Gazas humanitäre Katastrophe: Israel hält den Schlüssel zur Deeskalation in der Hand

Zu sehen sind Kinder in Gaza, die Essen in Blechtöpfe bekommen

Essensausgabe durch eine Hilfsorganisation: Die humanitäre Situation in Gaza spitzt sich zu

(Bild: Anas-Mohammed/Shutterstock.com)

Polio-Ausbruch im Gazastreifen. Lage in besetzten palästinensischen Gebieten immer dramatischer. Wie die humanitäre Situation zur Eskalation in Nahost beiträgt.

Während die Welt derzeit auf die angespannte geopolitische Lage im Nahen Osten blickt – der gerade ein Pulverfass darstellt, das jederzeit zu explodieren droht – ist die humanitäre Situation in den von Israel besetzten Gebieten in den meisten Medien hierzulande weitgehend aus dem Fokus geraten.

Dabei hängt die anhaltende Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung direkt mit dem Eskalationspotential zusammen.

Die Lage in Gaza

Besonders dramatisch ist die Lage nach wie vor in Gaza, wo laut den jüngsten Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums inzwischen 39.677 Menschen in Folge israelischer Angriffe gestorben sind.

Laut einer Anfang Juli in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet publizierten Studie könnte die tatsächliche Operzahl jedoch deutlich höher sein und 186.000 oder mehr betragen, wenn man indirekte Todesfälle in Form von Krankheiten hinzuzieht.

Seit dem 7. Oktober 2023 wurden mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Gazas aus ihren Wohnungen vertrieben. Das verfügbare Trinkwasser ist in Folge der Flächenbombardierung um 95 Prozent auf rund drei Liter pro Person und Tag zurückgegangen, die sowohl zum Trinken als auch für Wäsche und Körperhygiene reichen müssen – rund ein Fünftel des von den Vereinten Nationen veranschlagten absoluten Mindeststandards.

Folge von Obdachlosigkeit und Wassermangel ist die massive Zunahme von Infektionskrankheiten. Laut Schätzungen des UN-Nothilfebüros Ocha leidet inzwischen rund die Hälfte der zwei Millionen Einwohner umfassenden Bevölkerung an Atemwegserkrankungen.

Polioausbruch bereitet WHO Kopfzerbrechen

Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor kurzem gemeldet hat, ist die eigentlich längst ausgerottete Kinderlähmung (Polio) in Gaza wieder ausgebrochen. In Khan Yunis wurden Mitte Juli erste Fälle des Poliovirus Typ 2 entdeckt. Bei ungeimpften Kindern – was derzeit auf die meisten Kinder des demographisch sehr jungen Gazastreifens zutrifft– kann die Krankheit zu Lähmung und Tod führen.

Als Hauptursachen für den Ausbruch nannte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus unter anderem "die Schwächung des Gesundheitssystems, konstante Vertreibung, der Mangel an Medizin, schlechte Waserqualität und schlechte sanitäre Einrichtungen."

Die WHO plant indes, 1,2 Millionen Polio-Impfungen in den Gazastreifen zu schicken, mit denen 600.000 Kinder unter acht Jahren immunisiert werden können. Dies stelle jedoch mangels Kühlmöglichkeiten eine "enorme logistische Herausforderung" dar, erklärte eine WHO-Sprecherin gegenüber der BBC.

Die UN-Organisation bekräftigte in diesem Zusammenhang erneut ihre Forderung nach einem Waffenstillstand und "absoluter Bewegungsfreiheit" zur Durchführung der Impfkampagne. Zwei Bedingungen, deren Eintritt derzeit wenig wahrscheinlich erscheint.

Tödliche Razzien im besetzten Westjordanland

Auch im besetzten Westjordanland spitzt sich die Situation weiter zu. In der Stadt Tulkarm wurden am Samstag neun Palästinenser bei israelischen Luftangriffen getötet. Laut Berichten der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa blockierten israelische Streitkräfte (IDF) den Zugang von Krankenwagen zum Angriffsort.

Die IDF gaben bekannt, dass sie gegenwärtig eine "Anti-Terror-Aktion" in der Region Tulkarem durchführen.

Seit den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober sind mindestens 603 Palästinenser bei israelischen Razzien getötet worden. Mehr als 10.000 wurden laut einem jüngsten UN-Bericht verhaftet, in den meisten Fällen ohne Anklage und Gerichtsprozess.

In dem Bericht ist des weiteren von "käfigartigen" Einrichtungen und Folter die Rede (Telepolis berichtete). Auch die systematische Zerstörung palästinensischer Dörfer nimmt weiter zu. "Dies ist ein Krieg gegen alle Palästinenser", sagte ein Anwohner gegenüber Medienvertretern.

Schlüssel zur Deeskalation

Angesichts dieser Lage wirkt es mehr als paradox, wenn Bundesaußenministerin Annalena Barbock am Wochenende "insbesondere Iran" zur "maximalen Zurückhaltung" aufruft, um einen Flächenbrand zu vermeiden. Hatten doch Hisbollah und andere Akteure mehrfach unterstrichen, dass ein Waffenstillstand in Gaza maßgeblichen Einfluss auf ihre Aktionen haben würde – auch was die Möglichkeit zur Freilassung israelischer Geiseln betrifft.

Netanyahu könnte mit einem solchen Schritt ein echtes Signal der Entspannung senden, und damit auch Schaden von der eigenen Zivilbevölkerung abwenden. Tatsächlich deutet jedoch vieles darauf hin, dass seine Regierung eher das Gegenteil im Sinn hat: ein radikales "aufräumen" mit den "Feinden Israels" in der Region, koste es was es wolle.

Die Lösung der Palästina-Frage zugunsten eines möglichen "Groß-Israels" scheint nämlich in greifbarer Nähe – auch, weil Netanyahu genau weiß, dass die Unterstützung der USA und anderer Verbündeter bedingungslos ist.

Der drohende Showdown zwischen Israel, Iran und Hisbollah könnte vielleicht noch vermieden werden. Der Schlüssel dazu liegt in Tel Aviv und Washington.