Ganzheitlichkeit – Ein Wohlfühlbegriff und seine Probleme
Seite 3: Die universale Theorie aller Ganzheiten
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Ganzheitliche Theorien verbleiben oft in einer Rede über Konsequenzen, die logisch aus Begriffen wie "Ganzes" und "Teil" folgen. Josef Kremer (1930) kritisiert bei einem vergleichsweise anspruchsvollen Ganzheitstheoretiker, Othmar Spann (1878-1950), den inhaltlich unklaren Status der Rede von Ganzheit bzw. ihr Schwanken zwischen einem analytischen, ontologischen, normativen und empirischen Verständnis.
Georg Baron Wrangel (1929) kritisiert Spanns Begriffsrealismus. Spann spreche von seinen eigenen normativen Ordnungsidealen "als von objektiven Realitäten, ohne zu bemerken, dass es lauter Sollsätze sind und dass er die Aufgabe hätte, ihr wirkliches Bestehen" in der Gesellschaft nachzuweisen (Ebd., 94).
Armin Mohler (1989, 203) sieht in der Theorie von Othmar Spann "das durchgearbeitetste Denksystem" der "Konservativen Revolution". (Für eine aktuelle gründliche Auseinandersetzung mit Spann vgl. Eisel 2021, 279-314.)
Akademisch anspruchsvollere Zeitgenossen ziehen häufig das Wort "System" der Vokabel "Ganzheitlichkeit" vor. Gewiss lassen sich Ganzheiten oder Systemen bestimmte Muster oder Aufbaugesetze zuschreiben. Problematisch wird es, wenn ganz verschiedene konkrete Phänomene darauf reduziert werden, Ganzheiten zu sein. Wer das tut, ebnet die Unterschiede zwischen ihnen ein. Sie dienen dann alle dazu, Anwendungsbeispiele für den Begriff der Ganzheit oder des Systems abzugeben.
Niklas Luhmann entwirft eine allgemeine Systemtheorie mit "Universalitätsanspruch" (Luhmann 1984, 33). Sie soll "den gesamten Bereich der Wirklichkeit abdecken" (Luhmann 1987, 163). "Systemtheorie ist eine besonders eindrucksvolle Supertheorie" (Luhmann 1984, 19). In einer Luhmann-Einführung heißt es:
Soziale Systeme funktionieren strukturell genauso wie Organismen, also lebende Systeme. Die Logik, nach der ein System arbeitet, ist bei Einzellern im Prinzip dieselbe wie bei hochentwickelten sozialen Systemen.
Becker, Reinhardt-Becker 2001, 26
Der Anhänger einer solchen Universal- oder Supertheorie erleichtert sich die Arbeit, spart Mühe und Zeit, indem er die Seite der Identität, der analogen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der zu erkennenden Objekte (alle sind jetzt … Systeme) an die erste Stelle setzt. Die Unterschiede zwischen Einzellern und hoch entwickelten sozialen Systemen gelten dann als zweitrangig.
Bedient wird ein alter Traum: Viele sehnen sich nach einer Theorie für alles. Gesucht wird dann nach der Struktur aller Ganzheiten oder Systeme. Die universelle Struktur oder das universelle System, bei dem alle besonderen Strukturen oder alle einzelnen Systeme nur Anwendungen des Allgemeinen darstellen, ist jedoch genau dies: Ein Allgemeines, das unabhängig von jeder Unterscheidung zwischen verschiedenen besonderen Gegenständen oder Sachgebieten existiert. Eine lesenswerte Auseinandersetzung mit dieser Herangehensweise finden wir bei Warnke 1974.
Die höchste Ganzheit
Politisch ist "Ganzheitlichkeit" häufig verbunden mit einer Werte- und Rangordnung, in der "das Ganze" der Nation, des Volkes, der Bevölkerung oder der Gesellschaft den Individuen normativ übergeordnet wird. Jan Christiaan Smuts war von 1919 bis 24 sowie von 1939 bis 48 südafrikanischer Premierminister.
Mit seinem Holismus (vgl. Smuts 1938) geht er aus von "der qualitativ und organisatorisch höchsten und allumfassenden Ganzheit" und alle Bereiche in der Welt werden dann als "Vereinfachungen und Besonderen jener umfassendsten Ganzheit" aufgefasst (Schingnitz, Schondorf 1943, 241).
Will man aber die Sonderwirklichkeiten als solche erfassen, dann muss man sie aus ihrem Totalzusammenhang vorsichtig herausschälen, indem man diesen schrittweise seiner jeweils höheren Dimensionen entkleidet. Bei dieser progressiven holistischen Simplifikation oder Reduktion treten dann die verschiedenen Stufen der Wirklichkeit als Sonderform der totalen Wirklichkeit in Reinkultur heraus. Die Ableitung der Wirklichkeiten auseinander ist also nicht von unten nach oben möglich, sondern umgekehrt von oben nach unten.
Haldane 1936, XV
In der Hierarchie der Stufen steht Haldane zufolge ganz oben die allumfassendste Persönlichkeit (Gott) oder höchste Ganzheit. Einige Ränge weiter unten treffen wir auf die menschliche Persönlichkeit, die einen minderen Abglanz oder weit entfernten Nachklang Gottes darstelle.
Der biologische Organismus des Menschen erscheint wiederum als einfachere Erscheinungsform der höher organisierten geistigen Person. Diese Auffassung entspricht der vormodernen christlichen Vorstellung einer ‚"Naturleiter" (scala naturae) oder einer "Great chain of being" (Lovejoy 1960).
Sie sieht ein Primat des Höheren über das Niedere und des Allgemeinen über das Individuelle bzw. Besondere vor. Noch im "Niederen" sowie im Individuellen bzw. Besonderen sind die Inhalte der maßgebenden oberen Ebenen in abnehmendem Grad enthalten. Othmar Spann hat versucht, dieses Konzept in den 1920er- und 1930er-Jahren zu revitalisieren.
"Ganzheitlichkeit" verheißt eine heilsame und empathische Gegenposition zu Trennungen und Abstraktionen, erweist sich selbst aber häufig als einseitig und abstrakt. "Ganzheitlichkeit" stellt meist eine vage Idee dar. Sie lebt aus ihrer Ablehnung von etwas, das als problematisch erachtet wird, aber unbegriffen bleibt.
Ganzheitlichkeit bildet eine Dreieinigkeit. Sie setzt sich zusammen aus einem Ideal und aus dem Glauben an eine Kraft, die aus sich heraus Heilung schafft, sowie aus einer subjektiven Haltung, die auf die Welt in ganzheitlichem Geiste zugeht. Wer sich die ganzheitliche Brille aufsetze und den ganzheitlichen Geist recht tüchtig verinnerlicht habe, dem zeige sich die Welt bereits in einem helleren, tröstlicheren und versöhnlicheren Licht.