Gaza-Krise: IGH-Entscheidung könnte Israels globale Stellung gefährden
Der IGH sieht plausible Gründe für den Völkermordvorwurf gegen Israel. Der Beschluss sorgt schon jetzt für Furore. Die Folgen für den jüdischen Staat könnten verheerender nicht sein.
Es fällt schwer, nicht zynisch zu reagieren, wenn es um die internationale Rechtsstaatlichkeit geht.
Nahostkonflikt: Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt
Kaum hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) festgestellt, dass es "plausible Gründe" dafür gibt, dass Israel einen Völkermord am palästinensischen Volk begeht, erklärte das US-Außenministerium:
Wir glauben weiterhin, dass die Vorwürfe des Völkermords unbegründet sind, und stellen fest, dass das Gericht in seinem Urteil keine Feststellung über Völkermord getroffen oder zu einem Waffenstillstand aufgerufen hat.
Israel: Völkermordvorwurf und internationale Kritik
Israelische Politiker bezeichneten den Entscheid des IGH als "empörend" und "antisemitisch".
Dennoch könnte der IGH-Entscheid in den nächsten ein bis zwei Jahren für Israel mit dem Risiko tiefgreifender Auswirkungen verbunden sein. Wenn Israel die Völkermordkonvention ablehnt, gefährdet es seinen Platz in der Staatengemeinschaft.
Die menschliche Tragödie in Gaza: Ein schockierender Bericht
Es stimmt zwar, dass die vorläufige Entscheidung des IGH allein nicht Israels Krieg in Gaza beenden wird und auch nicht den Massenmord an palästinensischen Zivilisten. Der hat (nach Angaben aus Gaza, Anmerkung Telepolis) bereits zu etwa 26.000 Toten geführt, wobei deren Zahl weiter ansteigt und davon rund 70 Prozent Frauen und Kinder sein sollen.
Die Rolle der USA im Nahostkonflikt
Und der Beschluss allein wird die US-Komplizenschaft bei dem Abschlachten der Palästinenser durch Israel nicht beenden. Denn Israel könnte den Krieg in Gaza keinen Tag länger führen, wenn die USA die Munition und andere militärische Unterstützung nicht zur Verfügung stellen würden.
Geschichte im Wandel: Israel und das IGH-Urteil
Doch seit dem Beschluss hat die Uhr der Geschichte zu ticken begonnen, die über die zukünftige Rolle Israels in der Welt entscheiden wird.
Wenn Israel so ungestraft weiter agiert und im endgültigen Urteil des IGH zum Völkermörder erklärt wird, wird Israel zu einem Paria-Staat werden. Vor allem junge US-Amerikaner werden sich dafür einsetzen, dass die US-Unterstützung für Israel beendet werden wird. Israel wird völlig allein dastehen und von der Welt verurteilt werden.
Die UN und Israels Handlungen: Eine kritische Perspektive
Die große Mehrzahl der 193 Regierungen in den Vereinten Nationen lehnt Israels Verhalten bereits heute entschieden ab. Die meisten Regierungen sehen Israel als ein Land an, das die benachbarten Gebiete Palästinas seit 57 Jahren (seit dem Krieg von 1967) besetzt hält, das Dutzende Abstimmungen des UN-Sicherheitsrats und der UN-Generalversammlung missachtet und das in den besetzten Gebieten illegal und ganz unverfroren mehr als 700.000 Israelis angesiedelt hat.
Apartheid-Vorwurf: Israel in der Kritik
Für die meisten Vertreter der UN-Mitgliedsstaaten waren die Äußerungen vieler israelischer Führer über das palästinensische Volk, die einen tief sitzenden Hass ausdrücken, unüberhörbar.
Ein Beispiel dafür war die Erklärung des israelischen Präsidenten Herzogs, in der er, wie vom IGH zitiert, "alle Menschen in Gaza beschuldigt hat, Terroristen zu sein". Die UN-Mitglieder verstehen klar die Absicht der heutigen israelischen Regierung, Palästina ganz zu besetzen, um weiterhin die Herrschaft über die sieben Millionen palästinensischer Muslime und Christen, die heute in Israel und Palästina leben, auszuüben.
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Südafrika hat den Prozess gegen Israel vor dem IGH auch deshalb angestrengt, weil es die mörderische Politik der Apartheid selbst kennengelernt hat und diese Politik in Israels anhaltender Herrschaft über das palästinensische Volk wiedererkennt.
Israel hat sich bisher von der Weltöffentlichkeit aus verschiedenen Gründen nicht abschrecken lassen, so zu handeln: wegen seiner nuklearen Bewaffnung, seines messianischen zionistischen Eifers und vor allem wegen der militärischen, finanziellen und öffentlichen Unterstützung der Vereinigten Staaten, einschließlich dessen Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Generalversammlung.
Die Arroganz der Macht: Israel und die USA
Weiterhin haben die USA und Israel in dem Glauben gehandelt, dass die Angebote von amerikanischem Geld und Waffensystemen an die arabischen Nationen diese dazu veranlassen würden, sich von den Interessen des palästinensischen Volkes abzuwenden.
Israel und die USA handeln mit äußerster Arroganz, weil sie glauben, dass militärische Macht Recht schafft und Geld die Welt regiert.
Ja, Israel handelt auch aus Angst vor den Palästinensern, aber das ist die anmaßende und ganz ungerechtfertigte Angst vor den Schwachen und den Benachteiligten, den Besiegten und den Vertriebenen.
Israel und der Weg zum Frieden: Eine Analyse
Durch die Anerkennung eines unabhängigen palästinensischen Staates und einen Friedensschluss mit ihm würde Israel dem Hass und weiteren Demütigungen ein Ende setzen können. Das sind die entscheidenden Ursachen für die Unterstützung der Hamas, und damit würden sich auch die Bedrohungen, die zu Israels eigenen Ängsten führen, vermindern lassen.
Die Israelis sollten verstehen, dass die USA Israel auf lange Sicht nicht retten können und wohl auch nicht retten wollen.
Die Grenzen der US-Unterstützung: Eine Lektion aus der Geschichte
Das werden die USA genauso wenig tun, wie es Südvietnam "gerettet" hat. Das Gleiche gilt ebenso für:
- den Iran nach dem Putsch von 1953, der von den USA und Großbritannien durchgeführt worden war;
- Afghanistan nach 2001;
- den Irak nach dem Sturz Saddam Husseins durch die USA im Jahr 2003;
- Syrien nach dem Versuch der USA, Baschar al-Assad 2011 zu stürzen;
- Libyen nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi durch die Nato im Jahr 2011 und
- die Ukraine seit dem US-geführten Putsch im Jahr 2014.
US-Schulden, Ukraine und militärische Abenteuer
US-amerikanische Militärgewalt erweist sich als nutzlos oder schlimmer, wenn es darum geht, Regime aufrechtzuerhalten, denen es an breiter internationaler Unterstützung und Legitimität fehlt.
Es ist zu erwarten, dass die USA demnächst der fehlgeleiteten militärischen Abenteuer überdrüssig werden und sich von dieser Politik abwenden. Washington wird dies schließlich auch gegenüber Israel tun, wenn Israel ein Paria-Staat geworden ist und sich nicht mehr dem Völkerrecht verpflichtet fühlt.
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Auch das Geld und die Waffen der USA werden für die arabischen Nachbarn Israels nicht ausschlaggebend sein. Denn die USA sind am Ende ihrer finanziellen Großzügigkeit angelangt. Die Staatsverschuldung der USA beträgt bereits 122,9 Prozent des BIP und steigt rapide an.
In Washington gibt es keinen Konsens darüber, wie der US-Haushalt stabilisiert werden soll, aber eines ist klar: Eine weitere große Unterstützung für das Ausland wird nicht Teil der Übereinkunft der Parteien sein. Die Kürzung der US-Finanzierung für die Ukraine trotz der intensiven Lobbyarbeit des politisch mächtigen militärisch-industriellen Komplexes ist ein anschauliches Beispiel dafür.
Selbst der mögliche Erwerb der modernsten US-Waffensysteme wird die arabischen Nationen nicht davon überzeugen, die Forderung nach einem Staat für die Palästinenser aufzugeben.
Der wachsende Einfluss alternativer Waffenlieferanten
In jedem Fall wird der Kauf von russischen, iranischen, nordkoreanischen, chinesischen und anderen modernen Waffen in den kommenden Jahren eine sehr wettbewerbsfähige Alternative sein und das zu günstigeren Finanzierungsbedingungen.
Staatliche Propaganda und Israels Öffentlichkeit
Derzeit unterstützt die israelische Öffentlichkeit mit viel Enthusiasmus Israels Brutalität und Gemetzel in Gaza. Eine Kombination aus überwältigender Angst, religiösem Fanatismus und staatlicher Propaganda hat die Öffentlichkeit fest im Griff.
Ein großer Teil der Israelis glaubt, dass die arabischen Nationen unerbittlich darauf aus sind, Israel zu zerstören. Aber sie fahren nicht in die arabischen Länder und kennen oder verstehen die Einstellungen und die Politik in den Gesellschaften ihrer Nachbarn nicht.
Sie kümmern sich auch nicht um die Verlautbarungen arabischer und islamischer Führer, die seit vielen Jahren einen Frieden auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung fordern. Denn die israelischen Mainstream-Medien, wie auch die US-Mainstream-Medien, halten an einer unerbittlichen Staatspropaganda, mit stumpfem Patriotismus und einer unerbittlichen Kriegshetze fest.
Von großer Bedeutung ist natürlich auch, dass die israelische Gesellschaft ungeheuer traumatisiert ist durch den Nazi-Holocaust, der nach wie vor eine Tatsache der neueren Geschichte ist und die Erinnerung in jeder jüdischen Familie mit europäischen Wurzeln in jedem Teil der Welt prägt.
Feststellungen des IGH werden dramatische Auswirkungen haben
Sollte das weltweit höchste Gericht letztlich feststellen, dass Israel nun selbst Völkermord begeht, wird das die israelische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und den Gesellschaftsvertrag Israels mit dem Weltjudentum infrage stellen.
In dieser sehr schmerzhaften und düsteren Phase der Geschichte könnte die israelische Öffentlichkeit beginnen, ihre derzeitigen Überzeugungen zu überdenken.
Trotz eines solchen etwaigen Urteils des IGHs ginge das Töten Israels weiter, aber unter stark verschärfter rechtlicher und politischer Kontrolle.
Jeder kaltblütige israelische Mord, jede Bombardierung eines Krankenhauses, jede Zerstörung einer palästinensischen Schule oder Universität, jede israelische Verweigerung von Nahrung und Wasser für die Bewohner des Gazastreifens werden von Südafrikas hervorragendem Anwaltsteam und von hoch angesehenen Rechtsinstituten auf der ganzen Welt, einschließlich des Center for Constitutional Rights and Law for Palestine, akribisch aufgezeichnet.
Alle diese Schandtaten werden ordnungsgemäß an den IGH weitergeleitet.
Palästina wird hoffentlich die gegenwärtige schreckliche Tortur überleben, zwar zutiefst verwundet, aber in der Gewissheit einer starken weltweiten Unterstützung.
Im Gegensatz dazu steht aber Israels Zukunft auf dem Spiel, wenn das Land demnächst aus der weltweiten Staatengemeinschaft aufgrund der massiven Verweigerung gegenüber dem Völkerrecht ausgeschlossen werden wird.
Deshalb benötigt Israel dringend politische Führungspersönlichkeiten, die das Völkerrecht über militärische Gewalt, Demut über Arroganz und Friedensstiftung über Brutalität stellen.
Und Israel – nicht weniger als die Vereinigten Staaten – muss lernen zu verstehen, dass der Einsatz militärischer Gewalt selbstzerstörerisch und sinnlos ist, wenn sie dem palästinensischen Volk weiterhin Gerechtigkeit und politische Rechte verweigern wollen.
Jeffrey Sachs (1954, Detroit, Michigan) ist ein US-amerikanischer Ökonom und Professor. Er promovierte an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften im Jahr 1980. Sachs' Karriere ist geprägt von verschiedenen akademischen Positionen sowie Beratertätigkeiten für bedeutende internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank.
Telepolis hat von Sachs eine Reihe von Artikeln über Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und des Israel Kriegs veröffentlicht.
Als Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University und als Professor setzt er sich intensiv für nachhaltige Entwicklung ein. Besonders bekannt ist Sachs für seine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung von Wirtschaftspolitiken in Osteuropa während des Übergangs vom Kommunismus zum Kapitalismus. Er gilt als Verfechter globaler Armutsbekämpfung.
Sachs' Leistungen in der Wirtschaftswissenschaft brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen ein. Sein Werk und sein Einsatz für eine gerechtere Weltwirtschaft haben seinen Einfluss weit über die Grenzen der akademischen Welt hinaus ausgedehnt. In "The Price of Civilization: Reawakening American Virtue and Prosperity" (2011) setzt er sich mit Fragen der US-Gesellschaft und Wirtschaft auseinander.
Der vorliegende Text erschien zuerst auf der Website Consortium News auf Englisch. Er wurde für das deutsche Publikum leicht bearbeitet.
Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane.
Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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