Gefangene des Betons: Warum Grünflächen Leben retten können
Natur in Städten der Zukunft: Grünflächen und Bäume verbessern die Gesundheit und reduzieren Kriminalität. Wie können wir diese Erkenntnisse nutzen?
Tiere, die ihres natürlichen Lebensraums beraubt sind und ihr Dasein in einem Zoo fristen müssen, haben oftmals eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. Diese Erkenntnis ist Grundlage für Zoos und Tierparks, um ihr Möglichstes zu tun, den Schaden für das Tier durch eine möglichst optimale Nachgestaltung des natürlichen Lebensumfeldes in Grenzen zu halten. Besonders überraschend ist die Auswirkung des Lebensumfeldes auf die Gesundheit der Tiere vermutlich nicht.
Was jedoch überrascht, ist die Tatsache, wie selten die Parallele zum Menschen und seiner natürlichen Umwelt gezogen wird. Soll der Mensch das einzige Lebewesen sein, das man in eine Umgebung pflanzen kann, die kaum oder gar nichts mehr mit seiner natürlichen Umwelt zu tun hat, sondern oftmals nur aus mehr oder minder ausgedehnten Betonwüsten besteht?
Ein Blick aus dem Fenster
In den 1970er-Jahren fand in einem staatlichen Gefängnis von Süd-Michigan ein nicht wirklich geplantes Experiment statt. Aufgrund der Bauweise des Gebäudes blickte die Hälfte der Häftlinge auf Bäume und einen Acker, während die andere Hälfte jeden Tag nur einzig und allein auf eine kalte und kahle Ziegelwand schauen konnte.
Der Architekt Ernest Moore untersuchte die Krankenakten beider Gruppen, die sich außer ihrer Aussicht aus dem Fenster durch nichts unterschieden. Er entdeckte Erstaunliches: die Wahrscheinlichkeit, körperlich oder geistig krank zu werden, war in der Gruppe, die ihren Blick in die Natur schweifen lassen konnte, um fast ein Viertel geringer.
Nicht nur im Gefängnis, auch im Krankenhaus macht Natur einen wichtigen und heilsamen Unterschied, wie wir heute wissen. Patienten, die in einem Zimmer mit Blick auf Bäume und Grünflächen untergebracht sind, benötigen weniger Schmerzmittel und erholen sich schneller, als Patienten, die mit einem Blick auf eine Betonwand vorliebnehmen müssen.
Menschen, die sich während einer Studie im Krankenhaus einer schmerzhaften Untersuchung unterziehen müssen, leiden in Zimmern mit Pflanzen weniger und verspüren auch weniger Angst und Müdigkeit. Ihr Blutdruck ist ebenfalls niedriger.
Sogar nur Naturbilder, die im Krankenzimmer aufgehängt sind, machen einen Unterschied. Die Patienten erholten sich schneller von ihrer Operation, wenn sie Landschaftsbilder sehen konnten, als wenn abstrakte Kunst an den Wänden hängt.
Ein nicht verschreibungspflichtiges Heilmittel
Nicht weniger als 143 Studien belegen in einer Meta-Studie die medizinischen Erfolge von Grünflächen und Bäumen, von denen die meisten Medikamente nur träumen können.
Die Meta-Analyse ergibt eine statistisch signifikante Senkung des diastolischen Blutdrucks, des Speichelcortisols und der Herzfrequenz sowie eine statistisch signifikante Verringerung der Inzidenz von Diabetes, der Gesamtmortalität und der kardiovaskulären Mortalität.
Ganz besonders beeindruckend und auf den Punkt: An einem Ort zu leben, an dem es nur ein Prozent mehr Grünflächen gibt, verbessert unsere Gesundheit sogar so nachhaltig, als ob wir ein ganzes Jahr jünger wären.
Hilft es also, wenn man in eine grünere Gegend umzieht? Eine Langzeitstudie belegt genau dies.
Der Medizinwissenschaftler Howard Frumkin gibt gegenüber dem Wissenschaftsjournalisten Johann Hari zu bedenken:
Wenn wir ein Medikament hätten, für das die vorläufigen Ergebnisse eine solche Wirksamkeit zeigen würden, würden wir uns mit der Erforschung dieses Medikaments beschäftigen ... Hier ist eine Behandlung, die nur wenige Nebenwirkungen hat, nicht teuer ist, keine ausgebildeten oder lizenzierten Fachleute erfordert, um sie zu verschreiben, und bisher ziemlich gute Beweise für die Wirksamkeit hat.
Howard Frumkin
Das grundlegende Problem jedoch: es gibt kaum Fördergelder für diese Forschung, weil aus sehr leicht verständlichen Gründen die Pharmaindustrie nur ein sehr bedingtes Interesse an wissenschaftlich soliden Erkenntnisse über etwas hat, dass man nicht verkaufen und mit dem man daher auch kein Gewinn erwirtschaften kann.
"Man kann den Kontakt mit der Natur nicht vermarkten", wie Frumkin zu bedenken gibt.
Beruhigung
Ein entscheidender Grund für die Wirkkraft der Natur auf die menschliche Gesundheit: Der Kontakt mit der Natur reduziert Stress.
Ein Experiment kann diesen Zusammenhang anschaulich belegen. Wenn Menschen an einer verwahrlosten Gegend vorübergehen, auch wenn diese ihnen vertraut ist, erhöht sich ihr Puls im Schnitt um 9,5 Schläge.
Wenn dieselben Probanden jedoch auf Grünflächen spazieren, beruhigt sich ihr Puls. Die Studienleiterin Eugenia South bemerkt: "Die Verringerung der Herzfrequenz deutet auf einen biologischen Zusammenhang zwischen der Begrünung von Brachflächen und der Verringerung von akutem Stress hin."
Im Durchschnitt können verarmte Stadtteile bekanntermaßen weit weniger ökologische Annehmlichkeiten aufweisen als wohlhabendere. Die Auswirkungen sind massiv. Die Sterblichkeitsdaten bestätigen, dass diese Benachteiligung einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit hat, selbst wenn man das Alter, das Geschlecht und den sozioökonomischen Status eines Bezirks berücksichtigt.
Der kausale Zusammenhang ist eindeutig: Je größer die physische Umweltbenachteiligung, desto schlechter ist die Gesundheit der dort lebenden Menschen. Die Abwesenheit von Natur führt daher nicht nur in armen, sondern auch in reichen Gegenden zu gesundheitlichen Schäden.
Balsam für die Seele
Während der Corona-Jahre kam es zu einem nicht intendierten Experiment. In einer japanischen Studie zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, vom Fenster der Wohnung aus auf natürliches Grün zu blicken, und der psychischen Gesundheit.
Im Jahr 2020 entdeckte eine Studie, dass in Leipzig die Verschreibung von Antidepressiva in Abhängigkeit vom Baumbestand im Wohnbereich der betroffenen Menschen stand. Je grüner der Ort, desto seltener die Verschreibung.
Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam bereits vor den Corona-Jahren eine Studie aus den USA. Und Menschen, die aus grünen Gegenden an weniger grüne Orte umziehen, leiden – nicht überraschend - öfter unter Depressionen.
Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2010 bestätigt die Bedeutung von Grünflächen. Danach haben Menschen, die in der Stadt leben, eine 20 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit an Angststörungen und fast 40 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit an affektiven Störungen zu erkranken (im Vergleich zu Menschen, die auf dem Land leben).
Der grundlegende Hintergrund: Das Naturerleben steigert das Wohlbefinden, wie eine andere Meta-Analyse ergab.
Besonders beeindruckend, aber im Zusammenhang dann kaum mehr erstaunlich, das Ergebnis einer Langzeitstudie: Ins Grüne zu ziehen macht Menschen für die nächsten drei Jahre glücklicher.
Wünschenswerte Nebenwirkungen
Kontakt mit der Natur hat auch noch weitere wichtige positive Folgen für das menschliche Zusammenleben. In der Natur zu sein und sie bewusst auf sich wirken zu lassen, macht Menschen sozial verträglicher, empathischer und großzügiger.
Mehr Grünflächen in der Stadt anzulegen und Bäume zu pflanzen, senkt sogar die Kriminalität (und sollte allein aus diesem Grunde die Investition in Verbrechensbekämpfung wert sein). Je grüner die unmittelbare Umgebung eines Gebäudes ist, desto niedriger ist die Kriminalitätsrate.
Dies gilt sowohl für Gewalt- als auch für Eigentumsdelikte. Ein möglicher Hintergrund: Grünflächen und Bäume senken auch Aggression und mentale Erschöpfung. Menschen, die mehr Natur erleben, können sich aber auch besser konzentrieren.
Last but not least: Eine Reihe von Forschungsarbeiten legen nahe, dass der Kontakt mit der Natur eine sehr positive Auswirkung auf die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes hat.
Allerdings haben Kinder in den letzten Jahrzehnten dramatisch weniger Zeit in der Natur verbracht. Oder mit den Worten von Richard Louv , der in seinem Buch "Das letzte Kind im Wald" von einer "Natur-Defizit-Störung" spricht.
Pflanzt mehr Bäume
Selten gibt es Lösungsvorschläge, deren eindeutige Vorteile wissenschaftlich so fundiert sind, die keine Nebenwirkungen haben und deren Kosten sich in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Bewusst und gezielt Bäumen zu pflanzen und Grünflächen anzulegen, ist ohne jeden Zweifel für das Klima als CO2-Speicher eine sinnvolle Investition.
Ebenso ein leicht nachvollziehbarer Vorteil, als natürliches Hilfsmittel die Temperaturen in der Stadt gerade im Sommer erträglicher zu machen. Zudem sind Bäume und Grünflächen aber auch im Hinblick auf körperliche und seelische Gesundheit von erstaunlich großer Wirkung und nicht zuletzt für das menschliche Zusammenleben eine wunderbare und leicht unterschätzte Hilfe.
Daher kann man sich den politischen Empfehlungen der American Public Health Association nur anschließen: Es braucht mehr Grünflächen, mehr Bäume, mehr Natur gerade in der Stadt.
Wo dies irgend möglich ist, sollten Orte mehr begrünt werden und grundsätzlich die neuen Erkenntnisse über die fundamentale und lebenswichtige Bedeutung der Natur für die menschliche Gesundheit und eine gesunde Gesellschaft berücksichtigt werden.
Literatur:
Johann Hari: Lost Connections
Eric Klinenberg: Palaces for the People
Richard Layard: Wellbeing
Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe
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