Ganzheitlichkeit – Ein Wohlfühlbegriff und seine Probleme
Seite 2: Jeder Bestandteil soll die Ganzheit zum Ausdruck bringen
- Ganzheitlichkeit – Ein Wohlfühlbegriff und seine Probleme
- Jeder Bestandteil soll die Ganzheit zum Ausdruck bringen
- Die universale Theorie aller Ganzheiten
- Literatur
- Auf einer Seite lesen
Im Ganzheitsdenken ist häufig die Position anzutreffen, die aus der richtigen Feststellung "Das Ganze ist nicht aus Teilen 'zusammengesetzt'" übergeht zur fragwürdigen These: "es werden nur Teile unterschieden, in deren jedem das Ganze ist und wirkt" (Schingnitz, Schondorf 1943, 171f.).
Anhänger der "Ganzheitlichkeit" meinen, wer über das "Ganze" rede, habe damit auch schon die "Teile" begriffen. Dabei weist nicht nur "das Ganze" Merkmale auf, die "die Teile" nicht haben, sondern auch umgekehrt.
Bspw. hat eine Zelle als Teilsystem des menschlichen Organismus die Fähigkeit zur Teilung, was von dem Körper als Ganzem nicht behauptet werden könnte, auch arbeitet das Herz pausenlos, wohingegen der Gesamtorganismus zwingend auf den Wechsel von Ruhe und Aktivität angewiesen ist. Es wird also deutlich, dass über jeden Teil zutreffende Aussagen gemacht werden können, die in dieser Form für das Ganze nicht gültig sind. Das Ganze hat also nicht alle jene Merkmale, die seine Teile haben, sondern die Eigenschaften des Ganzen sind verschieden von jenen seiner Komponenten.
Stemmer 1999, 88
Nicht selten kommt es zu einem Dilemma: Wer sich auf "das Ganze" fokussiert, ist weniger informiert über "die Teile" – und umgekehrt.
Emergenz heißt, dass die Strukturen des "Ganzen" nicht aus seinen Teilen zu erklären sind. Dies finden wir etwa auch in Organisationen und Institutionen. Sie haben ihre eigene Emergenz. Entstanden ist hier jeweils ein "'in sich' lebensfähiges Erhaltungssystem, das selbständiger Träger historischer Kontinuität und Entwicklung ist und das der Einzelne in seinen unmittelbaren sozialen bzw. kooperativen Beziehungen als ihn selbst überdauernde Struktur, in die er sich 'hineinentwickeln' muss, vorfindet" (Holzkamp 1983, 306).
Bereits das Bahn- oder Postwesen hat eigene, ihr jeweils immanente Folgezusammenhänge und interne Erfordernisse, die sich vom Gesichtspunkt der vereinzelten Individuen unterscheiden.
Dieser Unterschied zwischen der Eigenstruktur einer "Ganzheit" (wie einer Institution oder Organisation) und den Individuen muss noch kein Problem sein. Ein Problem entsteht aber, wenn es zu einer Verselbständigung der Emergenz gegen viele Bedürfnisse der Individuen kommt – wie in der selbstbezüglichen Steigerungs- und Reproduktionsdynamik der Kapitalakkumulation. Insofern kann der Unterschied des "Ganzen" zu den Individuen nicht umstandslos als positiv gelten.
Ganz vs. kaputt
Viele erklären eine bestimmte "Sache" nicht aus dem ihr eigenen Inhalt. Vielmehr rückt oft eine dieser Sache zugeschriebene Eigenschaft (sie ist vermeintlich eine Ganzheit) in ihrer Besprechung zur Hauptsache vor.
Mit "Ganzheit" hat man dann aber oft nicht mehr ausgesagt, als dass das betrachtete Objekt nicht in Teile zerfällt. Dass vielmehr in der zu erklärenden Sache Teile verbunden sind, zusammenhängen und die Sache ganz oder heil ist, begeistert die Person, die das Objekt als Ganzheit betrachtet, anscheinend so sehr, dass diese Beobachtung sie gefangen nimmt. Als eigener Verdienst des Objekts imponiert nun, dass es die Leistung erbringt, einen Zusammenhang zwischen den Teilen zu stiften und sich als Ganzheit zu erhalten.
Für die "Teile" lautet die Botschaft: Ohne Ganzheit oder System verbleibt ihr Teile in einer ordnungslosen Wirrnis, in der nichts miteinander zusammenhängt. Die "formfordernde Gewalt des Nichts" (Benn 1989, 454) erscheint als so unaushaltbar, dass jede Form, jede Ordnung, jede Ganzheit als vorzugswürdige Alternative gilt.
Zu dieser Betrachtungsweise gelangt, wer die Analyse der bestimmten Zusammenhänge einer zu erklärenden Sache unter der Hand ersetzt durch eine metatheoretische Erwägungen. Sie ergreifen für das Funktionieren einer Ordnung oder einer Ganzheit bereits deshalb Partei, weil in ihr die verschiedenen Elemente nicht disparat, unverbunden und unzusammenhängend verbleiben. Diese Würdigung ist treffend mit dem Slogan "System – was will ein Teil schon mehr!" charakterisiert worden (Münchner Hochschulzeitung vom 17.7.1985, S. 4).
Die bestimmten Inhalte dessen, was als Ganzheit oder System vorgestellt wird, ergeben sich dieser Herangehensweise zufolge aus dem Verlangen, das Nichtzustandekommen von Ganzheit oder System zu verhindern. Die Eigenschaften, die der Ganzheit oder dem System positiv zugeschrieben werden, gewinnen ihren Sinn nur negativ – indem sie diejenige Unordnung verhindern, von der angenommen wird, zu ihr käme es unvermeidlicherweise bei Abwesenheit der Ganzheit oder des Systems.
Das derart prinzipielle Lob der gesellschaftlichen Ordnung und Ganzheit ermöglicht die Verteidigung so ziemlich aller Kandidaten, die sie zu realisieren versprechen. So genoss die Monarchie lange die Legitimation, derzufolge ohne die Monarchie das Volk ungeordnet sei.
Das Ganze eine Tautologie. Wenn ein Volk einen Monarchen und eine mit ihm notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung hat, d.h., wenn es als Monarchie gegliedert ist, so ist es allerdings, aus dieser Gliederung herausgenommen, eine formlose Masse.
Marx, MEW 1, 230
Die Herangehensweise ist denkbar einfach: Man nimmt in einem Gedankenexperiment der bestehenden, auf bestimmte Weise vergesellschafteten Gesellschaft ein für sie nötiges Moment weg und stellt im zweiten Schritt die Frage, was sie dringend brauche. So sicher wie das Amen in der Kirche lautet die Antwort, es sei genau das subtrahierte Element, ohne das die Gesellschaft nicht leben könne.