Friedensbewegung und Nuklearstrategie
Die Nato will neue nukleare Lenkwaffen B61-12 der USA in Europa stationieren. Diese Strategie birgt erhebliche Gefahren. Ein Blick auf die aktuelle Lage und die historische Abrüstungsdebatte.
In wenigen Wochen beginnt die Stationierung neuartiger nuklearer Lenkwaffen B61-12 der USA in Europa, darunter auf dem Fliegerhorst Büchel bei Koblenz. Ursprünglich plante die Nato, dass diese "System 2" genannten Arsenale ab 2024 unter anderem in Büchel für den Atomkrieg bereitstehen.
Die B61-12 senkt durch ihre technischen Eigenschaften die Schwelle zum Atomkrieg, damit steigert die Nato die Gefahr eines dritten und dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit letzten Weltkrieges: Die Explosionswucht des "Systems 2" ist je nach vorgesehenem Einsatz dosierbar und sie weisen durch einen Zielfindungskopf eine gesteigerte Zielgenauigkeit auf; durch ihre für Nuklearsprengköpfe vergleichsweise geringe Sprengkraft bezeichnen die Militärs B61-12 als taktische oder auch Allzweck-Atombombe.
Der Nuklearsprengkopf hat vier verschiedene Dosierungsstufen für seine Vernichtungskraft: Sie variiert von 0,3 Kilotonnen Sprengkraft TNT über 1,5 und 10 kt TNT bis zu 50 kt TNT. Mit mindestens circa 0,3 kt TNT Sprengkraft liegt die B61-12 für Militärs im Bereich von Mini-Nukes. Die Sprengkraft von 50 kt TNT entspricht dem 2,5-fachen der Hiroshima-Bombe. Die B61-12 ist die erste Nuklearbombe, die mit einem derartigen Steuerungssystem ausgestattet ist.
Durch diese neuartig erzielte Dosierbarkeit ergeben sich für Kriegsstrategen operative Einsatzmöglichkeiten dieser Nukleararsenale, die bisher nicht erreichbar waren. Der US-General James E. Cartwright spricht hier von einer erhöhten Gebrauchsfreude dieses nuklearen Systems:
Wenn ich den Detonationswert und damit die Wahrscheinlichkeit von radioaktivem Fallout usw. verringern kann, wird sie dann in den Augen eines Präsidenten oder eines nationalen Sicherheitsentscheidungsprozesses besser nutzbar? Und die Antwort ist, dass sie wahrscheinlich gebrauchsfähiger sein könnte.
Durch ihre erdeindringende und bunkerbrechende Wirkkraft ist die B61-12 auch für nukleare Erstangriffe ausgelegt, da diese Eigenschaft nur vor Sinn macht, solange gegnerische Nuklearpotentiale noch in den Silos und nicht bereits für Atomschläge benutzt worden sind.
Dazu schrieb der konservative Wissenschaftler Alfred Mechtersheimer im Jahr 1982 in seiner Studie Rüstung und Frieden. Der Widersinn der Sicherheitspolitik:
Der Atomkrieg ist vom Frieden nur wenige Minuten getrennt.
Nach einer Stationierung der für den bunkerbrechenden Enthauptungsschlag ausgelegten Pershing II hätte der östliche Nato-Gegner Sowjetunion eine auf wenige Minuten reduzierte Reaktionszeit bei einem in den Warnsystemen angezeigten Nato-Atomangriff.
Die Gefahr von Fehlreaktionen ist in der Kombination aus einem solchen zeitlichen Druck einerseits mit der Verantwortung für das Überleben der Zivilisation, zwischen der Frage, ob die eigenen Nuklearpotentiale zum Einsatz kommen, ehe sie durch einen gegnerischen Enthauptungsschlag zerstört werden, unverantwortlich hoch.
Ein Beispiel für die Brisanz liegt 27 Jahre zurück: Eine schwedische Rakete zur meteorologischen Untersuchung der Erdatmosphäre startete Ende Januar 1995 und Russland war über das Start-Datum nicht informiert worden, sodass dort Unklarheit darüber herrschte, ob sich eine Bedrohungslage aufbaut. Diese Situation gilt als einer der gefährlichsten Augenblicke des Atomzeitalters. Die Washington Post schrieb drei Jahre später:
Die Aussicht auf einen Fehler "ist seit dem Ende des Kalten Krieges besonders gefährlich geworden", schrieb Wladimir Belous, ein pensionierter General und führender russischer Stratege, kürzlich. Er fügte hinzu, dass "ein schicksalhafter Unfall die Welt in das Chaos einer thermonuklearen Katastrophe stürzen könnte, entgegen den Wünschen der politischen Führer".
Risiko neuer Atomwaffen für "Enthauptungsschlag"
Dieses Risiko geht die Nato mit der Stationierung der zum Enthauptungsschlag fähigen B61-12 wissentlich ein. Schlimmer noch: Neben der Bestückung der für den Atomkrieg im Bundesetat geplanten US-Tarnkappenbomber F-35 steht aktuell auch die Stationierung der Hyperschallwaffen der USA in Deutschland an. Über die "Dark Eagle" genannten Hyperschallraketen schrieb die Irish Times vor einem Jahr:
Die Vereinigten Staaten haben erstmalig seit dem Kalten Krieg eine nukleare Einheit in Deutschland reaktiviert, die mit Hyperschall-Langstreckenraketen vom Typ "Dark Eagle" bewaffnet werden. Wenn diese Raketen fertig entwickelt und einsetzbar sind, können sie eine Geschwindigkeit von 4.000 Meilen pro Stunde erreichen und Russland wie ein Blitz in nur 21 Minuten und 30 Sekunden treffen.
Die aktuell gefährlichste militärstrategische Entwicklung könnte sich in unseren Tagen nicht im Jemen, nicht in Syrien und nicht in der Ukraine ereignen, sondern in der Nato und dabei konkret zugespitzt in Deutschland.
Die Friedensbewegung der 1980er-Jahre hatte sich genau dieser Gefahr entgegengestellt. Auf der ersten Großdemonstration mit weit über dreihunderttausend Demonstrierenden sagte die US-amerikanische Friedensaktivistin Randall Forsberg1:
Die neuen amerikanischen Raketen … stellen einen extrem gefährlichen Versuch dar, … einen Präventivkrieg führen zu können … die Pershing II erreicht die UdSSR in zehn Minuten. Ihr Atomsprengkopf gräbt sich in die Erde hinein, … Aus diesem Grund ist die Pershing II besonders geeignet, die unterirdischen Raketenkontrollzentren der Sowjets außer Gefecht zu setzen.
Die Folge davon ist, dass in einem Krisenfall die sowjetischen Generäle unter großem Druck stehen könnten, sich für einen Präventivschlag gegen die Pershing-Raketen entscheiden zu müssen, bevor diese ihre eigenen Kommandozentralen zerstören wurden. Deswegen ist die Stationierung der Pershing II auf europäischem Boden ein weiterer Schritt in Richtung auf die Auslösung des "atomaren Stolperdrahtes" …
2022 verfolgen die USA laut der gerade neu veröffentlichten Nuclear Posture Review (NPR) die Option, ihre militärischen Nuklearpotentiale auch als Erste einzusetzen:
Während seiner Präsidentschaftskampagne sprach sich Joe Biden wiederholt für eine No-First-Use- (Keinen nuklearen Erstschlag) und für eine Einzweckpolitik für US-Atomwaffen aus. Doch der NPR lehnt beides unter den gegenwärtigen Bedingungen ausdrücklich ab…, … stellt auch fest, dass "die Vereinigten Staaten mit den betroffenen Verbündeten zusammenarbeiten werden, um sicherzustellen, dass der Übergang zu modernen DCA [dual-capable aircraft, zweifach einsatzbare Flugobjekte] und der B61-12-Bombe effizient und mit minimaler Unterbrechung der Einsatzbereitschaft erfolgt".
An dieser brisanten Stelle steht die Welt zu Beginn der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts: Die von den Militärs generierten existenziellen Bedrohungen für die Zivilisation und die ökologische Katastrophe so weitgehend, wie nur irgend möglich abzuwenden, das ist die primäre Aufgabe unserer Zeit. Sie ist größer als die Kriegsgefahr, gegen die die Friedensbewegung einst aufstand, und sie lässt sich nur gegen die Kräfte der Zerstörung durchsetzen, wenn die Kräfte für die Zukunft zusammenwirken.
Dorothee Sölle sagte auf der Demonstration am 10.10.1981:
Vielleicht müssen wir das Neinsagen üben, … Wir haben eine ganz einseitige Auffassung, einseitig gegen die Massenvernichtungsmittel, die man so wenig Waffen nennen kann wie das Gas, das Hitler in Auschwitz verwenden ließ, eine "Waffe" war.
Dieses Nein entspringt einem Ja zum Leben.
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