Fußballweltmeisterschaft: Die Armen gewinnen gegen die Reichen

Seite 2: "Leben, Liebe, Hingabe"

Aber Argentinien hatte keine Angst. Und Messi machte keine Show. Er spielte einfach Fußball. Einmal mehr (wie bei Spaniens WM-Erfolg 2010) wurde eine überraschende Auftaktniederlage (gegen Saudi-Arabien) mit anschließenden Umstellungen zum Schlüssel für einen WM-Titel.

"Danach hatten wir fünf Endspiele", so Messi. Obwohl Bastian Schweinsteiger im Fernsehen Mal um Mal bewundert, wie die Argentinier "den Stürmern des Gegners eins auf die Socken geben", und in der Vorrunde nur zehn Torschüsse zugelassen haben, war es gerade im Finale ein Sieg des argentinischen Mittelfelds und Angriffs.

Über 1.000 Pflichtspiele, und alles lief für Lionel Messi auf diesen einen Tag zu: Die Erfahrung der Niederlagen. Die Erfahrung des Finales von 2014, die Erfahrung des Achtelfinales gegen Frankreich 2018, die Erfahrung des Spiels gegen Saudi-Arabien. Erst mit der Erfahrung dieser einen Niederlage waren er und seine Mannschaft bereit zum Sieg, und wollte sich diesen Sieg auch nicht nehmen lassen.

Wie 1986 siegte Argentinien mit Willenskraft. Argentinien spielte konsequent, "edgy" und voller Leidenschaft. Es widerlegt en passent auch die Legende, dass ihr Spiel nur defensiv wäre. Und mit diesem Spiel ist nun auch für die Ignoranten endgültig klar, dass Messi ein größerer Spieler ist als Ronaldo. Was eigentlich vorher schon klar war.

"Leben, Liebe, Hingabe", so lautete der Dreiklang der ARD-Erklärungen. Nicht falsch, genauso wie die "Cojones" im Schweinsteiger-Kommentar.

Alles endete 3:3 und zum dritten Mal (nach 1994 und 2006) wurde ein Finale im Elfmeterschießen entschieden.

Stellvertretend für eine europäische Schwäche

Die Erfüllung seines Fußballerlebens erlebte Messi dann auf der Tribüne in einer durchsichtigen schwarzen Kutte, die ihm der Emir von Katar aufgedrängt hatte, bestimmt wieder solch ein wichtiges Traditionsstück, deren falsche Benennung Rassismusverdacht hervorruft.

Die Frage ist jetzt, ob es Lionel Messi gelingen wird, mit dem Erfolg in der WM auch den Schatten Maradonas abzuwerfen, und ein neues Modell argentinischer Idole in die Wege zu leiten: als Mann von ähnlicher Willenskraft, aber unauffälliger im Profil, von höherem Verantwortungsbewusstsein, nicht so exzentrisch und expansiv wie Maradona, könnte er eine neue Mythologie des "typischen argentinischen Spielers" begründen. Zugleich hat Messi mit dieser WM gezeigt, dass auch er ein Organisator und Kapitän ist.

"Die Argentinier spielen hier ein Finale, wir nicht. Das reicht so nicht", hatte der französische Nationaltrainer Didier Dechamps bereits zur Halbzeit Bereits in die Fernsehkameras gesagt, und hinterher die bittere Bilanz ziehen müssen, dass es nicht gereicht hat, dass Argentinien mehr Kraft und Energie hatte.

Die französische Schwäche, die sich das ganze Turnier über bereits angedeutet hatte, steht stellvertretend für eine europäische Schwäche. Nur 2014, 2002 und 1978 waren im letzten halben Jahrhundert die Europäer so schwach, wie diesmal. 2006 und 2018 waren sogar vier Europäer unter den letzten vier Mannschaften

Sie können ihre Schulden nicht bezahlen. Sie können ihre Steuern nicht bezahlen. Aber an diesem Abend ist das alles egal: Sie sind aus dem Schatten getreten und sind die Könige der Welt.

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