Gefangen in der eigenen Haut

Wie Pervasive Computing den menschlichen Alltag revolutionieren will

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Microsoft hat sich ein Verfahren patentieren lassen, wie man Geräte miteinander vernetzen kann, die an den menschlichen Körper angeschlossen sind. Das klingt revolutionärer, als es ist. Unter der Überschrift "Pervasive Computing" werden Vernetzungskonzepte schon seit mindestens zehn Jahren diskutiert. Neu am Microsoft-Patent mit der Nummer 6,754,472 ist allerdings, dass der menschliche Körper als leitendes Medium genutzt werden soll, um Energie und Daten an Geräte zu übertragen, die wie PDAs, Handys oder medizinische Überwachungsgeräte direkt am menschlichen Körper getragen werden. Ein Bedarf für eine solche Technik ist vorhanden. Die Baby-Boomer der 1950er Jahre könnten dafür sorgen, dass sich das neuerliche Microsoft-Patent für den Konzern aus Redmond zu einer veritablen Goldgrube entwickelt.

Das Altenheim der Zukunft steht in Milwaukie, Oregon

Die Bewohner des Altenheims sind vernetzt. Jeder trägt dort eine RFID-Respondereinheit, die dafür sorgt, dass das Personal stets weiß, wo Oma oder Opa gerade sind. Die freuen sich natürlich. Spaziergänge mit Bewachung machen keinen Spaß. Wenn unterwegs etwas passiert, gibt's gleich Alarm und das Personal kann helfen. Damit nicht genug. Über ein Familienportal können sich auch Familienmitglieder per Passwort in das Überwachungssystem einloggen, um zu schauen, was Oma oder Opa gerade treiben.

Die privaten Wohneinheiten sind ebenfalls vernetzt. Bewegungsmelder registrieren, wer wann welchen Raum betritt. Licht wird automatisch eingeschaltet, und in die Betten wurden Sensoren integriert, die das Gewicht der Schläfer messen. Verliert er längerfristig an Gewicht, schlägt das System Alarm.

180 Gigabyte an Daten sammelt der Zentralcomputer im Keller des Oatfield Estates in einem halben Jahr, erklärt Systemadministrator Bill Pascoe und weist ganz nebenbei auf einen weiteren "Vorteil" des von ihm kreierten Überwachungs- und Kontrollsystems hin. Wer die Heimbewohner auf Schritt und Tritt beobachtet, kontrolliert natürlich auch die Angestellten. Jede Pinkelpause wird gespeichert.

Die Baby-Boomer kommen in die Jahre

Überwachungssysteme, in die medizinische Geräte zur Fernüberwachung integriert sind, erweisen sich als das Geschäft der Zukunft. Die Zahl der Amerikaner, die älter als 65 sind, wird sich in den nächsten 25 Jahren verdoppeln. Die Baby-Boomer kommen in die Jahre und strömen in die Altenheime.

"Im letzten Jahr haben wir mehr als 1,4 Billionen Dollar für das Gesundheitssystem ausgegeben", rechnet Roger Landry, Fachmann für Altenpflege, vor. 36 Prozent dieser Ausgaben betrafen Menschen über 65, obwohl diese Altersgruppe nur dreizehn Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung stellt. Von Personaleinsparungen in vernetzten Altenheimen hält Landry deshalb viel.

Familie Steiner testet schönes neues Wohnen

Das vernetzte Haus der Zukunft steht in Hünenberg im Schweizer Kanton Zug. Hier wohnt Familie Steiner und testet schönes neues Wohnen. Einen Haustürschlüssel gibt es nicht. Steiners identifizieren sich per Fingerabdruck am Türöffner. Alle technischen Geräte sind miteinander vernetzt und von einer Konsole im Keller, per Fernbedienung und per Handy steuerbar. Es gibt einen programmierbaren Kühl-Backofen, der die Fastfood-Pizza anfangs kühlt und sie erst auftaut, wenn sie gebacken werden soll. Lebensmittel bestellt der Kühlschrank übers Internet. Geliefert wird über eine Kühlbox, die an der Außenwand des Hauses angebracht und per Code zu öffnen ist. Jalousien werden je nach Sonnenstand automatisch heruntergelassen, Fenster bei Regen wie von Geisterhand geschlossen.

Rund zwei Millionen Euro hat das vernetzte Smart Home gekostet. Finanziert wurde das unter dem Namen "FuturElive" firmierende Projekt von Otto Beisheim, Gründer der Metro-Handelskette. Über sechzig Unternehmen sind daran beteiligt, darunter als Hauptpartner das US-amerikanische IT-Unternehmen Cisco. Die Industrie hat das "schlaue Haus" als profitablen Zukunftsmarkt entdeckt - und jeder möchte mitverdienen, wenn Heizung, Fernseher, Toaster oder Kühlschrank zu einem großen Netz zusammenwachsen.

Um die technischen Standards wird derzeit noch gerungen. So kämpfen beispielsweise die Hersteller einer ganzen Reihe von Bussystemen um die Vormachtstellung. Auch bei der Datenübertragung ist noch ungewiss, welche drahtgebundenen (Ethernet, FireWire, USB u. a.) oder drahtlosen Techniken (DECT, Bluetooth, Wireless Lan etc.) das Rennen machen werden.

Der Alltag wird vernetzt

Für die Protagonisten des "Pervasive Computing" (PvC) sind solche Fragen Kleinkram. Sie leben ihre Visionen von der allgegenwärtigen Durchdringung der Alltagswelt mit vernetzten, "smarten" Gegenständen gern auf einer höheren Ebene aus. Zuletzt trafen sie sich zum visionären Stelldichein auf der Pervasive 2004, einer hochrangig mit Forschern, Wissenschaftlern und IT-Experten besetzten Konferenz, die Mitte April dieses Jahres in Wien über die Bühne ging .

Der Stammvater der PvC-Bewegung heißt Mark Weiser, ehemaliger Chef des Xerox-Parc-Forschungszentrums in Palo Alto, Kalifornien. Der inzwischen verstorbene Chefdenker der PvC-Bewegung sagte bereits vor zehn Jahren voraus, dass herkömmliche Großrechner und Heim-PCs allmählich verschwinden und durch Kleinstrechner in den unterschiedlichsten Alltagsgeräten ersetzt würden (Schnittstelle zum Unterbewußtsein). Die "barocke" Informationstechnologie werde durch eine Entwicklung abgelöst, die er "Ubiquitous Computing", die allgegenwärtige Datenverarbeitung, nannte. Diese würde sich "in das Geflecht des Alltags", in die Gegenstände und Geräte des alltäglichen Gebrauchs einweben, bis sie von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sei.

"Die Ablöse des Allzweckcomputers steht vor der Tür"

Davon ist auch Alois Ferscha, Leiter des Instituts für Pervasive Computing der Uni Linz und Ausrichter des Wiener PvC-Kongresses, fest überzeugt. An die Stelle von universell einsetzbaren Rechnern würden vermehrt aufgabenspezifische, miniaturisierte und in die Infrastruktur eingebettete Computer treten. Bildschirme und Tastaturen verschwinden. Stattdessen nehmen versteckte Mini-Sensoren die Umgebung wahr.

Ferschas Visionen verharren nicht bei der Vernetzung. Ferscha will, dass die verschiedenen Geräte nicht mehr nur auf die Befehle ihrer Nutzer reagieren. Sie sollen vielmehr "lernen", die Absichten des Nutzers zu erkennen und "proaktiv" zu handeln. Im Übrigen sei es naiv, im Zusammenhang mit PvC immer nur an "mitdenkende" Kühlschränke oder "Smart Labels" in Kaufhäusern zu denken. Es gehe vielmehr um neue "smarte" Geräte, um "embedded systems", um Dinge, die "denken" können. Smart Labels, die als Diebstahlsicherungen in Kaufhäusern dienen, sind nur die erste primitive Form solcher Gerätschaften. Die kennen nämlich nur eine einzige Reaktion: Ware nicht bezahlt = Alarm auslösen. "Schlauere Geräte" könnten demgegenüber komplizierte Prozesse abarbeiten, wie jener "kluge" Bewegungsmelder, der zuverlässig einen Menschen von einem Haustier unterscheiden kann.

Die Industrie hat Blut geleckt

Das Microsoft-Patent passt gut in diese schöne neue Alltagswelt. Es fasst die bisherigen Vernetzungsansätze zusammen und nutzt die menschliche Haut als Übertragungsmedium. Mobile Geräte, die wie Uhren, PDAs, Lautsprecher, MP3-Player oder Handys am menschlichen Körper getragen werden, könnten auf diese Weise effektiv miteinander vernetzt und aus einer einzigen Stromquelle, die am Körper getragen wird, gespeist werden.

Nicht nur Microsoft, auch andere Konzerne haben Blut geleckt. PvC hat in den Forschungsabteilungen zahlreicher Institute und Großkonzerne längst zu einem Paradigmenwechsel geführt. Konzerne wie Hewlett Packard, Rank Xerox und IBM arbeiten mit Hochdruck an miniaturisierten, schlauen Mikrochips in Jacken, Brillen, Haushaltsgeräten, Möbeln und als Implantate im menschlichen Körper selbst. Diese Kleinstgeräte können ihre Umgebung wahrnehmen und miteinander kommunizieren. Sie sollen den vernetzten Menschen auf Schritt und Tritt begleiten. Die zweite Haut des Menschen soll aus vernetzten Mikrochips bestehen.

Kratzer auf dem Lack

Auf dem Wiener "Pervasive 2004"-Kongress blieben die Protagonisten der schönen neuen Netzwelt unter sich. Kritiker wie der Schweizer Wissenschaftler Lorenz Hilty vom eidgenössischen Zentrum für Technologiefolgenabschätzung, die dem visionären Lack ein paar reale Kratzer zufügen könnten, blieben draußen vor der Tür. Kein Wunder, denn Hiltys Fragen nach den Risiken und Nebenwirkungen der vernetzten Alltagswelt sind unbequem und passen nicht in die Vision - seine Antworten erst recht nicht (Die allumfassende Computerisierung und Vernetzung der Lebenswelt).

Mehr Stress durch Zeiteinsparung

Informations- und Kommunikationstechnologien werden häufig in der Absicht eingesetzt, Vorgänge zu beschleunigen, um Zeit einzusparen. Alle bisherigen Erfahrungen mit Zeit sparender Technologie hätten Hilty zufolge gezeigt, dass die Belastung des Menschen trotzdem nicht zurückgehe. Im Gegenteil könne die Belastung sogar zunehmen. Es trete ein so genannter Rebound-Effekt auf. Schnellere Verkehrsmittel hätten beispielsweise nicht dazu geführt, dass wir durchschnittlich weniger Zeit im Verkehr verbringen. Stattdessen haben die zurückgelegten Entfernungen zugenommen. Darüber hinaus könne PvC selbst Stress auslösen, etwa durch das Gefühl, ständig überwacht zu werden, oder durch Fehler im System.

Chancen für PvC sehen die Schweizer Forscher vor allem im Bereich der medizinischen Prävention, Behandlung und Pflege. Die Lebensqualität von chronisch Kranken sowie von Rehabilitations- und Risikopatienten lasse sich verbessern. Deren Abhängigkeit von stationären Einrichtungen werde durch neue Möglichkeiten zur medizinischen Fernüberwachung abnehmen. Doch auch hier hebt Hilty warnend seinen Zeigefinger. PvC könnte den unkritischen Verfechtern einer unmenschlichen Apparatemedizin neuen Aufschwung geben.