Für einen radikalen Realismus
Kommentar zum öffentlich-rechtlichen Rundfunkbeitrag: Nervt die Erhöhung so sehr, dass es lohnt, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen? Eine Frage, die sich manchen auch bei der Kritik der Corona-Maßnahmen stellt
Nur wenn alle Länderparlamente zustimmen, tritt der neue Rundfunkstaatsvertrag mit der Gebührenerhöhung in Kraft. Der Rundfunkbeitrag würde im Januar 2021 von 17,50 Euro pro Haushalt und Monat auf 18,36 Euro steigen. 86 Cent mehr sind ein Problem? Aber ja!
Aus Sachsen-Anhalt kommen seit Wochen Störgeräusche. Dort ist die Landtagsfraktion der CDU nicht mit der Erhöhung einverstanden. Man beruft sich dabei auf den Koalitionsvertrag mit der SPD und den Grünen, worin eine Beitragsstabilität für die Rundfunkgebühr vereinbart wurde.
Nun kommt neu hinzu, dass die AfD, genuine "Zwangsgebühren"-Gegnerin, der CDU-Fraktion ein Angebot macht: Zusammen mit den Stimmen der Rechtsnationalisten würde aus der Ablehnung der CDU-Fraktion bei der Abstimmung im Landtag ein echtes Veto mit Konsequenzen für die ganze Republik: Der Staatsvertrag, dem alle Ministerpräsidenten schon zugestimmt haben, würde gekippt.
Die CDU wird durch das Angebot auf dem falschen Fuß - Tanzen unmöglich - erwischt und der Boden wird heiß. Der Spiegel hat dazu die Schlagzeile: "Die schwarz-braune Gefahr". Über dem Artikel steht: "CDU und AfD machen in Sachsen-Anhalt gemeinsame Sache". Man denkt an das Schlamassel von Thüringen.
Als Anfang Februar dieses Jahres der FDP-Politiker Thomas Kemmerich von der CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, bebte die Republik. Annegret Kramp-Karrenbauer zog ihre Kanzlerkandidatur zurück und dachte an den Rücktritt als CDU-Vorsitzende. Das Problem von damals taucht jetzt wieder auf: CDU vor der Zerreißprobe oder im Gang nach Rechts.
Damit wird ein neues Framing gesetzt. Es geht gar nicht mehr um eine sachliche Auseinandersetzung darüber, wie die Gebührenerhöhung gerechtfertigt wird, was damit genau bezahlt wird, sondern um politische Konstellationen und solche Fragen wie: Was ist mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haselhoff (CDU), der doch seinerzeit zur Kemmerich-Krise noch beteuerte, dass es mit ihm keine Zusammenarbeit mit der AfD geben werde, der aber jetzt seinen Abgeordneten im Magdeburger Landtag nichts diktieren kann?
Es geht wieder darum, wie es um die Macht von AKK in der CDU steht, wie politisch listig die AfD Punkte im bürgerlichen Lager holt, wie sie die CDU vorführt, obwohl die inhaltlich schmalspurige Partei mit ihren Vordrängler-Extremisten und denen im Hintergrund doch eigentlich schon als erledigt galt.
Und über allem steht Grundsätzliches. Schön in aller Kürze auf die Frageform gebracht von Michael Hanfeld in der FAZ:
Kritik am Rundfunkbeitrag ist gleich rechts, ist gleich AfD, ist gleich Nazi?
Michael Hanfeld, FAZ
Die 86 Cent mehr sind also, wie es ausschaut, ein größeres Problem. Kann man es kleiner machen? Aber ja!
Indem man sich auf einen radikalen Realismus einlässt. Drohungen, vors Bundesverfassungsgericht zu gehen, wenn die Blockade in Sachsen-Anhalt bleibt, wie sie von RBB-Intendantin Patricia Schlesinger kommen, oder großsprecherische Behauptungen wie von ARD-Chef Buhrow - "Die Leute lieben das, was wir machen, und zwar alles" -, sind Rufe aus einer abgehobenen Welt.
Was meint radikaler Realismus? Einen Aufbruch hin zur Lebenswelt der Hörer und Zuschauer, zu ihren Erfahrungen. Das würde bedeuten, die Welt außerhalb der Machtzentralen und der angeschlossenen Rundfunkhäuser wahrzunehmen. Und dann eben nicht mit Drohungen und Selbstbeweihräucherung eine Erhöhung zu einem Zeitpunkt durchsetzen wollen, wo gerade ganze Branchen und damit viele Arbeitsmöglichkeiten den Bach runtergehen und es nicht klar ist, wie es mit Beschäftigungen und dem Einkommen sehr vieler Leute weitergeht.
Wenn man die Entscheidung nicht auf bessere Zeiten verschieben kann - wie man das ja in der Corona-Maßnahmenpolitik vorexerziert -, dann stimmt etwas nicht mit dem "Apparat", dann ist er zu träge, dann müssen Entscheidungsprozesse radikal verändert werden, damit sie sich an die gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen können.
Das gilt auch für viele, aber längst nicht für alle Inhalte, wie es die AfD-Fundamentalkritik unterstellt und so auch Teile des Zwangsgebühren-Kanons. Es gibt nach wie vor eine Menge an ausgezeichneten Sendungen, die im privaten Angebot nicht vorkommen, aber auch viel langweilige, einschläfernde und teure Unterhaltung, zu viel politisch-pädagogische Selbstüberhebung, zu wenig Interviewfragen, die auf den Zahn fühlen.
Kann man davon wieder wegkommen? Das wären mir die 86 Cent mehr schon wert.