"Für immer hier": Entführung, Folter, Tod und der alltägliche Umgang damit

Rüdiger Suchsland

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Sommer, Sonne, Staatsfolter: Bolsonaro leugnet sie – der Film von Walter Salles erinnert an die verdrängte Diktatur Brasiliens und zeigt eine Familie, die nicht aufgibt.

Brasilien Anfang der 1970er-Jahre: Seit 1964 herrscht eine Militärdiktatur – nach Außen gibt sie sich ein ziviles Antlitz mit einem Marionetten-Präsidenten, einer angeblichen Oppositionspartei und Scheinparlamentarismus. Doch nach Innen regiert sie grausam und mit gewalttätiger Repression, zu der auch Entführung, Mord und Folter gehören.

Walter Salles' sehr bewegender, soeben mit einem Oscar ausgezeichneter Film "Für immer hier"/"I am still here" gibt wichtige Einblicke in die jüngere Geschichte Brasiliens.

Vor dem Hintergrund der Präsidentschaft Jair Bolsonaros, eines Ex-Militärs, der die Verbrechen der Diktatur schlichtweg leugnete, sowie den gegenwärtigen autoritären Tendenzen in einigen der lange stabilsten Demokratien der Welt besitzt "I am still here" schmerzhafte Aktualität und politische Brisanz.

Sommerglück einer Großfamilie: Zahnfee, Coming-of-Age und Beachvolleyball

Alles beginnt mit Bildern einer vermeintlich Heilen Welt, ein paar Minuten langem reinen Sommerglück einer Großfamilie: Sonne, blauer Himmel, heißer Sand und kühles Wasser. Coming-of-Age und Beachvolleyball.

Die Zahnfee besucht die kleine Schwester, es gibt ein adrettes Dienstmädchen, ein schönes Haus direkt gegenüber der Copacabana, gemeinsame Mahlzeiten, Tischfußballspiele, man hat einen neuen Hund, hört gute Musik von Maria Bethania und Gilberto Gil wie den neuesten Bands aus Europa und den USA: Beatles, Stones, Doors.

Man meint sich in "Roma" von Alfonso Cuarón versetzt, der etwa zur gleichen Zeit, Anfang der 1970er-Jahre, in Lateinamerika spielt, allerdings in einer Demokratie.

Hubschrauber über dem Strand: Das flirrende Leben der 70er und die Schatten der Verhältnisse

Hervorragend gelingt es Regisseur Walter Salles und seinem Kameramann Adrian Teijido im ersten Drittel seines Films, alles in der Schwebe zu halten.

Von Anfang an werden in den Film auch Warnsignale und kleine Irritationen eingestreut: der Hubschrauber, der über dem Strand bedrohlich niedrig fliegt, der bange Blick der Mutter Eunice, während sie im Meer vor Rio de Janeiro schwimmen geht, die Telefonanrufe und unklaren Geschäfte des Vaters, die Militärlastwagen auf der Straße, die brutalen Straßensperren und demütigenden Kontrollen, die die Teenager treffen, als sie abends mit Freunden auf eine Party fahren.

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Und doch taucht man zunächst als Beobachter voller Empathie ein in das schöne Leben einer brasilianischen Wohlstandsbürger-Familie, aus deren bildungsbürgerlichem Hintergrund und dem im Vergleich zu den Armen – den aus der ländlichen, oft indigenen Unterschicht stammenden Angehörigen von Personal wie Militär – privilegierten Dasein der Film kein Hehl macht.

Teijido erweckt das Rio der 1970er-Jahre durch seine Kameraführung zu flirrendem Leben. Er imitiert die Ästhetik der Super-8-Heimvideos, zeigt jugendliche Fröhlichkeit.

Es gibt kein heiteres Leben in der Infamie

So will "I’m Still here" seine Zuschauer zunächst einmal ganz bewusst in Sicherheit wiegen und auf diese Weise in die Irre führen. Denn zwar ist der Schatten des Regimes für die, die sehen wollen, jederzeit präsent. Aber der Film macht es leicht, zunächst wegzuschauen und sich nostalgischen Gefühlen und dem Familienglück hinzugeben.

Damit spiegelt Salles im Publikum genau die Erfahrung des Lebens unter einer Diktatur, die vom Wegsehen-können und -wollen lebt, und suggeriert auch uns Zuschauern, dass es unter dieser Diktatur, im Alltag der Infamie so etwas wie ein heiteres schönes Leben geben könnte.

Genau das aber kann es eben nicht geben.

Und genau das will der Film zeigen.

Verhöre, Folter, Mord

Es geht dann um diese Familie und ihr weiteres Leben im Brasilien der Militärdiktatur – es gibt reale Vorbilder für sie: Den ehemaligen Kongressabgeordneten der "Arbeiterpartei", den Ingenieur und Journalisten Rubens Paiva (1929-1971), seine Ehefrau, die spätere Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Eunice Paiva, und die gemeinsamen fünf Kinder.

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Man ist selbstverständlich oppositionell, der Vater ist ein Parlamentsabgeordneter, der jetzt als Geschäftsmann arbeitet, aber wie sich herausstellt, im Untergrund immer noch Teil von Widerstands-Netzwerken ist.

Sieben Jahre nach dem Putsch und dem Verlust seines Mandats wurde Rubens eines Tages – an einem Januarmorgen 1971 – von Luftwaffenbeamten des Geheimdiensts abgeholt und auch seine Frau und eine Tochter werden in dunkle Gefängniszellen geworfen und dort streng verhört und psychisch gefoltert, allerdings nicht körperlich.

Die beiden kommen nach wenigen Tagen wieder aus dem Gefängnis frei, doch es wird ziemlich schnell klar, dass ihr Vater, von dem jede Spur fehlt, nie mehr zurückkommen wird.

Hauptsächlich geht es im weiteren Film nun darum, wie die Familie genau mit ihrem Schicksal umgeht. Zur zentralen Figur wird die Mutter Eunice, die ihre Familie gewissermaßen neu ausrichtet und die Erinnerung an den Vater pflegt, ebenso wie den widerständigen Geist der Kinder bei geschmeidigem Umgang mit den Behörden des Regimes.

Lange ringt Eunice damit, die Wahrheit über den Vater und seinen Verbleib vor den Kindern zu verbergen – oder zumindest deren Offenbarung hinauszuzögern. Demgegenüber stehen die kindlichen Wahrnehmungen: Was sie ignorieren, was sie vermuten und was sie entdecken, in einer feinen Linie zwischen Unschuld und schmerzhafter Erkenntnis.

Auch für Eunice, die von den geheimen Aktivitäten ihres Mannes nichts wusste, gibt es einen Wandel von Unwissenheit zu Entschlossenheit. Später studierte sie Jura und setzte sich für die Bürgerrechte ein.

Die vergessene Diktatur in Brasilien

Wenn es um die Erinnerung an lateinamerikanische Diktaturen geht, gerät die Militärdiktatur in Brasilien, die von 1964 bis 1985 dauerte, im Vergleich zu denen von Chile und Argentinien oft etwas in Vergessenheit.

Das liegt zum einen an der zivilen Maskerade, mit der sich dieses autoritäre Regime umgab, wie auch daran, dass es hier keine zentrale charismatische Führerfigur gab, sondern wechselnde, von einer Junta bestimmte Präsidenten.

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Ebenso vergessen wird die massive Repression ebenso die hohe Zahl der "Verschwundenen", wie man euphemistisch jene viele hundert Menschen genannt wurden, die von den Schergen der Diktatur entführt und ermordet wurden. Bis zum heutigen Tag bleibt das Schicksal von knapp hundert Menschen unaufgeklärt.

Genau dieser Geschichte hat sich Walter Salles nun angenommen. Rubens Pavía Tod wurde seiner Familie erst 25 Jahre nach dessen Entführung und elf Jahre nach Ende der Diktatur, 1996, bekannt – durch Ausstellung der Sterbeurkunde. Sogar 43 Jahre lang leugnete der brasilianische Staat, ihn verhaftet zu haben, und erklärte ihn für "verschwunden". Die Anerkennung des Mordes erfolgte erst 2014 durch die Wahrheitskommission.

Salles, der das Drehbuch gemeinsam mit Murilo Hauser und Heitor Lorega schrieb, hätte seinen Film auf die Spannungsmomente konzentrieren können, und auf den Passionsweg, den Pavía erlebte, als er inhaftiert und gefoltert wurde. Stattdessen versucht er dieses Schicksal in der Erfahrung der Familie zu spiegeln, in der schrecklichen Ungewissheit, den Ahnungen und Phantasien den Vater/ Ehemann betreffend wie der alltäglichen Angst vor dem Staat.

Ein Film über das Kino selbst und dessen Kraft, die Chronologie aufzulösen

So ist dies kein Film über Folter und Verhöre, sondern ein Film über Abwesenheit und dessen Anwesenheit in der Erinnerung. "I am still here", der genau diese Erfahrung bereits im Titel trägt, ist damit auch ein Film über das Kino selbst und dessen Kraft, die Chronologie aufzulösen, ohne sie zu leugnen, und das Vergangene zu evozieren, die Toten wieder zum Leben zu erwecken – aber als Tote, was damit auch den Schmerz des Verlustes am Leben erhält.

Eines der wichtigsten visuellen Leitmotive des Films sind daher das Super-8-Filmen, das Fotografieren und die vielen Fotografien der Familie, die gegen Ende zunehmend mit den Bildern der realen Pavías gemischt werden.

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Auf den Porträts, die beim Abschied der ältesten Tochter Vera (Valentina Herszage) aufgenommen wurden, als diese zum Studium nach London abreist, wird der Zusammenhalt einer Großfamilie deutlich, die abseits der militärischen Kontrollen und des Gespenstes der Repression vergnügt und frei lebte.

Einige Jahre später muss sich diese Familie erneut fotografieren, beim erzwungenen Abschied aus der geliebten Villa, und nun ohne ihren Vater, um dessen Abwesenheit in den internationalen Medien anzuprangern.

Immer wieder konstruiert Walter Salles mit solchen Mitteln eine Poesie der Leere, in deren Mittelpunkt die Figur der Mutter Eunice steht, wunderbar gespielt von der Schauspielerin Fernanda Torres.

Jair Bolsonaro leugnete die Verbrechen der Diktatur

Das Hauptsujet des Films ist die Frage, wie man eine solche Abwesenheit überleben kann, ohne die Spuren der Erinnerung zu verwischen.

Salles' sehr bewegender, klug aufgebauter Film gibt wichtige Einblicke in die jüngere Geschichte Brasiliens. Vor dem Hintergrund der Präsidentschaft Jair Bolsonaros, eines Ex-Militärs, der die Verbrechen der Diktatur schlichtweg leugnete, sowie den aktuellen autoritären Tendenzen in einigen der lange stabilsten Demokratien der Welt besitzt "I a Still here" schmerzhafte Aktualität und politische Brisanz.

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Der Film zeigt die Verheerungen des Faschismus in der brasilianischen Gesellschaft auf. Damit ist er eine Warnung für die heutige Zeit, in der die Demokratie geschwächt erscheint, autoritäre Geister überall lauern und das Verdrängte auf perverse Weise wiederkehrt. Eunice Paivas Suche nach der Wahrheit und ihr Einsatz für ihre Familie sind eine Geschichte, die Respekt und Bewunderung verdient.

Formal hat der Film einige brillante Momente, vor allem in seinem ersten Teil, während das letzte Drittel dramaturgisch unerwartet abfällt, weil er – vermutlich auch aus moralischer Verantwortung gegenüber den realen Protagonisten der Pavía-Familie uns ihrer Erinnerungen heraus – unnötig gerafft und plakativ geraten ist, und von einem Übermaß moralischer Rhetorik dominiert wird.

Ungeachtet solcher Einschränkungen ist Walter Salles mit "I am Still here" einige Jahre nach seiner überaus faden Verfilmung von Jack Kerouacs "On the Road" seinen bislang bester Film geglückt.