Gefährliche Pflege
Der Fall des Krankenpflegers Niels Högel: Über einen Eisberg und seine Spitze
Als der Krankenpfleger Niels Högel 2006 zu fünf Jahren Haft und einem fünfjährigen Berufsverbot verurteilt wurde, weil er am 22. Juni 2005 mit voller Absicht die Spritzenpumpe eines Patienten manipuliert und ohne medizinischen Grund ein potenziell tödliches Herzmedikament verabreicht hatte, war das schockierend, aber nicht völlig einmalig.
Fälle von Krankenpflegern und Krankenschwestern, die ihren Patienten bewusst schaden, oder sie sogar serienweise töten, kommen öfter vor, als man sich das wünschen würde; Högel war da kein singulärer Einzelfall und eher ein kleiner Fisch. Anscheinend. Sowohl Högel selbst als auch eine Nebenklägerin legten Revision ein, und der BGH hob das Urteil tatsächlich auf.
Der Fall weitet sich aus
Daraufhin wurde der Krankenpfleger im Jahr 2008 erneut in derselben Sache verurteilt, diesmal wegen Mordversuchs zu sieben Jahren Haft und lebenslangem Berufsverbot. Die Polizei interessierte sich aber schon seit 2005 für andere Todesfälle, die während der Tätigkeit von Högel an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst aufgetreten waren. Dennoch wurde Högel erst am 28. Februar 2015 wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Fortführung der Ermittlungen danach ließ die Fallzahlen erst so richtig explodieren. Nach mehr als hundert Exhumierungen in drei Ländern (Deutschland, Türkei, Polen) und toxikologischen Analysen ließen die Behörden Anfang November 2017 wissen, dass man mittlerweile von 106 Toten ausgehe [1], mindestens.
Es ist anzunehmen, dass das nur eine vorläufige Zahl ist; die wirkliche wird man nie genau erfahren, weil viele der möglichen Opfer feuerbestattet wurden. Niels Högel selbst soll Mithäftlingen gesagt haben, dass er bei "50 aufgehört habe zu zählen" [2]. Er soll sich im Gefängnis auch als "der größte Serienmörder der Nachkriegsgeschichte" bezeichnet haben.
Bizarre Vorgänge
Nur ein paar der bizarrsten Vorgänge, die den Fallkomplex Högel begleiten:
- Högel beging seinen letzten Mord am 24.6.2005, also zwei Tage nach der Tat vom 22.6.2005, für die er 2006 zunächst wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde. Die Klinikleitung hatte bei dem knapp davongekommenen Opfer vom 22.6. zwar einen Bluttest veranlasst, aber am 23. und 24.6. versah Högel ohne Einschränkungen seinen Dienst. Als das Ergebnis des besagten Bluttests, das ihn belastete, am 24.6. eintraf, verständigten sich die Verantwortlichen der Klinik darauf, Högel seinen Spätdienst normal abschließen zu lassen, weil er ohnehin "danach Urlaub gehabt hätte". Ein normaler Spätdienst für diesen speziellen Krankenpfleger bedeutete, dass er noch eine weitere Patientin ermorden konnte. Das Video von der Pressekonferenz am 28.8.2017, in der die Polizei solche Dinge zu Protokoll gab, ist durchaus sehenswert [3].
- Högel vergiftete und reanimierte manche seiner Opfer mehrfach.
- Er griff teilweise selbst zum Telefon, um den Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen.
- Im April 2015, also nach der Verurteilung Högels vom selben Jahr, klagte die Staatsanwaltschaft Osnabrück einen ehemaligen Oldenburger Oberstaatsanwalt im Zusammenhang mit dem Fallkomplex Högel an. Er habe sich der Strafvereitelung und der Rechtsbeugung schuldig gemacht, weil er trotz eindeutiger Hinweise Ermittlungen verschleppt und keine Anklage erhoben habe [4]. Das Landgericht ließ die Anklage nicht zu. Die Osnabrücker Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein, die vom Oberlandesgericht Oldenburg schließlich zurückgewiesen wurde [5].
Ein Krankenpfleger, der möglicherweise der schlimmste Serienmörder der deutschen Rechtsgeschichte ist (von NS-Verfahren abgesehen); das Verhalten, oder besser Nichtverhalten seiner Vorgesetzten und Kollegen; juristische Querelen, die auf dem begründeten Verdacht beruhen, dass Rechtsbeugung und Strafvereitelung in massivem Ausmaß vorgekommen sind: Das müsste eigentlich eine der größten Stories des Jahres in Deutschland sein. Ist es aber nicht.
YouTube verzeichnet für das oben erwähnte Video bisher nur 3318 Aufrufe (Stand 25.11.17). Merkwürdig. Sollte sich die Öffentlichkeit dieser Sache nicht annehmen? Das legt doch schon allein die Zahl der Opfer nahe. Und Antworten zu der Frage, wie es so weit kommen konnte, gibt es ja eigentlich auch. Man tappt da nicht völlig im Dunkeln.
Unterfinanzierung: Der Notstand als Norm
Wer sich irgendwann in den letzten zwei Jahrzehnten mit Krankenpflegern und Krankenschwestern unterhalten hat, hat zu ihrer Arbeitssituation immer das Gleiche zu hören bekommen: Eine notorische Unterfinanzierung der Pflege hat den Notstand zur Norm hat werden lassen.
Sparmaßnahmen und Ökonomisierung, Unterbesetzung auf den Stationen, enormer Arbeitsdruck, Überlastung des Personals mit überflüssigen Dokumentationstätigkeiten und Bürokratie, die zunehmende Inanspruchnahme von Ungelernten, "Bufdis" (früher "Zivis"), FSJlern; Unterbezahlung und mangelnde Anerkennung durch die Gesellschaft und Vorgesetzte - all das hat ein Klima von Überforderung, Vernachlässigung, Fahrlässigkeit und Atemlosigkeit geschaffen, in dem Leute wie Niels Högel viel zu lange tun und lassen können, was sie wollen.
In dem Medienbeitrag [6] "Die Todespfleger" (report München) vom September 2014 bestätigt ein anonymer Täter, der zehn Menschen auf dem Gewissen hat und dafür zehn Jahre lang im Gefängnis war, dass es ihm dieses Klima leicht gemacht hat, seine Taten zu begehen. Auf die Frage der Interviewerin, ob man das Krankenhaus als perfekten Tatort sehen könne, antwortet der Täter: "Wenn Sie das so sehen, ja."
Ein Berufsverbot wurde ihm übrigens nicht ausgesprochen, und im Video heißt es, er wolle sich wieder als Krankenpfleger bewerben. In dem gleichen Film dokumentiert ein Prof. Dr. Michael Birkholz vom Institut für Rechtsmedizin Bremen die katastrophale Qualität der Leichenschau in deutschen Krankenhäusern.
Todesfälle durch Ertrinken, schwere Schädel-Hirn-Traumata und anderes würden regelmäßig "als natürlicher Tod eingestuft". Dazu könne man eigentlich gar nichts mehr sagen; die Qualität dieser Dienstleistung sei schlicht und einfach schlecht.
Warnzeichen
Aber das ist natürlich noch nicht alles. Denn wenn man sich den Ort, an dem diese Verbrechen geschehen, als schalltote Kammer vorstellt, dann hat die Kammer doch Zuschauerränge und Gucklöcher. Die Personaldecke ist dünn und zerschlissen, aber die Täter und Täterinnen arbeiten nicht in einem totalen Vakuum. Wie andere Untersuchungen zu Mördern in der Pflege zeigen, gab es bei fast allen Warnzeichen.
So fielen sie nicht nur durch rüde Sprache gegenüber Patienten und Kollegen auf. Viele der Täter und Täterinnen wurden bald nach Beginn ihrer Karriere von ihren Kolleginnen und Kollegen mit Spitznamen wie "Vollstrecker" und "Todesengel" belegt. Bei Högel war das auch der Fall, er wurde "Brutaler Rettungs-Rambo" genannt.
Manche seiner Kolleginnen hatten bald ein "komisches Gefühl", und sie teilten es auch der Stationsleitung mit. Es passierte genau: nichts. In Oldenburg, wo Högel mindestens 35 Menschen ermordet hat, wurde sogar klinikintern eine Statistik über die Auffälligkeiten in Zusammenhang mit der Tätigkeit Högels geführt [7]. Aber statt diese Statistik der Polizei zu übergeben, wurde Högel, als er endgültig untragbar geworden war, mit einem guten Zeugnis weggelobt.
"Systemversagen"
Nur deswegen konnte er nach Delmenhorst wechseln, und seine Mordserie ungehindert fortführen. Selbst nach seiner Verurteilung vom Jahr 2008 arbeitete er noch eine Weile als Altenpfleger im Pauline-Ahlsdorff-Haus in Wilhelmshaven; erst im Mai 2009 musste er seine Haftstrafe antreten, weil das Urteil rechtskräftig geworden war.
Es ist zwar folgerichtig, dass derzeit eine Anklage gegen verschiedene ehemalige Vorgesetzte und Mitarbeiter von Högel im Raum steht [8], aber erstens kommt das viel zu spät, und zweitens haben ja noch viel mehr Leute in die schalltote Kammer hineingesehen, in der Högel seine Taten beging.
Deshalb ist es richtig, wenn Daniel Müller in seinem Zeit-Dossier [9] von 2015 schreibt:
Der Fall Niels H. ist deshalb nicht nur die Geschichte eines Menschen, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwang. Er ist auch die Geschichte eines unfassbaren Skandals: Sie handelt vom Totalversagen zweier Krankenhäuser und von einer unvorstellbaren Trägheit der Strafverfolgungsbehörden
Daniel Müller, Die Zeit
"Systemversagen" ist wohl der korrektere Begriff. Denn die Tatsachen, dass Mordserien wie die von Högel immer wieder vorkommen, dass sich in den Krankenhäusern seit Jahrzehnten nichts ändert, [10]sowie die extreme Nachlässigkeit der Behörden nicht nur in diesem Fall lassen eher darauf schließen, dass gar kein Interesse daran besteht, Kranke und Alte vor Misshandlung und, im Extremfall, Mord zu schützen.
Der wahre Eisberg, dessen Spitze Högels Verhalten ist, ist die ganze deutsche Gesellschaft. Wenn man sich die Fallzahlen anschaut, könnte man sogar von einer Art der informellen Euthanasie durch Unterlassen sprechen. Und das ist dann das Traurigste an dieser Geschichte.
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/oldenburg-delmenhorst-krankenpfleger-niels-hoegel-soll-106-menschen-getoetet-haben-a-1177165.html
[2] http://live.nwzonline.de/Article/874900-Krankenhaus-Morde-Warum-stoppte-niemand-Niels-H
[3] https://www.youtube.com/watch?v=Vs1rC1YGeqo
[4] https://web.archive.org/web/20150420193123/http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Ex-Oberstaatsanwalt-im-Fall-Niels-H-angeklagt,krankenpfleger440.html
[5] https://www.nwzonline.de/politik/niedersachsen/kein-prozess-gegen-ehemaligen-hoegel-ermittler_a_6,0,985114383.html
[6] https://www.youtube.com/watch?v=8q_3uMbWNwY
[7] https://www.nwzonline.de/oldenburg/blaulicht/oldenburg-bilanz-der-soko-kardio-mindestens-84-weitere-opfer-durch-serienmoerder-hoegel_a_32,0,2944485873.html
[8] https://www.noz.de/lokales-dk/delmenhorst/artikel/953236/entscheidung-ueber-anklagen-gegen-delmenhorster-klinikpersonal-erst-im-oktober
[9] http://www.zeit.de/2015/08/krankenpfleger-oldenburg-mordprozess
[10] https://www.youtube.com/watch?v=F7Xmnq21lMY
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