Genderpolitik: Warum das geplante Selbstbestimmungsgesetz rückschrittlich ist
Ampel-Koalition möchte Rechte Transsexueller stärken. Doch die Initiative ist problematisch. Weshalb dieser Gender-Aktivismus nicht progressiv ist und am Ende die politische Rechte stärkt. Ein Telepolis-Leitartikel.
Die Debatte um ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz der Ampel-Koalition nimmt Fahrt auf – und die Lager sind ideologisch gefestigt. Noch in diesem Jahr soll die Novelle das jahrzehntealte "Transsexuellengesetz" ersetzen. Im Kern geht es darum, die Änderung des Geschlechtes im Ausweis auf eigenen Wunsch hin zu ermöglichen. Die bisherigen Hürden wie Gutachten und bürokratische Vorgaben sollen entfallen.
Das ist alles zunächst wenig aufsehenerregend, wäre die Debatte um Transrechte nicht längst zu einem ideologischen Grabenkampf verkommen. Verfechter des geplanten Gesetzes und ähnlicher Regelungen im Ausland sehen sich an vorderster Front eines Kulturkampfes; ihre Gegner stehen ihnen dabei in nichts nach.
Dabei muss man sagen: Die Vehemenz der Kontroverse ist durch die statistische Relevanz bei Weitem nicht gedeckt: Nach amtlichen Zahlen betrifft Transsexualität in Deutschland rund 0,35 Prozent der Bevölkerung. Selbst Lobbyorganisationen von Transsexuellen sprechen von nicht mehr als 0,6 Prozent.
Dass die Debatte in Medien und Politik dennoch so intensiv geführt wird, liegt an der "Wokeness". Telepolis-Redakteur Thomas Pany hat es kürzlich so erklärt: "Wokeness" sei "ein Sammelbegriff für die Versuche, die Gleichberechtigung aller Menschen trotz ihrer unterschiedlichen geschlechtlichen, sexuellen, ethnischen und sonstigen Eigenschaften zu gewährleisten".
Soll also jeder sein Geschlecht nach Belieben ändern können? Daran gibt es viel und durchaus berechtigte Kritik.
Die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht argumentierte unlängst eher holzschnittartig, als sie eine Gefährdung von Schutzräumen für Frauen prognostizierte. Wagenknecht warf die Frage auf, "wie stark Frauenräume noch geschützt sind, wenn sich jeder Mann beliebig zur Frau erklären kann".
Das Nachrichtenmagazin Spiegel attestierte der bald wohl ehemaligen Linken-Politikerin daraufhin ein "seltsames Menschenbild". Es sei abwegig, dass sich Täter, "die zu Belästigung oder Vergewaltigung von Frauen neigen, dafür eine behördliche Erlaubnis holen".
Auch das ist argumentativ ziemlich verdreht. Denn es geht ja nicht um die Erlaubnis, missbräuchlich in Schutzräume einzudringen, sondern darum, dass man bzw. Mann dafür per behördlichem Bescheid den Weg ebnen könnte.
Querfront aus Islamisten und Gender-Aktivisten
Telepolis berichtete vor wenigen Tagen über den Satiriker Bijan Tavassoli, der mit diesem Widerspruch spielt. Auch hier zeigte sich die Polarisierung: Tavassoli, der die Rolle einer "islamischen Transfrau" einnimmt, wird von Islamisten und Gender-Aktivisten gleichermaßen angefeindet, unsere Redaktion erhielt zum Teil wütende Zuschriften von Lesern.
Spätestens im Frauensport zeigt sich, wie absurd und unreflektiert der Trend zu "genderfluid", also der uneingeschränkten Möglichkeit des Geschlechtswechsels, ist.
In den USA, wo der Kulturkampf um Transrechte inzwischen fast militante Formen angenommen hat, sorgte der Fall von Riley Gaines, einer Ex-Schwimmerin der University of Kentucky, für Aufsehen.
Die junge Frau schilderte, wie die Transgender-Athletin Lia Thomas bei einem Wettkampf plötzlich in der Damenumkleide stand: "Da kam ein 1,80 Meter großer Mann herein, zog sich mit seinen intakten männlichen Genitalien aus, während wir uns auch auszogen".
Gaines stellte auch die Gleichbehandlung von Transfrauen mit Sportlerinnen in Frage. Allein die körperlichen Unterschiede führten einen fairen Wettbewerb ad absurdum, Frauen hätten dann keinen gleichberechtigten Zugang zum Sport mehr: "Das ist ein Rückschritt in die Situation der 1970-er Jahre". Damals war im US-amerikanischen Sport ein Diskriminierungsverbot erlassen worden. Die Debatte darüber wird in den USA mit harten Bandagen geführt.
Dass Kritiker der "woken" Geschlechterpolitik wie Gaines in den USA oder Tavassoli in Deutschland heftigen, teils militanten Angriffen von links ausgesetzt sind und als "Rechte" bekämpft werden, ist ein skandalös ignoriertes Problem.
Die Rechte, vor allem in Verbindung mit reaktionären religiösen Akteuren wie in Russland, ist Nutznießerin. Das mag auch daran liegen, dass Fragen von sozialem Stand, Abhängigkeiten und Klassen in der Debatte und bei den Ideologen der LGBTQIA+I-Bewegung – so die jüngste, erweiterte Form dieses Akronyms – kaum eine Rolle mehr spielen.
In hiesigen Leitmedien, von denen viele nach Lust und Laune gendern und den Jargon-Begriff "trans" verwenden, als sei er ein Duden-Standard-Adjektiv, kommen Kritik und offensichtliche Fragen kaum vor, es sei denn als Gegenstand ideologischer "Faktenchecks".
Das ist verheerend, denn eine unkontrollierte Liberalisierung der Geschlechterdefinition fördert nicht nur Vorurteile, sondern begünstigt natürlich auch Missbrauch. Das aber schadet langfristig auch den sexuellen Rechten und der Akzeptanz der transsexuellen Mini-Minderheit.
Politisch wird das Thema, so wie es jetzt eskaliert, den Rechten nützen. Denn sie schlachten Schicksale wie das der US-Schwimmerin Gaines und ihrer Sportkolleginnen genüsslich aus.
Bleibt die Frage: Ist das alles klug oder gar fortschrittlich von den Trans-Aktivistinnen und -Aktivisten und ihrer Fürsprecher in der Legislative? Zweimal nein.
Denn während sich der Kampf um Transrechte – wie gesagt: 0,35 bis 0,6 Prozent der deutschen Bevölkerung – zuspitzt, gerät die wichtigere Referenzgruppe einer notwendigen Inklusionspolitik in Vergessenheit: Menschen mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen. Das waren zuletzt knapp zehn Prozent der Bevölkerung.
Übrigens: Der Rundfunk Berlin-Brandenburg berichtete heute, dass im Sendegebiet Spielplätze fast nie für behinderte Kinder zugänglich sind. Im Rest der Republik wird es ähnlich aussehen.
Diesen Kindern (und behinderten Erwachsenen) zu helfen, ist offenbar keine Priorität des "woken" Zeitgeistes.