Freudsche Zustände
Seite 2: Wie autonom sind die Subjekte?
- Freudsche Zustände
- Wie autonom sind die Subjekte?
- Das gesellschaftliche Unterbewusste
- Auf einer Seite lesen
Offensichtlich wird somit, dass der scheinbar so "abstrakten" Fragestellung nach dem Grad menschlicher Autonomie in der spätkapitalistischen Gesellschaft eine konkrete, brennende Aktualität innewohnt: Sobald die widerspruchsgetriebene Eigendynamik des Systems ignoriert wird, sobald es nur noch den Menschen als bewussten Akteur seiner Geschichte zu geben scheint, setzt unweigerlich Ideologieproduktion ein.
Wenn es nur den Menschen als Subjekt und die von ihm geformte Welt als Objekt gibt, dann müssen Menschen für all die Krisenverwerfungen der letzten Jahre verantwortlich sein. In diesem durch das Aufklärungsdenken etablierten Subjekt-Objekt-Dualismus, der die Gesellschaft nur als bloße Summe seiner agierenden Teile begreifen kann, ist somit der Urgrund aller Krisenideologie zu finden.
Die hieraus entspringende Personifizierung der Krisenursachen mit dem Aufbau entsprechender Sündenböcke und Verschwörungsideologien, die auch in einer regressiven Linken wieder populär sind, war den Klassikern der Kapitalismuskritik noch fremd.
Die "selbstverständliche Naturnotwendigkeit"
Aller Polemik gegen die "Bourgeoisie" zum Trotz war es für Karl Marx selbstverständlich, deren Mitglieder als Charaktermasken, als Exekutoren einer verselbstständigten gesamtgesellschaftlichen Kapitaldynamik zu begreifen. Die Formen der marktvermittelten kapitalistischen Vergesellschaftung, bei denen die Lohnarbeit die Form des Werts annimmt und die Wertgröße durch die Zeitdauer bei der Warenproduktion bestimmt wird, sie seien bereits Ausdruck des sehr realen gesamtgesellschaftlichen Fetischismus, bemerkte Marx im ersten Band seines Hauptwerks "Das Kapital":
"Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst."
Der Mensch als Sklave, als Geisel eines verselbstständigten kapitalistischen Produktionsprozesses, der ihn "bemeistert", anstatt dass dieser bewusst vom Menschen gestaltet wird. Dies ist der sehr reale - und eben nicht bloß "scheinhafte" - kapitalistische Fetischismus, wie er eben zuerst von Marx formuliert wurde.
Hierunter ist die gesamtgesellschaftliche Verselbstständigung des Kapitalverhältnisses gegenüber den Marktsubjekten zu verstehen, die ihn als isolierte Konkurrenzatome marktvermittelt erst hervorbringen - weswegen dieser Fetischismus den Anschein einer "selbstverständlichen Naturnotwendigkeit" annimmt.
Der uferlose kapitalistische Reproduktionsprozess bildet somit diesen Fetischismus in all seinen Aggregatszuständen (Geld, Arbeit, Ware) aus, sodass die Produkte und der Arbeitsvorgang (Entfremdung) sich dem Produzenten gegenüber verselbstständigen, wobei diese Verselbstständigung den Anschein einer Natureigenschaft hat, die den Waren, dem Geld oder der Arbeit zukommt.
Dabei wird diese gesamtgesellschaftlich "verselbstständige" Kapitaldynamik von inneren Widersprüchen in eine blindwütige Expansionsbewegung getrieben, die letztendlich selbstzerstörerisch ist. Das Kapital tendiert historisch dazu, sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Lohnarbeit zu entledigen.
Die Überwindung des realen kapitalistischen Fetischismus
Und es sind eben die eskalierenden inneren Widersprüche dieser von den Marktsubjekten selber unbewusst hervorgebrachten, auf uferlose Profitmaximierung geeichten Kapitaldynamik, die ihnen marktvermittelt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als die berühmten, pseudo-natürlichen "Sachzwänge" entgegentreten, wie sie etwa vom Neoliberalismus formuliert wurden.
En passant macht die obig zitierte Marx-Passage auch klar, wo die Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation zu finden sei: Es geht nicht darum, schlicht die Kapitalisten zu entmachten, um dann ihren Posten einzunehmen (wie es im osteuropäischen Staatskapitalismus in Gestalt der Nomenklatura geschah), sondern in der "Bemeisterung" des Produktionsprozesses, in der Überwindung des dargelegten realen kapitalistischen Fetischismus.
Ganze Legionen sozialdemokratisierter "Marxisten", die in allen kapitalistischen Widersprüchen letztendlich nur eine Verteilungsfrage erblicken wollen, fallen hinter diese simplen Selbstverständlichkeiten aus dem ersten Band des "Das Kapital" zurück.
Zugleich wird aber auch ersichtlich, dass Marx Theorie von einer widersprüchlichen Haltung geprägt war: Einerseits war er ein Kind seiner Zeit, das der damals noch anwachsenden Arbeitsklasse eine historische Mission zuwies. Andrerseits war er der Klassiker und Visionär, der die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung kritisierte und ihre entscheidenden Widersprüche offenlegte.
Diese Widersprüchlichkeit der Marxschen Theorie - die sowohl anachronistische wie visionäre Momente aufweist - ermöglicht es vielen Linken, weiterhin geistig im 19. Jahrhundert mit seinem Proletenkult zu verharren und sich dem sehr realen Problem der fetischistischen Konstitution der kapitalistischen Gesellschaften zu entziehen.
Doch selbstverständlich spiegelt sich in diesem kleinen linken Elend nur die große gesamtgesellschaftliche Malaisie des fetischistischen Bewusstseins, die an ihrer Oberfläche durch die Naturalisierung kapitalistischer Strukturen und die Personifizierung der daraus resultierenden Widersprüche charakterisiert ist.
Die üblichen Erklärungsansätze, die zur Erhellung dieser Ignoranz des fetischistischen "gesellschaftlichem Unbewussten" herangeführt werden könnten (wie ideologische Verblendung, Bequemlichkeit, Angst, identitäre Erstarrung), reichen indes offensichtlich nicht aus. Das Ganze reicht offenbar tiefer als bloße Ideologie.