Fressen und gefressen werden: Kannibalismus zu Reagans Zeiten

Verliebte "Eater" voller Gewissensbisse: die beiden Hauptfiguten von "Bones and All". Foto: Bones and All

Großes Kino um romantische Kannibalen: "Bones and all" von Luca Guadagnino vereint Liebes- und Monsterfilm im Ambiente der 1980er-Jahre. Und die Hauptfiguren haben auch noch Gewissensbisse.

Wenn die Leute nichts mehr zu essen haben, werden sie die Reichen essen.


Jean-Jacques Rosseau, nach Adolphe Thiers

I dont want to hurt anybody.


Famous last words – Filmdialog aus "Bones and all"

Magische Momente im Kino: Gerade hat man es sich etwas zu wohlig eingerichtet in einem stilsicheren US-Highschool-Drama, in dem zu guter 80er-Jahre-Pop und Ambient-Tonteppichen schöne junge Menschen schöne, wenn auch etwas banale Dinge tun, und man einem Mädchen wohl noch die nächsten zwei Stunden lang dabei zuschauen wird, wie sie gegen gewisse Widerstände erwachsen werden wird. Doch dann passiert auf der Leinwand etwas Atemberaubendes.

Am späten Abend ist die 17-jährige Maren zuhause ausgebüxt, aus dem Fenster geklettert, um ihre Freundinnen zu treffen. Dort reden sie über Klamotten, Lippenstift, Nagellack. "Girls Stuff". Maren kuschelt mit ihrer Gastgeberin auf dem Boden, schaut ihr Gegenüber noch zärtlich an, sie könnten sich gleich küssen, erotische Zweideutigkeit liegt jedenfalls in der Luft, erst recht als Maren den Mittelfinger ihrer Freundin sinnlich lutscht und in den Mund nimmt. Dann beißt sie zu! Und vom Finger bleiben nur noch die nackten Knochen übrig!

Die USA sind von "Essern" durchsetzt

Ein unglaublich starker Kinoaugenblick! Erst jetzt begreifen wir: Der Auftakt zu einem Kannibalenfilm, in dem die Welt der Menschen, jedenfalls in den USA, von diesen "Essern" durchsetzt ist, die sich untereinander erkennen, ansonsten aber unerkannt bleiben. Es sind freundliche Wesen mit normalen Problemen, die sich auch von Obst oder Hähnchenfleisch ernähren, bis sie in regelmäßigen Abständen der unkontrollierbare Heißhunger nach dem "Anderen" wie ein Trieb überfällt. "Bones and all" heißt dieser Film des Italieners Luca Guadagnino, der mit Kannibalismus eines der größten Tabus der menschlichen Gesellschaft zum Thema macht.

Die zunehmend monströser werdende Tochter

Maren (gespielt von Taylor Russell), ein schwarzes Mädchen, ist still, sie hat kaum Erinnerungen an ihre Mutter, wie sie der Freundin erzählt, sie wohnt in einem Wohnwagen in einem Trailerpark, ist also auch ökonomisch eine Außenseiterin.

Irgendwann ist auch der Vater, der sich um sie kümmerte, weg. Er hat es nicht mehr ausgehalten mit der zunehmend monströser werdenden Tochter. "You got clever. So fucking clever." sagt er. Aber er lässt ihr eine Toncassette da, die er besprochen hat. Das Ganze spielt in den 80er Jahren: Es gibt einen Walkman, es gibt keine Mobiltelefone. Es ist die Zeit von Ronald Reagan.

"I don't kill people. At least I try not to."

Jetzt begibt sie sich allein auf eine Reise durch die USA, auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie führt sie zunächst von Virginia nach Massachusetts. Nachts, bei einer einsamen Greyhoundstation trifft sie einen relativ alten merkwürdigen Mann. Er heißt Sullivan und nennt sich Sully. Sully erzählt aus seinem Leben - "I ate my own granddad, while we were waiting for the undertaker." - erklärt ihr, dass es ein ganz Amerika offenbar ziemlich viele Kannibalen gibt, jedenfalls viel mehr, als man denkt. Sie haben Prinzipien: "Never eat an Eater." Und: "I don't kill people. At least I try not to."

Budweiser saufender White Trash und Hillybillys

Bald danach trifft Maren, die immer eine Barbour-Jacke trägt, auf Lee (Timothée Chalamet). Er hört Kiss ("Lick it up"), wird ihr Freund, dann ihr Lover. So geht es um die Suche nach einem Vektor der Zuneigung in einer Welt, die ihr abgeneigt ist. Im Gegensatz zu Julia Ducourneaus "Raw" geht es hier aber nicht um Sexualität und ihre Metaphern, nicht um "das Aufblühen einer jungen Frau", sonderm um Psychologisches: die Existenz als "Außenseiter".

Regisseur Guadagnino hat bekanntlich keine Angst vor Genrestoffen, und dreht immer wieder abwechselnd in seiner Heimat Italien und den USA. Dies und eine fließende Kamera erinnert an Chloe Zhaos "Nomadland" und an "American Honey" von Andrea Arnold.

Zugleich ist dies auch ein Roadmovie, das seine Hauptfiguren durch diverse US-Bundesstaaten und durch den "Blood Meridian" (Cormac McCarthy) führt, weil sie ihre Eltern suchen, sie aber erst mal den Budweiser-saufenden White Trash und die Hillybillys finden lässt. Ein Spielbudenbesitzer in Kentucky ist offensichtlich schwul, lässt sich von Lee im Maisfeld verführen und wird gegessen. Das ist eine starke Szene, in der der Film dem Unaussprechlichen nahe kommt, Tod und Sex verbindet.

Dabei ist die Handlung immer wieder unterbrochen von Tagträumen oder Albträumen der Figuren. Es geht um Kannibalen, die ihr Gewissen entdecken. Aber wo soll das hinführen, wenn jetzt auch noch die Monster ihr Gewissen entdecken? Es geht natürlich auch um Rebellion: "You wanna be people? Let's be people. Hey, let's be people for a while." Aber das Glück kann nicht von Dauer sein. Sully kommt wieder und wir verstehen: Amerika ist ein kannibalisches Land.

Menschen, die wie Monster wirken

Dem Italiener Luca Guadagnino ist das Kunststück eines zärtlichen Kannibalenfilms gelungen, der einige der stärksten Kinoaugenblicke des ganzen Filmjahres bietet.

Guadagnino zeigt die Kannibalen sympathisch und voller Gewissensbisse, als sensible Wesen, die Triebtäter sind, aber selbst unter ihrem Trieb leiden. Weil der Regisseur eigentlich von Außenseitern erzählt: Es geht um das ganz Andere, um alles, was tatsächlich nicht integrierbar zu sein scheint, und unsere Toleranz auf echte Proben stellt: Die jungen "Esser" könnten genausogut auch Obdachlose oder Drogensüchtige sein.

Es geht um Menschen, die auf andere wie abstoßende Monster wirken, in bürgerliche Zusammenhänge nicht integrierbar sind. Und doch ist dies ein bei aller Subtilität erschreckend grafisches Horror-Drama. Dies ist ein Horrorfilm, ja, aber für Erwachsene, der mit einer klugen Psychologie von den Orten erzählt, an denen Wärme entsteht, und zwar auf brutalstmögliche Weise.

"Bones and all" ist wunderschönes, über weite Strecken aufregendes Kino: Ein Roadmovie, das die Vorstellung von amerikanischer Freiheit entfaltet, ein Liebesfilm, ein Monsterfilm.