Gemeinsam sind wir ein virtueller Bismarck

Ende des G8-Projekts zur New Medicine, der Medizin im Informationszeitalter

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"Daten sammeln" heißt die Devise bei all den Politikern, Medizininformatikern und Ärzten, die die Medizin ins Informationszeitalter katapultieren wollen. Sammelobjekte der Begierde sind die Ergebnisse hunderter Projekte und Projektchen, die in ihrer Gesamtheit zeigen, dass sich die Qualität der medizinischen Versorgung durch Telemedizin tatsächlich deutlich verbessern lässt. Das ist die eine Seite. Doch die Wirklichkeit lässt sich nicht als Projekt gestalten. Geld, Gesetze und nicht zuletzt die Menschen widersetzen sich der Ausbreitung der Telematik in der Medizin. Vor allem deshalb, weil auch die Apostel der New Medicine eine zentrale Frage höchstens in Ansätzen beantworten können: Wo genau wollen wir eigentlich hin?

Weil der Übertritt ins Informationszeitalter für die Medizin einen Quantensprung bedeute, der in seiner Tragweite mit der Einführung der allgemeinen Sozialversicherungen durch Otto von Bismarck in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts vergleichbar sei, müsse jetzt endlich ein neuer Bismarck her, um diese Zeitenwende zu organisieren. Ein bezeichnendes Credo, aufgeschnappt am Rande der Abschlusskonferenz des "G8 - Global Healthcare Application Project" (GHAP) in Berlin. Die von ihren Aposteln demokratisch und patientenzentriert gedachte New Medicine verbindet sich in diesem Wunschtraum mit der Sehnsucht nach ihrer autoritären Durchsetzung. "Zusammen sind wir ein virtueller Bismarck", lautete schließlich die abgeschwächte Version des Credos, ein Zwischenruf im Auditorium, wie zugeschnitten auf eine technokratische Informationselite.

Zum Wohle der Patienten: bessere Diagnostik

Unter dem Dach des G8-Forums zur globalen Informationsgesellschaft (Abschlussbericht ) beschäftigte sich das GHAP immerhin fast fünf Jahre lang mit dem Einfluss, den die elektronische Datenverarbeitung und ihre zahlreichen Anwendungen auf den Alltag der Medizin in den Industrienationen haben könnten. Fünf Jahre, in denen auch ohne das GHAP viel passiert ist. Dennoch wurde das Forum von den meisten Teilnehmern als eine willkommene zusätzliche Möglichkeit zum internationalen Gedankenaustausch wahrgenommen und begrüßt. Es waren fünf Jahre, in denen Projekte in aller Welt gezeigt haben, dass die Diagnosesicherheit von Ärzten durch den Einsatz telemedizinischer Konsultationssysteme dramatisch erhöht werden kann, fünf Jahre, in denen es denkbar wurde, dass statt des Arztes computergesteuerte Algorithmen die (medikamentöse) Therapie entwerfen (sogenannte elektronische "Expertensysteme"), fünf Jahre, die die Idee einer elektronischen Therapieüberwachung mittels drahtlosen Überwachungsgeräten, seien es Handys, Gürtel oder T-Shirts, salonfähig machten.

Beispiele gibt es zu Hauf, und auf dem Berliner GHAP-Treffen wurden sie ausgetauscht wie Visitenkarten. So machten Ärzte des holländischen Krebs-Instituts die Beobachtung, dass die Zahl der Frauen, bei denen nach einer Brustkrebsoperation der Tumor erneut auftrat, in fünf Krankenhäusern im Raum Amsterdam erheblich voneinander abwich. Ein Jahr nach Einführung eines Telekonsultationssystems, bei dem regelmäßig Röntgenbilder der Brüste, sogenannte Mammographien, zwischen den Experten elektronisch ausgetauscht wurden, sank die Zahl der Zweittumoren in allen Krankenhäusern auf einen deutlich niedrigeren Level. Ähnlich segensreich für die Patienten kann dieses Einholen von Zweit- und Drittmeinungen in anderen primär optisch orientierten Fächern der Medizin sein. So machten Hautärzte im Raum Regensburg die Erfahrung, dass sich die Treffsicherheit bei der Diagnose der extrem bösartigen malignen Melanome um knapp zwanzig Prozent steigern ließ, wenn für Zweifelsfälle über Telekonsultationssysteme Kontakt mit der nahegelegenen Universitätsklinik aufgenommen werden konnte. Trockene Zahlen wie diese bedeuten in der Realität die Rettung vieler Menschenleben.

Telekonsultationssysteme können auch Operationen beschleunigen: An der Berliner Charité etwa wurden gerade drei quer über die Stadt verteilte Pathologie-Institute und zwei chirurgischen Operationssälen vernetzt. Der Pathologe, der während Tumoroperationen die sogenannte Schnellschnittdiagnostik durchführt - er betrachtet dabei das vom Chirurgen entnommene Gewebe unter einem Mikroskop und kann dann dem Operateur sagen, ob schon genug Gewebe entfernt wurde - kann sich jetzt in Zweifelsfällen über eine Online-Verbindung an einen Kollegen wenden. Dieser kann von seinem Schreibtisch aus das Mikroskop im Operationssaal bedienen und seine Einschätzung übermitteln. In den zwei Monaten seit Bestehen des Systems wurden so bisher über 400 Zweitmeinungen eingeholt. Als der zuständige Pathologe in Berlin-Buch kürzlich einmal zwei Wochen krank war, wurde die komplette Schnellschnittdiagnostik - immerhin 85 Präparate in 14 Tagen - vom zwanzig Kilometer entfernten Berlin-Mitte aus durchgeführt (ein Demonstrationsmikroskop zum Fernsteuern).

Zum Wohle der Patienten: bessere Therapie

Auch die Behandlung von Krankheiten lässt sich durch Telemedizin verbessern. Schon lange bemühen sich Fachgesellschaften, also Zusammenschlüsse von Experten bestimmter medizinischer Fachgebiete, zu möglichst vielen Krankheiten sogenannte Leitlinien (deutschsprachige zum Beispiel unter www.awmf-leitlinien.de) zu erstellen. Sie fassen für den in Klinik oder Praxis tätigen Arzt den aktuellen Stand der Behandlung einer bestimmten Krankheit zusammen. Im Idealfall sollte sich der Arzt daran halten, und so seinen Patienten mit der medizinisch-wissenschaftlich optimalsten Therapie versorgen.

Die Leitlinien sind ein Kind der evidenzbasierten Medizin (evidence-based medicine): Nur solche Therapien sind durchzuführen, die in großen (randomisierten und kontrollierten) klinischen Studien ihre Wirksamkeit bewiesen haben. Es ist allerdings ein offenes Geheimnis in der Medizin, dass die Existenz anerkannter Leitlinien noch lange nicht bedeutet, dass sie auch umgesetzt werden. Hier schlägt jetzt die Stunde der Telemedizin, denn weil Leitlinien meist Algorithmen sind, können sie automatisiert werden. Es resultiert ein sogenanntes Expertensystem, ein virtueller Experte für die jeweilige Krankheit, wenn man so will.

Der Lungenarzt Michael Peterson von der Universität Iowa in den USA hat solche Expertensysteme für die Behandlung verschiedener Lungenkrankheiten entworfen, unter anderem für das Asthma (für jeden benutzbar abgelegt im Virtual Hospital der Uni Iowa) und sie auf ihre Tauglichkeit getestet. Die Ergebnisse der allerdings kleinen Studie waren eindrucksvoll: Krankenschwestern, die unter Leitung des Expertensystem zunächst den Schweregrad eines Asthmaanfall einschätzten und dann die Therapie festlegten waren genauso erfolgreich wie voll ausgebildete Lungenärzte. Und Assistenzärzte, die das Computersystem nutzten, therapierten signifikant erfolgreicher, als ihre Kollegen, denen die entsprechenden Leitlinien nur auf Papier vorlagen.

Von Geld und von Menschen, oder: Der Schein trügt

Alles tele, sollte man also meinen. Doch die Realität ist kein Projekt, und der klinische Alltag keine kontrollierte Studie. So scheiterte beispielsweise das ehrgeizige "Unterprojekt 7" des GHAP "Evidence and Effectiveness", obwohl es funktionierte. Auf sogenannten stroke units - Stationen zur Akuttherapie von Schlaganfallpatienten - wurden computerbasierte Expertensysteme installiert, um die Ärzte durch die zahlreichen kleinen Therapieschritte, die auf solchen Stationen nötig sind, zu navigieren und so die Qualität der Behandlung zu verbessern.

Im Prinzip klappte das auch. Nur: Nicht einmal jeder vierte Arzt benutzte das (freiwillige) System. Erst als von den Projektleitern ein Köder ausgelegt wurde - die Kliniken bekamen für jeden Patienten, der elektronisch behandelt wurde, den doppelten Tagessatz - besserte sich die Quote. Kurz darauf kam dann das endgültige Aus: Finanziert wurde das Ganze nämlich von einem pharmazeutischen Unternehmen, das in dem Augenblick ausstieg, als sich herausstellte, dass ein von ihm hergestelltes Medikament nicht wirkte.

Zwei Dinge kann man aus dieser Geschichte lernen. Erstens: Wer ein auf Telemedizin basierendes Gesundheitssystem finanzieren soll, ist unklar. Industrielle Geldgeber kommen in großem Maßstab wohl nur in Einzelfällen in Frage, genauso Krankenhausbudgets, und zwar aus einem Grund, der in England und Amerika "missing reimbursement" genannt wird. Soll heißen: Das Geld, das durch den Einsatz von Telemedizin eventuell gespart werden könnte, kommt nicht dem zugute, der die Investitionen tätigen muss. Am augenfälligsten wird das bei den Telekonsultationen, bei denen der Experte zwar die Arbeit hat, aber (noch) keinen Pfennig dafür erhält. Das Phänomen zieht sich durch fast alle denkbaren telemedizinischen Anwendungen.

Zweitens: Selbst wenn Geld vorhanden und eine Verbesserung der Behandlungsqualität erwiesen ist, bleibt der Mensch, in diesem Fall der Arzt, der davon überzeugt werden muss, die Anwendungen auch einzusetzen. Dass das nicht selbstverständlich ist, hat zwei Gründe. Der erste ist organisatorischer Art: Einzelne telemedizinische Anwendungen fügen sich meist nicht gut in den gewohnten analogen Arbeitsablauf ein und bedeuten für die Ärzte dann Mehraufwand. Eine zentrale Erkenntnis der Medizininformatik der vergangenen Jahre lautet denn auch: Ein bisschen Telemedizin funktioniert in der Praxis nicht.

Das hat weitreichende Konsequenzen: Wer dafür plädiert, die Segnungen telemedizinischer Anwendungen den Patienten nicht nur punktuell in Projektform zugute kommen zu lassen, muss für eine digitale Datenaufzeichnung sein, für eine elektronische Patientenakte also, die - in welcher Form auch immer - über das Internet oder andere Netze von überall her zugänglich ist. Er muss damit für den Einsatz von Chipkartensystemen oder anderen Verschlüsselungstechniken sein und muss beantworten können, wie der Zugriff auf die Daten geregelt werden soll. Kurz gesagt: Um Telemedizin so in den Praxis- oder Krankenhausalltag zu integrieren, dass man vernünftig damit arbeiten kann, muss das medizinische Dokumentationswesen und alles, was rechtlich, organisatorisch und moralisch daran hängt, neu gestaltet werden.

Mit einer solchen Neugestaltung einher geht jedoch auch eine Neudefinition der Arztrolle. Der bei der NASA tätige Medizininformatiker Jay Sanders, der das Scheitern besagten G8-Schlaganfallprojektes untersucht hat, brachte es auf dem GHAP-Treffen in Berlin auf den Punkt: "Der Arzt weiß nicht mehr, wozu er eigentlich da ist." Wenn Computer Therapieentscheidungen treffen, wenn weit entfernte Kollegen bei der Behandlung der "eigenen" Patienten ständig mitreden, dann muss sich das Selbstverständnis des behandelnden Arztes völlig ändern. Wenn er überhaupt noch gebraucht wird.

Zur Eröffnung des GHAP-Treffens entwarf Ricky Richardson, ein angesehener Londoner Kinderarzt, ein Zukunftsszenario, in dem Allgemeinärzte und nicht spezialisierte Praktiker sowie kleinere Krankenhäuser ausgedient haben. Die neuen Informationsmöglichkeiten für Patienten und die neuen organisatorischen Möglichkeiten, die sich mit der Einführung zentraler gelagerter Akten bieten (etwa die Zwischenschaltung von Managementinstanzen, etwa Versicherungs-Callcenter oder Ähnliches) machen sie überflüssig. Der informierte Patient mit dem heißen Draht zu dem jeweils zuständigen Experten oder hochspezialisierten Krankenhaus: So in etwa sehen viele die Zukunft der Schulmedizin. Wenig tröstlich ist dabei für die meisten der Gedanke, ein computerassistierter Arzt könne sich wieder verstärkt um die Probleme des individuellen Patienten kümmern, also auf dem Umweg über High-Tech zur ganzheitlichen Medizin zurückfinden. Denn die Schulmedizin hat auf diesem Gebiet enorm viel von der ihr zugesprochenen Kompetenz an Psychologen und Alternativmediziner verloren. Ob sie den Rückstand je wird wettmachen können, ist fraglich.

Vielleicht sollten wir gar nicht so unglücklich darüber sein, dass ein neuer Bismarck im Augenblick nirgends zu sehen ist. So haben wir noch etwas Zeit, uns zu überlegen, ob wir die New Medicine wirklich wollen. Wer dafür ist, hat gute Argumente auf seiner Seite. Aber wir sollten uns zumindest im Klaren darüber sein, was wir aufgeben.