Gaza, TikTok und der Vietnam-Moment
- Gaza, TikTok und der Vietnam-Moment
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Abkehr vom Establishment: Migrantische Communities und Generation Z blicken anders auf den Konflikt. Sie pochen auf Gleichwertigkeit von Menschenleben. Ein Kommentar.
Ich wohne einige Hundert Meter von der Sonnenallee in Berlin entfernt – und nach den Ereignissen in Neukölln in den letzten Wochen wollte ich eigentlich über die Stimmung in der migrantischen Bevölkerung schreiben. Hier deutet sich seit Beginn des neuen Israel-Gaza-Krieges eine sprunghafte Desintegration an.
Doch dann verbrachte ich die letzte Woche intensiv auf TikTok und musste feststellen: Dieser Krieg führt in viel breiteren Kreisen der Gesellschaft zu einer drastischen Entfremdung vom politischen Establishment, vor allem in der Jugend, der "Generation Z". Während in großen Medien hier meist vollkommen einseitig die israelische Perspektive gezeigt wird, ist die globale Öffentlichkeit bei TikTok und Instagram live auch in Gaza dabei – und sieht ein Bomben-Massaker an der Zivilbevölkerung in diesem Freiluftgefängnis.
Wir erleben gerade einen Vietnam-Moment: Die globale Öffentlichkeit hängt völlig schockiert an ihren Smartphones. Im Westen verliert die "Mitte" nicht nur noch mehr an Legitimität, "Soft Power" und moralischer Überlegenheit in der globalen Systemkonkurrenz: Für sie ist der globale Süden endgültig verloren, die BRICS-Staaten sind die Gewinner der 2020er-Jahre, das ist nun offiziell.
Neukölln, "Arab Lives matter" und die kommende Silvesternacht
Die neue Angst der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ist eine dringliche und besondere gesellschaftliche Herausforderung. Nach dem historischen Verbrechen des Holocaust ist der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland völlig zurecht und unverrückbar Staatsräson.
Menschen palästinensischer Abstammung sind aus einer anderen Betroffenheit heraus in großer Sorge und Wut. Darüber hinaus gibt es eine starke Empathie mit den Palästinenser:innen in der gesamten arabisch-muslimischen Welt, wo die Katastrophe der Nakba auch zu einem kollektiven Trauma geworden ist.
Für die überwältigende Mehrheit der arabischstämmigen Bevölkerung in Deutschland erscheint es nun so, dass das Leben der Palästinenser:innen in der Wahrnehmung der etablierten Öffentlichkeit weniger zählt.
Aufgabe des Staates als ordnende Instanz in einer Gesellschaft wäre es, Betroffene dieser beiden Traumata – des Holocaust und der Nakba – in Dialog zu bringen. Stattdessen führt der einseitige Blick großer Teile der Medienlandschaft auf diesen Krieg mit all seinen Folgen zu einer weiteren und speziellen Polarisierung in Deutschland.
Die arabisch geprägten Demonstrationen werden in der etablierten Öffentlichkeit zu einer Projektionsfläche, sie werden pauschal als antisemitischer Mob gelabelt – und in den Augen der muslimischen Bevölkerung ist die etablierte deutsche Politik und Gesellschaft in ihrer bedingungslosen Solidarität mit Israel ein Handlager des Massakers an ihren Geschwistern.
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Es gab und gibt berechtigte Sorgen, dass im pro-palästinensischen Protest antisemitische Stimmung und Hetze verbreitet wird. Dafür gab es genug Fallbeispiele in der jüngeren Vergangenheit. Radikal-islamistische Bewegungen sind kein Phantom in Deutschland – so zu sehen auch auf der Demonstration am Freitag in Essen, wo Islamisten die vorgebliche Palästina-Solidarität für die Forderung nach einem Kalifat missbrauchten.
Doch statt gezielter Prävention wurde in den ersten Wochen jegliche palästinensische Solidaritätsbekundung unter Generalverdacht gestellt, sodass sogar das Tragen von palästinensischer Folklore wie die Kufiya in Schulen verboten wurde.
Palästina hatte zu schweigen. Arabische Menschenleben waren demnach nicht gleich viel wert – kollektive Trauer, Protest und Wutbekundungen waren nicht möglich. Jede Äußerung in Richtung "Arab Lives matter" wurde als Provokation aufgefasst.
Dabei sind Mahnwachen und Demonstrationen in solchen Situationen wichtig für die mentale Verarbeitung der schrecklichen Bilder, für das Gefühl, mit dem Schock, mit der Trauer und Wut nicht alleine zu sein. In der Sonnenallee ist man sowieso nie alleine, und nun oft auch noch begleitet von Hundertschaften der Polizei in Kampfmonturen.
Diese Erfahrung, nicht gleichwertig zu sein, in er etablierten Öffentlichkeit nicht repräsentiert zu sein und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung zu verlieren, sind die Schockerfahrung dieser Tage für eine junge Generation deutscher Muslime.
Dabei standen deutsche Muslime der Demokratie und ihren Institutionen laut einer Allensbach-Umfrage noch im vorletzten Jahr positiver gegenüber als die Gesamtbevölkerung. Diese Einstellung dürften nun einen heftigen Dämpfer erfahren.
Im Internet dominieren zwar die Stimmen zur Besänftigung und die weitere Suche nach legalen Möglichkeiten des Protests. Die Initiative des Protests liegt zurzeit bei den vielen neuen säkular- und liberal-islamischen, linken und progressiven Initiativen der migrantischen Jugend.
Über antirassistische, antikoloniale und friedenspolitische Initiativen sind in den letzten Jahren viele neue Netzwerke entstanden, in denen eine neue politische Generation der migrantischen Jugend mit linken Akteuren und Gruppen aus der alten und neuen Friedensbewegung zusammengefunden hat.
Diese standen hinter den Demonstrationen am Samstag in Berlin und Düsseldorf, den größten Palästina-Solidaritätsdemonstrationen der Geschichte in der Bundesrepublik.
Palästina schweigt nicht, Palästina spricht, weil es unverrückbar Teil des neuen Deutschlands ist. Sollten noch lange noch mehr hässliche Bilder aus Gaza kommen, werden Wut und Protest stärker werden. Finden sie kein legales Ventil und werden sie aus der etablierten Öffentlichkeit gebannt, werden Trauer und Wut zu mehr Desintegration und auch Hass führen.
Je mehr polizeiliche Repression, umso mehr Radikalisierung, das ist eine bekannte Rechnung. Es besteht die reale Gefahr, dass diese Konstellation verzweifelte Menschen in die Arme der Islamisten treiben wird. Je weniger die offene Gesellschaft imstande ist, diese Wut und Trauer gemeinsam zu verarbeiten, umso mehr wird sie zu einem stummen Schrei, der sich gewalttätig entladen kann.
In Berlin-Neukölln waren die Ausschreitungen der letzten Silvesternacht noch nichts gegen die und Zerstörungen der Banlieu-Riots in Frankreich, wo man die zerstörten Autos nicht in Dutzenden, sondern in Hunderten zählt.
Der Vietnam-Moment und die Generation Z
In der fünften Woche des Israel-Gaza-Krieges lässt sich deutlich feststellen: Israel und die westlichen Alliierten haben diesen Krieg medial verloren. Die Bilder der von Bombenteppichen zerfetzten und von Phosphorbomben verbrannten Kinder in Gaza flattern milliardenfach über die Smartphones.
Wie nie zuvor ist die Welt live dabei bei einem Massaker – und dabei spielt der chinesische Plattform TikTok eine zentrale Rolle. Nach unterschiedlichen Quellen erreichten Pro-Palästina Beiträge rund zehn mal so viele Nutzer:innen wie Pro-Israel Beiträge (rund drei Milliarden Klicks zu 300 Millionen). Die Anschuldigung, Pro-Palästina-Positionen künstlich zu fördern, wies die Plattform zurück. Interessant ist, dass 87 Prozent der Klicks von #StandwithPalestine unter 35 Jahre alt sind, bei #IStandwithIsrael sind es 66 Prozent.
Ich habe dabei besonders die Kanäle aus den USA und Deutschland beobachtet. In den letzten Jahren sind in den USA sehr viele Kanäle der neuen Linken und insbesondere die Bürgerrechtsbewegung "Black Lives Matter" entstanden, die enorme Reichweiten generieren.
Spannend ist hier: während in Deutschland das Wort "Genozid" im Zusammenhang mit diesem Krieg Grund genug ist, um gecancelt zu werden, beobachte ich unzählige vordergründig unpolitische Accounts, die davon erzählen, dass sie nicht bei "so einem Genozid" zuschauen und schweigen können.
Dieser "Genozid" ist für sie eine Schockerfahrung und ein negatives Erweckungserlebnis. Viele weisen auf den rassistischen Charakter dieses Konflikts hin. Ein schwarzer TikToker macht sich darüber lustig, dass auf den Pro-Israel Demonstrationen von Rio über Washington bis Berlin nur weiße Menschen zu sehen seien, während der globale Süden genau wisse, wo sie steht.
Die Ideologie, die Sprache und das Agieren der fundamentalistisch-rechtsradikalen Kräfte in der israelischen Regierung zeigen frappierende Parallelen zu dem, was wir von der "White Supramacy"-Fraktion und der evangelikalen Rechten in den USA kennen. An der Basis der Demokratischen Partei entsteht bei den neuen Progressiven eine unversöhnliche Haltung gegenüber der Unterstützung für Israels Kriegsführung, was zu einem ernsthaften Problem für Joe Biden bei den anstehenden Wahlen werden könnte.
Die politische Rechte ist in diesem Konflikt neuerdings gespalten und kann nicht stark mobilisieren. Sie wird zerrissen von ihrem Antisemitismus einerseits und ihrer Islamfeindlichkeit andererseits und schafft es nicht, ins selbe Horn zu blasen wie die Mainstream-Medien und das Establishment, das sie bis vor kurzen als reines Lügengebäude verteufelt hat.
Vor diesem Hintergrund beschreiben viele Analyst:innen eine Zeitenwende in der US-amerikanischen Politik, was die allgemeine Haltung zu Israel betrifft. Die Journalistin Abby Martin erzählt dem Podcaster Joe Rogan, dass inzwischen 25 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den USA in Israel einen Apartheid-Staat sehen (wofür man in Deutschland sehr schnell gecancelt wird).
Sie sieht die Zeitenwende darin, dass es in den letzten 20 Jahren offensichtlich geworden sei, dass Israel keinen Verteidigungskrieg führe. Die Mehrheitsverhältnisse kippen dramatisch. Das Wegbrechen der populären Unterstützung für Israel in den USA ist ein historisches Novum und zeigt sich auch im ungewohnt kritischen Ton der US-Regierung gegenüber Israel, wie zum Beispiel die Forderung einer Feuerpause von Außenminister Blinken am Freitag, dem 3. November.
Auch auf Deutsch findet man bei TikTok sehr viele Kanäle, die Entsetzen und Unversöhnlichkeit gegenüber dem Massaker in Gaza zum Ausdruck bringen. Es ist natürlich eine Armada von migrantischen Jugendlichen und Influencer:innen, die hier ihr politisches Erwachen erlebt. Aber nicht nur diese.
Ein großer Teil der Generation Z allgemein, und besonders der progressiven "Generation Greta", nimmt diesen Konflikt quer zum Mainstream auf.
Eine 18-Jährige aus Hamburg mit gerade mal ein paar tausend Followern, die sonst zu klassischen Teenie-Themen postet, erreicht 400.000 Likes mit einem Video zu Palästina, in dem sie zur Musik von Michael Jackson sagt, "wären es nicht Muslime, würde die Welt das nicht zulassen." Dafür gibt es Gründe.