Gaza-Krieg: Gewalt und Chaos in Nahost sind nicht alternativlos

Trauernde im Gazastreifen. Bild: Screenshot Democracy Now

Die jüngste Eskalation ist nicht vom Himmel gefallen. Seit Jahrzehnten stellt Israel Expansion über Sicherheit. Wie eine friedliche Lösung weiter blockiert wird, mithilfe der USA.

Das Ausmaß der Zerstörung ist jetzt schon erschreckend, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach dramatischer werden, wenn weiter auf Waffengewalt gesetzt wird.

Nach neuen Angaben sind in Israel durch den Überraschungsangriff des militanten Arms der Hamas am Samstag 1.200 Menschen getötet worden. Bei den blutigen Übergriffen wurden Besucher:innen eines Musikfestivals, Israelis in Siedlungen nahe dem Gazastreifen sowie israelische Soldaten umgebracht. Die Kämpfer sollen dabei rund 150 Geiseln genommen und verschleppt haben.

Die palästinensischen Behörden erklärten, dass bei den israelischen Bombardierungen von unter anderem Wohnhäusern, Schulen und medizinischen Einrichtungen im Gazastreifen bis jetzt mindestens 1.100 Palästinenser, darunter Hunderte Kinder, getötet wurden. Zudem hat das israelische Militär die Leichen von 1.500 zusätzlichen Palästinensern entlang der Grenze zwischen Israel und Gaza gefunden.

Viele weitere Palästinenser werden ihr Leben verlieren, wenn die Bombardierungen weitergehen. Auch die Totalblockade Gazas vonseiten Israels (keine Lebensmittel, kein Strom, kein Treibstoff, keine Medizin) wird die schon geschwächte Bevölkerung in der palästinensischen Enklave, die viele als "Freiluftgefängnis" bezeichnen, weiter strangulieren. Wenn es zu einer israelischen Invasion in den Gazastreifen kommen sollte, wird ein Blutbad in der extrem dicht besiedelten Region erwartet, bei dem auch viele israelischen Soldaten fallen würden.

Wenn man den Ankündigungen aus Israel, den Erklärungen aus westlichen Hauptstädten, die sich uneingeschränkt hinter die Regierung in Jerusalem stellen, und den großen Medien dort zuhört, dann entsteht der Eindruck, als ob die militärische Reaktion Israels unausweichlich und gerechtfertigt ist – trotz aller Härten, die damit einhergehen.

Es ist ein Narrativ, wie es in den vorherigen fünf Gaza-Kriegen schon verwendet wurde.

Doch die Rahmung der Ereignisse sollte infrage gestellt werden. Natürlich hat Israel wie jeder Staat das Recht, seine Bürger:innen gegen Gewalt zu schützen. Gegen die Hamas-Kämpfer, die nach Israel eindrangen, versuchten die Streitkräfte, militärisch vorzugehen, wenn auch unzulänglich, wodurch viele sterben mussten.

Aber die Bomben auf den Gazastreifen sind keine Selbstverteidigung nach internationalem Recht. Es sind Vergeltungsakte, eingestandenermaßen, die die dort lebenden Menschen in Kollektivhaftung nehmen, vor allem, weil sie nirgendwo hin fliehen können.

Die Medien zitieren dabei das israelische Militär, dass die Luftangriffe gegen Hamas-Stellungen gerichtet seien. Nicht neu, altbekannt. Aber diese Erklärungen sind wertlos, da es Behauptungen des Aggressors sind, die nicht überprüfbar sind. Auch gibt es kein Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung, wenn nicht zuvor nachweislich alle friedlichen Mittel ausgeschöpft wurden gegen eine imminente Bedrohung.

Israel gibt diesmal auch gar nicht mehr vor, "Präzisionsschläge" auszuführen. Ein Militärsprecher gestand am Dienstag ein, was für Beobachter der Bombardierungsoffensiven im belagerten Gazastreifen offensichtlich war: dass das Ziel der laufenden israelischen Angriffe darin besteht, dem besetzten Gebiet schweren Schaden zuzufügen, und nicht, militärische Einrichtungen der Hamas zu treffen.

Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit,

… sagte Daniel Hagari von den israelischen Verteidigungsstreitkräften laut Haaretz.

Wie in den Gaza-Kriegen Israels zuvor, die genau genommen keine Kriege waren, sondern Massaker an einer eingesperrten Bevölkerung, sterben überwiegend Zivilisten in großer Zahl, ganze Familien werden ausgelöscht. Die Berichte von palästinensischen Müttern und Vätern, die Kinder und Angehörige verloren haben, sind genauso erdrückend wie die auf israelischer Seite.

Selbst wenn nur Hamas-Kämpfer ins Visier genommen und getötet würden, wird daraus kein legitimer, legaler Akt. Oder anders formuliert: Dürfen Palästinenser sich auch selbst verteidigen, indem sie Militärstellungen der israelischen Streitkräfte angreifen, von denen sie sich bedroht fühlen? Oder Städte bombardieren, weil man dort gegnerische Kämpfer vermutet?

Natürlich werden die Bestrafungsaktionen aus der Luft die Hamas nicht auslöschen. Und eine mögliche Invasion mit Bodentruppen wird den Geiseln, die aus Israel verschleppt wurden, mehr schaden als nutzen. Auch das ist jedem klar.

Wenn man am Leben der Geiseln interessiert ist, gibt es einen Weg. Katar versucht gerade, einen ersten Gefangenenaustausch, den die Hamas fordert, bezogen auf Kinder und Frauen (Hamas-Geiseln gegen palästinensische Kinder und Frauen in israelischen Gefängnissen) zu organisieren.

Von dort könnte man weitergehen. Viele Palästinenser sitzen ohne Gerichtsverfahren und vielfach zu Unrecht in israelischen Gefängnissen.

Der Elefant im Raum

Schließlich muss über den Elefanten im Raum gesprochen werden. Das ständige Blutvergießen geht ja nicht zurück auf einen unlösbaren Konflikt. Ursache und Nährboden für Gewalt und Chaos in Nahost sind keineswegs der Kampf von zwei Streithähnen, gefangen in irrationalen Gewaltspiralen, wobei freilich nur einer Seite im Westen die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung zugesprochen wird.

Denn eine friedliche und gerechte Lösung wäre jederzeit möglich. Die minimale Basis dafür ist allerdings Respekt vor internationalem Recht. Das betrifft die Blockade des Gazastreifens, das Apartheidregime, die Besatzung und die Verhinderung der nationalen Selbstbestimmung der Palästinenser in einem eigenen Staat.

Hier kann es keinen Zweifel geben, dass der Ball im Feld Israels liegt. Es muss die menschenverachtende Gaza-Blockade in einem ersten Schritt aufheben, was eine auch jetzt wieder gestellte Kernforderung der Hamas ist, wie sie zudem von der Weltgemeinschaft bei den Vereinten Nationen jährlich in Resolutionen erhoben wird (das letzte Paket diesbezüglich wurde im Dezember 2022 verabschiedet, aber wer nimmt schon Notiz davon?), wobei vor allem die USA und Israel dagegen stimmen.

Das Völkerrecht lässt zudem kaum Spielräume: Die Besatzung Gazas, wie sie von UN-Behörden als solche definiert wird, ist ein Akt des Krieges und die Blockade ein Verstoß gegen die Resolution 1860 des UN-Sicherheitsrats. Die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete hat daher die "selektive Empörung" vieler westlicher Staaten nach dem Ausbruch des Konflikts angeprangert, da sie die anhaltende Gewalt gegen Palästinenser nicht anerkennen. Francesca Albanese sagte:

Menschenrechtsorganisationen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die fortgesetzte Unterdrückung einer Bevölkerung, die völlig ungestraft bleibt, zu einer Katastrophe führen würde, und genau das geschieht jetzt. ... Die Verantwortung liegt auch bei der internationalen Gemeinschaft, die jetzt eine Gelegenheit hat, weise und gerecht zu sein.

Zweitens muss das illegale Apartheid-System und Besatzungsregime Israels beendet werden. Die permanenten Tötungen, Entwürdigungen und systematischen Menschenrechtsbrüche gegen Palästinenser:innen, wie sie von diversen UN-Stellen und Menschenrechtsorganisationen in Studien belegt werden, sind nicht nur kriminell, rassistisch und inhuman, sondern struktureller Treiber von Rechtsbruch und Gewalt.

Sollte Israel gar dem internationalen Recht, der internationalen Gemeinschaft und dem Internationalen Strafgerichtshof auf einem anderen Feld folgen wollen, dürfte es nicht nur kein Weiterwuchern von israelischen Siedlungen im Westjordanland geben. Vielmehr sind alle Siedlungen dort illegal und müssen geräumt werden.

Das Gleiche gilt auch für die widerrechtliche Annexionsmauer, die fruchtbares palästinensisches Land Israel einverleibt. Das sind bisher rund zehn Prozent der Landfläche im Westjordanland, vor allem rund um Ostjerusalem. Aber die Vetomacht USA schützt die israelische Regierung bei der Uno Jahr für Jahr vor Konsequenzen, während Regierungsvertreter in Jerusalem erklären, dass die Mauer die neue Grenze von Israel ist.

Der schwerste Brocken ist die vom Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft geforderte Zwei-Staaten-Lösung, mit einem Palästinenserstaat innerhalb der Grenzen von vor 1967 – als Israel im Sechs-Tage-Krieg unrechtmäßig Land okkupierte –, eventuell mit kleinen Gebietsanpassungen und -austauschen.

Die arabischen Staaten und die palästinensische Seite haben Israel immer wieder Frieden im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung in den völkerrechtlichen Grenzen angeboten, mit einem palästinensischen und israelischen Staat, basierend auf UN Resolution 242, verabschiedet nach dem Krieg.

Bereits 1976 übergaben arabische Staaten dem UN-Sicherheitsrat eine Resolution, verfasst von der "Terrororganisation" PLO unter Jassir Arafat, die diese Einigung enthielt. Seitdem sind immer wieder Resolutionen bei den Vereinten Nationen zur Abstimmung eingebracht worden, um einen Palästinenserstaat möglich zu machen.

Die Lösung wird de facto von allen Staaten der Welt, eingeschlossen der arabischen Staaten, der Arabischen Liga, des Iran, der PLO und letztlich auch der Hamas unterstützt. Die palästinensischen Unterhändler haben in den direkten Verhandlungen mit Israel zudem große Zugeständnisse gemacht in Hinsicht auf die Einverleibung von Teilen der illegal errichteten Siedlungen im Westjordanland in das israelische Staatsgebiet sowie bei der Flüchtlingsfrage – und damit einige ihrer völkerrechtlichen Ansprüche fallen gelassen.

Doch alle diese Angebote wurden von Israel mit Unterstützung der USA abgelehnt. Bei jeder entsprechenden UN-Abstimmung seit den 1970er-Jahren haben sie gegen die Friedenslösung gestimmt. Die Vetomacht USA verhinderte die Umsetzung. Bei der jüngsten Resolution Ende 2022 stimmten sie erneut dagegen.

Auch bei den direkten Verhandlungen, auf die die USA bei ihren UN-Vetos immer verweisen, haben die "Vermittler" aus Washington Israel vor einem Ende des Expansionskurses im Westjordanland bis heute bewahrt. Angeboten wurden den Palästinensern nämlich höchstens Kantone, zerstückeltes Land, ein nicht lebensfähiger "Pseudo-Staat", ähnlich den Bantustans in Südafrika für die schwarze Bevölkerung.

Es waren Nichtofferten, mit viel PR als "großzügige Angebote" an die Öffentlichkeit verkauft, die die Gegenseite wegen ihrer "Maximalforderungen" aber verschmäht hätten. Sie waren so "großzügig", dass weder die UN, die EU, die Weltbank, Menschenrechtsorganisationen oder führende Spezialisten für das Westjordanland in ihnen einen funktionstüchtigen Staat erkennen konnten.

Selbst Vertreter der israelischen Verhandlungsseite bezeichneten die Angebote im Nachhinein als inakzeptabel. Währenddessen verschwinden immer mehr wertvolles Land, Wasserreserven und wichtige Gebiete um Ostjerusalem hinter israelischen Separationsanlagen und Mauern.

Wenn Israel am Expansionskurs festhalten will, wie die israelischen Verhandlungsangebote von Camp David bis Annapolis dokumentieren, und damit einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindert, dann sind gewaltsame Eskalationen auch in Zukunft zu erwarten.

Über die reichlich dokumentierte Blockade eines Palästinenserstaats, die von den USA unterstützt und von Europa geduldet wird, und das Schweigen der westlichen Medien dazu, ließe sich viel sagen. Es ist eines der traurigsten Kapitel historischer Amnesie in Bezug auf den Nahostkonflikt.

Die Sicherheit der israelischen Bürger:innen ist brüchig und illusionär – was nicht zuletzt die jüngsten Ereignisse zeigen –, weil sie auf der systematischen Entrechtung eines ganzen Volks beruht. Der politische Kurs Israels ist am Ende ein zerstörerischer Selbstzerstörungskurs, der Expansion über Sicherheit stellt. Aber, auch das ist wichtig festzustellen, er ist nicht alternativlos und unausweichlich.

Sicherlich, im Moment wirkt ein Kurswechsel utopisch. Aber das könnte sich ändern.