Das Proletariat des alten Ostens bestimmt Angebot und Nachfrage.

In keinem anderen Kiez ist der Anteil an Frauen mit rotgetönten Haaren und Arschgeweih-Tattoos so groß wie in Pankow. Das männliche Pendant beglückt seine Umwelt durch eine praxisorientierte Ästhetik: kurzrasierte Frisur mit Muster; ein Bauchtäschchen, in das problemlos Handy, Kippen, Feuerzeug passen.

Als Relikte des alten Ostens sind überdurchschnittlich viele Senioren zu sehen. An gespürt jeder Ecke steht eine Altersresidenz. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem älteren Herrn. Er beschwerte sich über ein Graffito an der Wand: "Nee, also ich war nie 'n Linker. Aber sowas gab's in der DDR nicht."

In Pankow erobern nun die Gentrifizierer die ersten Häuser und Straßen. Der Prenzlauer Berg im Süden ist voll und die Mieten teuer, Pankow nur eine Haltestelle mit der U-Bahn entfernt. Schweden, Russen, Kameruner, Polen, US-Amerikaner sind vermehrt auf den Straßen zu sehen. Oft schieben sie einen Buggy oder halten Kinder an den Händen.

Die Neuberliner wohnen in sanierten Häusern. Die frische Farbe an den Wänden leuchtet hell und freundlich. Cafés mit Spielecken für Kinder entstehen, die ersten veganen Kuchen werden angeboten. Kindergärten und Eisläden sprießen wie Pilze aus dem Boden.

Die Bevölkerung wird jünger, gebildeter und die Mieten werden teurer.

Die Mietpreisbremse greift nicht

Mein altes Apartment in Pankow kostet jetzt auch nicht mehr 260 Euro Monatsmiete, wie vor zehn Jahren. Heute muss man 460 Euro aufbringen. Der Müll und der Schrott im Hof werden verschwinden. Das Unkraut wird durch Tulpen und Narzissen ersetzt.

Viele Altberliner mit durchschnittlichem oder darunter liegendem Einkommen weichen in die Randbezirke von Berlin aus. Oder sie ziehen gleich aufs Land nach Brandenburg. Die Ästhetik oder das politisch Korrekte ist ihnen nicht sonderlich wichtig. Cordonbleu gilt als extravagant, Biomilch wird abgewunken, veganes Essen verursacht bei ihnen nur Kopfschütteln.

Gentrifizierung verschönert das Straßenbild und verjüngt die Bevölkerung. Doch die Mietpreise im zentralen Berlin-Mitte sprengen nun Grenzen. Der modernisierende Prozess zeigt jetzt seine pervertierte Fratze.

Auf der Suche nach einer neuen Wohnung werden mir 43 Quadratmeter für 1121 Euro zur Warmmiete angeboten. Ich frage mich, was es mit der Mietpreisbremse auf sich hat. Es gibt viele Wege sie zu umgehen. Notfalls wird das alte Haus abgerissen und einfach neu gebaut. Gewinnmaximierung auf Neuberlinerisch.

Nach der Besichtigung einer weiteren Wohnung taumle ich auf die Straße hinaus. 38 Quadratmeter für 1400 Euro. Das sind 36 Euro pro Quadratmeter. Die Mieten steigen und steigen und steigen. Die Mietpreisbremse greift nicht. Die Idee der Politik war nicht schlecht, doch die Realität nicht bereit. Die Gentrifizierung treibt ihre Blüten. Exzessiv schlagen sie in alle Richtungen aus. Narzissen und Tulpen werden überall gepflanzt - gehöre ich bald zum alten Unkraut?

Wer kann es den Immobilienfirmen verübeln, dass sie ihre Gewinne optimieren wollen? Das ist der Grund ihrer Existenz. Ohne Gewinne, kein Wohlstand. Ohne Wohlstand, kein Luxus. Gepflegter Wohnraum und Nachbarn, die sich an die Ruhezeiten halten sind Luxus und der kostet. Eben. Geld.

Während die Altberliner bereits zum Großteil vertrieben wurden, wird es demnächst auch für viele Gentrifizierer eng. Denn bei einem Mietpreis von mehr als 30 Euro pro Quadratmeter werden auch sie sich neuen Wohnraum suchen müssen. Auch sie werden ersetzt werden,- von anderen Gentrifizierern, die über mehr Kapital verfügen.

Prenzlauer Berg

Die Stadt ist voll. Nun werden die letzten Freiräume bebaut. Zwischen den Häusern stehen bald weitere Häuser, die den Blick auf den Himmel über Berlin versperren. Auch die Wiesen und Felder zwischen der Stadt und den Vororten werden mit Wohnblöcken gepflastert. Berlin wird über seine eigenen Grenzen hinauswachsen, bis es als Megastadt mit Brandenburg verschmelzen wird.

Wegen der Freiräume kamen damals viele junge Menschen nach Berlin. Neben günstigen Wohnungen gab es zudem genügend Immobilien für kulturelles und künstlerisches Gewerbe. Der ehemalige Arbeiterkiez Prenzlauer Berg entwickelte sich zum Szenemilieu, in dem Aussteiger, Intellektuelle, Künstler und politische Querdenker das Straßenbild veränderten. Kneipen und Cafés dienten als Orte für Konzerte, Ausstellungen und Austausch über die Paradigmen der Welt.

Heute stellen Akademikerinnen und Akademiker die Mehrheit der Bevölkerung im Prenzlauer Berg. Doch auch sie zählen nicht alle zu den Großverdienern unter den Gentrifizierern. Die Kosten der Warmmiete schlucken häufig die Hälfte des Nettogehaltes, viele Familien ziehen nun in die Randbezirke oder nach Brandenburg.

Pessimisten sehen im Prenzlauer Berg bereits das Schwabing von morgen: Wenn die Kinder den Schoß der Familie verlassen, bleiben die Eltern zurück. Die Rentner erobern den Kiez, die Kindergärten können dann zu Pflegestationen umgewandelt werden.

Das Phänomen der Anziehungskraft von Städten auf Menschen verhält sich wie die Anziehung kleiner Planeten durch die großen. Es kommt zu Ballungen auf der einen Seite, zu freien Räumen auf der anderen. Doch welchen Grund gibt es für junge Menschen nach Berlin zu kommen, wenn es keine Freiräume mehr gibt?

Wohnungen und Gewerbeflächen sind zu teuer oder schon vergeben. Und auch die anderen Großstädte verhalten sich eher wie geschlossene Systeme, deren Türen sich nur mit dem Schlüssel "Geld" öffnen lassen. Hamburg, Köln, Frankfurt, Düsseldorf, München, Stuttgart, Dresden, Leipzig sind längst gentrifiziert, künstlerisch kommerzialisiert und kulturell bieder. Trotzdem zeigt sich die Tendenz, dass die Nachfrage nach Wohnraum in boomenden Städten und Ballungsgebieten auch in Zukunft steigen wird.

Freiräume in den neuen Ländern

Eine positive Entwicklung gab es in den letzten Jahren: Aus den neuen Bundesländern sind weniger junge Menschen in die alten Bundesländer abgewandert.

Ein negativer Aspekt ist: Die ländlichen Regionen überaltern [1]. Städte wie Dresden, Leipzig, Potsdam sind wie Magnete für junge Menschen. Sie eröffnen eine funktionierende Infrastruktur, Bildung in Form von Universitäten und Hochschulen, kulturelle und konsumfördernde Angebote. Auch in diesen Städten wird die Gentrifizierung zuerst ihre Blüten sprießen lassen. Bis die Mieten steigen und steigen und die Normalverdiener und Menschen in Ausbildungen aus den Zentren vertreiben.

Während die Bevölkerungsanzahl in Städten wie Berlin, Potsdam, Leipzig und Dresden weiterhin wächst, stagniert sie in Orten wie Magdeburg, Halle, Erfurt und Cottbus.

Stetiges Wachstum ist allerdings auch kein Faktor für eine erfolgreiche Stadtentwicklung. Ohne einen überhitzten Wohnungsmarkt haben diese Kommunen die Zeit und die Ruhe ihre Attraktivität zu steigern und ein neues Image zu kreieren. In diesem Zusammenhang spricht das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung von einer Sicherung von Lebensqualität in Städten. Wichtige Rollen spielen hierbei die Teilhabe der Bewohner an der Stadtentwicklungspolitik [2].

So soll sich die Planung von Neubauten auch an die Bedürfnisse der Menschen anpassen. Die sozialistischen Bauten der DDR zeugen dagegen von wenig Verständnis für ästhetisches Wohlbefinden.

Wirtschaftliche Innovationen und industrielle Alternativen

Als Auszubildender oder Student in Berlin, Hamburg oder Dresden eine Wohnung zu finden, ist problematisch. Als Musiker einen Proberaum oder als Maler eine Galerie zu mieten, ist so gut wie unmöglich. In Jena, Chemnitz, Erfurt oder Cottbus existieren diese Freiräume noch.

Cottbus soll als digitale Stadt zu einer Anlaufstelle für junge Menschen und IT-Unternehmen werden. Nachdem der Abbau von Braunkohle keine Zukunft mehr hat, muss die Region umdenken. Warum sollte sich die Stadt nicht in mehreren Hinsichten neu definieren [3]?

Bei Erfurt errichtet eine chinesische Firma zur Herstellung von Batterien ein Werk [4] ein. Auf diese Weise entstehen Arbeitsplätze und hoffentlich auch eine modernisierte Infrastruktur, welche die Stadt mit den umliegenden Dörfern verbindet.

Ob die Umstellung auf Elektroautos in Bezug auf umweltfreundliche Technologien wirklich Sinn macht, wirft jedoch neue Fragen auf.

Das Sorgenkind der neuen Bundesländer ist die schrumpfende Bevölkerung der ländlichen Regionen. Aufgrund fehlender Witschaft und Infrastruktur gibt es außer der idyllischen Naturlandschaft kaum Gründe dort wohnen zu wollen.

Da der Staat nur kleinere und mittlere Unternehmen fördert, werden wohl keine bedeutenden Investitionen von Großunternehmen folgen. Allerdings könnten der Klimawandel und die Etablierung von neuen umweltfreundlichen Technologien dazu führen, dass weitere Produktionsstandorte entstehen würden.

Eine industrielle Revolution würde in diesem Fall eine Chance für die neuen Bundesländer bergen: auf einen funktionierenden Arbeitsmarkt und eine Vernetzung von Stadt und Land.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4497062

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.beauftragter-neue-laender.de/BNL/Navigation/DE/Themen/Gleichwertige_Lebensverhaeltnisse_schaffen/Demografie/Demografische_Situation/demografische_situation.html
[2] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/371/dokumente/umps_urbanisierung_nachhaltigkeit_14_02_10-30.pdf
[3] https://www.golem.de/news/struktrurwandel-it-soll-jetzt-die-kohle-nach-cottbus-bringen-1902-139104.html
[4] https://www.thueringen.de/th6/tmwwdg/service/pressemitteilungen/105749/index.aspx