Geheimbericht aus Israel: Behörden ignorierten Warnungen vor Hamas-Angriff

Zivilisten in Israel suchen unter Brücke Schutz vor Raketen aus Gaza. Bild: Vcohen, CC BY-SA 4.0

New York Times sah Dokument ein. Bericht hatte zu heftigen Kontroversen geführt – und einer verheerenden Fehleinschätzung. Wie reagiert die Netanyahu-Führung?

Nach dem Massaker islamistischer Milizen in Israel am 7. Oktober waren rasch Zweifel an einem Überraschungscoup der bewaffneten Gruppen unter Führung der Hamas aufgekommen. Auch in der israelischen Presse wurde hinterfragt, ob die eigenen Sicherheitsbehörden und die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu von dem Überfall aus dem Gazastreifen tatsächlich überrascht worden sind. Diese Fragen dürften nach einer Recherche der US-Tageszeitung New York Times nun mit neuer Vehemenz gestellt werden.

Ein von der US-Redaktion eingesehener Bericht enthüllt, dass israelische Beamte bereits mehr als ein Jahr vor dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober von einem Angriffsplan wussten. Das etwa 40-seitige Dokument mit dem Codenamen "Jericho-Mauer" schilderte im Detail eine mögliche Attacke, wie sie am 7. Oktober dieses Jahres dann tatsächlich stattfand. Dabei starben etwa 1.200 Israelis, in der Mehrzahl Zivilisten.

Der Bericht besagt, dass israelische Militär- und Geheimdienstbeamte den Plan als zu ambitioniert und für die Hamas als zu schwierig abtaten. Dabei enthielt das Dokument spezifische Details über eine verheerende Invasion, darunter Raketenangriffe, Drohnenoperationen und koordinierte Angriffe auf israelische Städte sowie Militärstützpunkte.

Am 7. Oktober setzte die Hamas den Plan jedoch mit schockierender Präzision um. Raketenbeschuss, Drohnenoperationen und koordinierte Angriffe mit bewaffneten Einheiten fanden statt. Vor allem grenznahe Stützpunkte der Sicherheitskräfte wurden geradezu überrannt. Ein Grund dafür war offenbar auch, dass Einheiten zum Schutz der umstrittenen Siedlungen von der Grenze zu Gaza abgezogen worden waren.

Das von der New York Times eingesehene Dokument zirkulierte in verschiedenen Kreisen des israelischen Militärs und Geheimdienstes. Aber Experten und Beamte ignorierten die Warnungen und schätzten die Fähigkeiten der Hamas falsch ein.

Interner Mailverkehr bestätigt Vorwürfe gegen Netanyahu-Führung

Offizielle Stellen hätten inzwischen eingeräumt, dass Israel die Angriffe hätte abschwächen oder verhindern können, wenn die Warnungen ernst genommen worden wären, schreibt das US-Blatt:

Im Juli, nur drei Monate vor den Anschlägen, warnte eine erfahrene Analytikerin der Einheit 8200, der israelischen Fernmeldeaufklärung, dass die Hamas eine intensive, eintägige Übung durchgeführt habe, die dem skizzierten Plan zu ähneln schien. Doch ein Oberst in der Gaza-Division wies ihre Bedenken zurück, wie aus verschlüsselten E-Mails hervorgeht, die die Times einsehen konnte.

"Ich weise entschieden zurück, dass das Szenario imaginär ist", schrieb die Analystin in dem E-Mail-Verkehr. Die Hamas-Übung entspreche voll und ganz "dem Inhalt der Jericho-Mauer", so die Analystin. "Es ist ein Plan, der darauf abzielt, einen Krieg zu beginnen", fügte sie hinzu.

New York Times

Dennoch war das israelische Militär unvorbereitet, als die Islamisten aus dem Gazastreifen zum Angriff ansetzten. So wurde der 7. Oktober 2023 zum tödlichsten Tag in der Geschichte Israels.

Die Sicherheitsbehörden haben bereits zugegeben, dass sie versagt haben, das Land zu schützen, und es wird erwartet, dass eine Regierungskommission die Ereignisse untersucht.

Der Bericht der New York Times hebt mehrere Fehleinschätzungen hervor, die zu dem schlimmsten Versagen des israelischen Geheimdienstes seit dem Überraschungsangriff von 1973 führten.

Der Glaube, dass die Hamas nicht in der Lage sei anzugreifen, erwies sich als fatal falsch, und die Ignoranz gegenüber Warnungen führte zu schweren Konsequenzen.

Israels "11. September"

Experten vergleichen das Versagen des israelischen Geheimdienstes am 7. Oktober mit dem 11. September in den USA. Auch in diesem Fall seien zahlreiche Hinweise auf einen geplanten Angriff ignoriert worden.

Das Versagen des israelischen Geheimdienstes am 7. Oktober erinnert immer stärker an unseren 11. September", sagte Ted Singer, ein kürzlich pensionierter hoher CIA-Beamter, der viel im Nahen Osten gearbeitet hat. "Das Versagen wird eine Lücke in der Analyse sein, um der militärischen und politischen Führung ein überzeugendes Bild von den Angriffsabsichten der Hamas zu vermitteln.

New York Times

Der Bericht dürfte in Israel die Kritik an der Netanyahu-Regierung befeuern. Sie sei "die für das Fiasko vom 7. Oktober verantwortlich", schrieb die linksliberale Tageszeitung Haaretz, dennoch leugne sie ihre Verantwortung. "Dies zeigt sich in mehrfacher Hinsicht, in erster Linie in der Weigerung Netanjahus, zurückzutreten oder zumindest zu sagen, dass er zurücktreten möchte", heißt es einem Leitartikel.

Netanjahus Flucht vor der Verantwortung zeigt sich auch in seiner problematischen Haltung gegenüber der Forderung der Geiselfamilien für die Freilassung ihrer Angehörigen und in der langen Zeit, die er brauchte, um die Familien zu treffen.

Haaretz

Netanjahu geht auch den Familien der Ermordeten aus dem Weg – er ging nicht zu Beerdigungen und führte nur wenige Kondolenzanrufe durch. Am Mittwoch wurde zudem bekannt, dass die Polizei die Familien der Ermordeten jetzt noch härter behandelt. Einige dieser Familien halten sich seit drei Wochen in einem Protestcamp gegenüber der Knesset auf und fordern den Rücktritt der Regierung.

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