Freiheit von Wissenschaft und Sprache: Über das eisige Unverständnis zwischen den Lagern

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Individuelle Werte hier, Aufklärung dort. Die Aufregung um korrekte Sprache verdeckt Entscheidendes: den Übergang zum kybernetischen Prinzip. Ein Gastbeitrag.

Heutige Gesellschaften werden durch eine lähmende Auseinandersetzung gespalten. Auf der einen Seite Anhänger der westlich-liberalen Ideale von Wissenschaftsfreiheit und freier Meinungsäußerung, die als universelle Werte der Aufklärung begriffen werden.

Auf der anderen Seite Verfechter der partikularen Perspektive von Gruppen, die jede Repräsentation mit allgemeinem Gültigkeitsanspruch als Normierungszwang ablehnen und stattdessen auf Differenz setzen.

Eisiges Unverständnis

Von sexuellen, ethnischen oder von anderen Ausgrenzungsmechanismen Betroffene wollen für sich selbst sprechen und Gruppenfremde vom Diskurs ausschließen. Zwischen den alten Universalisten und den neuen Identitären herrscht eisiges Unverständnis.

Das Differenzdenken mündet in Schweigespiralen und Ausgrenzungen. Denn das neue identitäre Feeling muss gegenüber alternativen Selbstbestimmungen und Identitätskonstruktionen durchgesetzt werden.

Daraus erklärt sich die Rigidität, mit der Betroffene ihre Anerkennung als L, G, B, T, Q, I, A oder +, als BIPoC (für Black, Indigenous and People of Color), als Angehörige der Fatness- oder der Disability-Bewegung einfordern und jeden, der sich ihrer Gruppen-Partikularität annähert, als Eindringling abwehren.

Kritiker der Ausgrenzung führen das Bedürfnis nach Diversität und den identitären Bekenntnisdrucks auf fehlgeleitete Theorien zurück, die als Gender, Queer, Postcolonial, Critical Whiteness, Fatness, Disability u.a. Diversity Studies auch im deutschsprachigen Raum die Kultur- und Humanwissenschaften erobert haben.

Was liberalen Kritikern entgeht

Liberale Kritiker der Diversität beziehen sich dabei auf das westliche Projekt der Aufklärung, des Liberalismus und der unvoreingenommenen Wissenschaftlichkeit.

Sie übersehen dabei den Herrschaftscharakter der westlichen Vormachtstellung und Definitionshoheit über die Welt, die mit der Aufklärung zum universellen Vorbild erklärt wurde. Damit können sie die Begeisterung für den Diversity Turn jedoch nicht erklären.

Sie können die Begeisterung für den Diversity-Turn damit jedoch nicht erklären.

Der Kampf um die Selbsteinordnung ist im Grunde nicht neu. Im Industriezeitalter forderte die Arbeiterbewegung mit ihrer proletarischen Erfahrung die Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Gesellschaft heraus.

Klasse wurde zum entscheidenden Marker sozialer Differenz. Im Übergang zum postindustriellen Zeitalter erscheint die Gegenüberstellung von Kapitalisten und Arbeitern obsolet. Man definiert sich über Geschlecht, Ethnie/Rasse, Alter und Lebensstil.

Der epochale Wandel: Vom industriellen zum kybernetischen Prinzip

Statt Klassenkampf streitet man um die Ausgestaltung des individuellen S(ch)eins. Diese Transformation vollzieht sich vor dem Hintergrund eines epochalen Wandels, dem Übergang vom industriellen zum kybernetischen Produktionsprinzip.

Das Prinzip Industrie stand für Produktivitätssteigerung durch Mechanisierung, Automatisierung, Fließband bis hin zur Robotik, verbunden mit der Vorstellung eines unaufhaltsam voranschreitenden linearen Fortschritts.

Die Produktion erfolgte durch Lohnarbeit in der Fabrik, der Antrieb durch fossile Energieträger. Industrielle Massenprodukte waren standardisiert und gleichförmig. Demgegenüber steht das kybernetische Prinzip für digitale Steuerung durch Rückkoppelung, Feedback und selbsttätiges Lernen der Maschinen.

Fossile wird durch erneuerbare Energie ersetzt, Mensch und Maschine werden synchronisiert, die Lohnarbeit flexibilisiert. Der Mehrwert, der durch die Verausgabung im Arbeitsprozess erzielt wird, verlagert sich im digitalen Kapitalismus auf die Aneignung der Daten, die User den Betreibern von Tech-Firmen und Plattformen mit jedem Maus-Click überlassen.

Das Individuum als Produkt

Das in den Daten materialisierte Erfahrungswissen erlaubt es nicht nur, maßgeschneiderte Produkte zu entwickeln, sondern auch das Individuum zum Produkt zu machen.

Das kybernetische Prinzip der lernenden Rückkoppelung kommt aus der Computerwissenschaft, die in den 1940er-Jahren aus militärischen Erwägungen entstand. Sie prägte die Nachkriegsmoderne, zunächst ohne das dominante mechanische Wachstum von Massenindustrie und Massenkonsum infrage zu stellen.

In dem Maße, wie sich die digitale Steuerung vom Großrechner über Personal Computer, Internet, Smartphone in die omnipräsente Anwendung in sämtlichen Arbeitsvorgängen, Spielen und Haushaltsgeräten verlagerte, bestimmt das binäre Denken unser Sein.

Dabei verändern sich die Grundbegriffe unseres Weltverständnisses: System, Matrix, Netzwerk, Komplexität, Differenz, Diversität. Die kybernetische Wissenschaft stellt abstrakte Begriffe bereit, die für Organismen und Maschinen, Individuen und Gesellschaft gleichermaßen angewandt werden.

Dabei ebnen sich die Mensch-Maschine-Unterschiede ein, während Differenz zur entscheidenden Kategorie aufsteigt. Bei jedem digitalen Auswahlprozess erhebt sich das binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen.

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